Zum Inhalt:
Die Zumutbarkeit des Schmerzes

Die Zumutbarkeit des Schmerzes

Die Anästhesie blickt auf eine lange Geschichte zurück. Exklusivabdruck aus „Heilung Nebensache“.

Schmerzfreie chirurgische Eingriffe erscheinen uns heute selbstverständlich. Daher herrscht sogar unter Ärzten die Überzeugung, dass es größere Operationen bis zur Einführung der Narkose nicht gegeben hätte. Gerne wird der 16. Oktober 1846 als der Tag kolportiert, an dem durch die angeblich erste erfolgreiche Äthernarkose der Startschuss für das „Goldene Zeitalter“ der Chirurgie fiel (1).

Allein — so war es nicht. Von der Antike bis in die Neuzeit wurde nicht nur Kleinkram operiert — und das meiste sogar mit Betäubung. Dennoch erduldeten Kranke in Europa seit der Christianisierung größere therapeutische Körperverletzungen bei vollem Bewusstsein. Ein Gebet musste reichen.

Als ein Königsberger Wundarzt im frühen 17. Jahrhundert erstmals eine riskante Eröffnung des Magens wagte, um in Gegenwart mehrerer akademischer Ärzte einen Fremdkörper zu entfernen, ging es „nach Anrufung Gottes des Allmechtigen“ am stehend angebundenen Patienten ohne weitere Maßnahmen zu Werke (2).

Selbst ein Leibarzt begab sich im Jahr 1771 zu seiner eigenen Leistenbruchoperation „im Vertrauen auf Gott (…) schnell auf dieses Bett“, um dann „den heftigsten Schmerz“ und „höllische Empfindungen“ erleben zu müssen (3).

Musikalisch hat der französische Gambenvirtuose Marin Marais (1656 bis 1728) die Entfernung seines Blasensteins 1720 mit Zweiunddreißigstel- und Vierundsechzigstelnoten in höchsten Tönen festgehalten. Längst nicht alle Operateure sehnten die Schmerzfreiheit für ihre Patienten herbei. Es gibt zahlreiche Dokumente, in denen Chirurgen vor der Einnahme schmerzunterdrückender Substanzen warnten (4).

Schach dem Schmerz!

Aber gab es denn nicht längst wirksame Möglichkeiten, die Schmerzwahrnehmung zu mindern und das Bewusstsein einzutrüben? Archäologische Funde belegen Schlafmohn an verschiedenen Orten in Mitteleuropa bereits in der Zeit der Bandkeramik (circa 6. Jahrtausend vor unserer Zeit) (5).

Im 3. Jahrtausend vor unserer Zeit ist der medizinische Gebrauch von Mohn auf Tontafeln der Sumerer verzeichnet. Schmerzstillende und berauschende Hanfpräparate wie Cannabis waren verbreitet, in Europa sogar sprichwörtlich:

„In Düringen (Thüringen; Anmerkung des Autors) sagt man auch von einem der schlaftrunken noch kein klares Bewusztsein von sich hat: er kann sich nicht aus dem Hanfe filtzen“ (6).

Die späte Einführung von Betäubungsmitteln ist umso verstörender, als bereits hippokratische Schriften und römische Autoren Maßnahmen zur Schmerzlinderung bei operativen Eingriffen vorsahen.

Die milchige Flüssigkeit der Mohnkapseln wird ebenso erwähnt wie Wein und Schwämme, die mit den Flüssigkeiten von Alrauneblättern, Schierling und Bilsenkräutern getränkt bei Erwärmung anästhesierende Gase absonderten (7).

Celsus empfahl ausdrücklich Opium vor Operationen. Dioskurides (1. Jahrhundert) bevorzugte die Alraune, die Skopolamin und Atropin enthält, gemischt mit Wein vor einer Amputation. Auch Eispackungen oder das Abbinden von Gliedmaßen wurden genutzt, um die Schmerzempfindung zu vermindern.

In Avicennas Kanon der Medizin sind „Schlafschwämme“, getränkt mit aromatischen und narkotischen Substanzen, beschrieben, die während einer Operation unter der Nase des Patienten platziert wurden. Das illustrierte dreißigbändige Chirurgielehrbuch des arabischen Arztes Abulcasis (936 bis 1013) erwähnt sogar eine „Vollnarkose“. Zusammen mit der Übersetzung dieser Werke wurde ab dem 10. Jahrhundert Opium in größeren Mengen nach Mittel- und Westeuropa importiert. Diese Möglichkeiten waren Ärzten und den aus der Handwerkstradition kommenden Chirurgen in Europa bekannt.

Opium war in den verbreiteten Mischpräparaten des Mittelalters meist enthalten. In England verwendete man vom 13. bis 16. Jahrhundert als Hausmittel „dwale“ mit Opium, Schmerzwurz, schwarzem Bilsenkraut und Schierling (8).

Dwale sollte langsam getrunken werden, bis Müdigkeit auftrat. Die Anweisung, dies am Feuer zu tun, lässt erkennen, dass ein Inhalationseffekt gewünscht war. So eine tiefe Bewusstlosigkeit hat William Shakespeare (1564 bis 1616) in seinem Drama Romeo und Julia verewigt. Romeo hält Julia in diesem Zustand für tot und bringt sich um, obwohl Julia kurz danach wieder erwacht. Ähnliche Rezepturen dürften in vielen europäischen Ländern üblich gewesen sein. Dokumente fehlen wahrscheinlich, weil Opium und andere zentralnervös wirksame Kräuter von der katholischen Kirche mit dem Teufel in Verbindung gebracht wurden.

Muss Schmerz sein?

Angesichts dieser Vorgeschichte stellt sich die Frage, warum Operateure so lange auf Schnelligkeit und Überraschungseffekte setzten. Denn vergessen wir nicht: Lokalanästhetika gab es auch nicht. Was verhinderte die bewährte und bei Hebammen, Kräuterkundigen und anderen Heilern selbstverständliche Schmerzbekämpfung? Hatten Operateure Angst vor den atemlähmenden Effekten der Opiate und anderer psychoaktiver Substanzen? War es zu teuer und zu umständlich, die Substanzen zu besorgen? Fehlte ihnen einfach das Mitgefühl? Oder gab es ein Anwendungsverbot?

Spätestens nach der Reformation kann es nicht an der Verfügbarkeit von Opium und anderen Substanzen gescheitert sein. Chirurgen waren zwar nur eingeschränkt rezeptierfähig, aber es war ein Leichtes, als Kranker sogenanntes Laudanum von Ärzten verordnet zu bekommen (vergleiche Seite 174). Vielerorts war Laudanum sogar frei verkäuflich, wenngleich kostspielig. Als Auftragsdienstleister Kranker waren Chirurgen von deren Kundenzufriedenheit abhängig, die sich nicht nur am Erfolg, sondern auch daran maß, wie abschreckend und schmerzhaft die Dienstleistung war. Eine Droge gegen den Schrecken der Körperverletzung war für Chirurg und Patient willkommen.



Quellen und Anmerkungen:

(1) Robinson, Daniel H.; Toledo, Alexander H.: Historical development of modern anesthesia. Journal of Investigative Surgery 2012; 25(3):141−9.
(2) Hemsing, Rotgerus: Non semel vexata est: Oder ablehnung Etzlicher vngeraeumbter Dinge, so in dem newlich aussgegebenen H. Doct. Georgij Lothi Messer-tractat zufinden. Wendel Bodenhausen; Elbing 1635.
(3) Zimmermann Johann Georg: Ueber Friedrich den Grossen und meine Unterredungen mit Ihm kurz vor seinem Tode. Frankfurt/Leipzig 1788.
(4) Carter, Anthony John: Narcosis and nightshade. BMJ 1996; 313:1630−2.
(5) Miedaner, Thomas: Genusspflanzen. Springer; Berlin 2018.
(6) Zitiert nach: Nuhn, Peter: Goethe und die Arzneikunde. Deutsche Apotheker Zeitung 2008; 29.
(7) Keys, Thomas E.: The history of surgical anaesthesia. Schuman; New York 1945.
(8) Carter, Anthony John: Dwale: an anaesthetic from old England. British Medical Journal (BMJ) 1999; 319(7225):1623−6

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.