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Die wunderbare Bulgarisierung

Die wunderbare Bulgarisierung

Ein Deutscher floh aus Corona-Land in den wenig bereisten Balkan-Staat und fand sein seelisches Gleichgewicht wieder.

Seit eineinhalb Jahr lebe ich jetzt in Bulgarien, dem Herkunftsland meines Vaters. Zuvor habe ich knapp 30 Jahre in Berlin gewohnt, der Geburtsstadt meiner Mutter. 25 davon, ein halbes Leben, war ich als Taxifahrer auf ihren Straßen unterwegs gewesen. Plötzlich saß ich auf ihnen, als mein Chef seine Taxifirma Ende 2020 Corona-bedingt dicht machte. Das Geschäft, das schon vorher eher schlecht als recht lief, rechnete sich nun nicht mehr. Meine letzte Taxischicht bin ich Anfang März 2020 gefahren, danach war ich auf Kurzarbeit Null.

Im Mai 2020 hatte mir meine Hausärztin eine Maskenbefreiung ausgestellt, weil ich unter einer Maske nicht genug Luft bekomme. Im Mai 2021 konnte sie mir nicht mehr sagen, ob diese noch gilt. Sie stellte zu diesem Zeitpunkt schon lange keine Maskenbefreiungen mehr aus. Vor den Beleidigungen und Bedrohungen, die ich als Maskenbefreiter in Berlin zum Beispiel in den öffentlichen Verkehrsmitteln und in Supermärkten erlebte, habe ich mich in den Schluchten des Balkans in Sicherheit gebracht. Geflohen bin ich auch vor der Impfpflicht, die für mich als gelernter Krankenpfleger in Form der „Einrichtungsbezogenen“ immer noch ein Berufsverbot darstellt. Und auch vor den Diskriminierungen und Schikanen als nicht Geimpfter, die es in der Form wie in Deutschland in Bulgarien zu keiner Zeit gab.

Mit dem Taxifahren habe ich nicht einfach nur meinen Job verloren, sondern mein ganzes bisheriges Leben. Zu diesem gehört auch, dass ich trockener Alkoholiker bin. Mit Corona geriet ich in eine schwere persönliche Krise. Auch wenn ich seit Juni 2018 abstinent lebe, war ein Rückfall in die Sucht nun nicht mehr ausgeschlossen, sondern wahrscheinlich. Hinzu kam die permanent geschürte Corona-Angst, welche Ur-Ängste in mir antriggerte, die ich zuvor mit dem Alkohol betäubt hatte. Die von mir besuchten Demonstrationen auf dem Berliner Rosa-Luxemburg-Platz verdeutlichten das Problem, das sich beim Besuch der Demonstrationen in Leipzig im Herbst ‘89 für mich zu keinem Zeitpunkt gestellt hatte, genauso wie es sich aktuell in Bulgarien nicht stellt, wo ich ebenfalls Demonstrationen besuche und darüber berichte.

Seit Corona konnte ich nur schwerlich zwischen der Angst vor dem Virus, die mit jedem Tag nachließ, der Angst vor Polizeigewalt, die absolut real war, und meinen Ur-Ängsten aus der Kindheit unterscheiden.

Die Meetings der Anonymen Alkoholiker (AA), die ich in dieser Situation zu besuchen begann, wurden mein Rettungsanker. Von einem Tag auf den anderen ging ich so selbstverständlich zu ihnen, als hätte ich in meinem Leben nichts anderes getan. Ich traf dort die offenen, ehrlichen und wahrheitsuchenden Menschen, nach denen ich so lange gesucht hatte. Sie bewahrten mich nicht nur vor einem Rückfall, sondern sie hielten mich auch am Leben, in dem ich immer weniger Sinn sah. Sie waren wie Sauerstoff für mich. Für jeden AA-Freund und für jede einzelne seiner Aussagen empfinde ich bis heute tiefe Demut und echte Dankbarkeit.

Anfangs dachte ich mir nichts dabei, bei den AA-Meetings meine Kontaktdaten zu hinterlassen. Grund dafür war auch nicht AA selbst, sondern die Räumlichkeiten, die man für die Treffen nutzte. Nur, die Anonymität ist ein fundamentales Prinzip der Anonymen Alkoholiker, und Prinzipien gehen über Personen, so hatte ich gehört. Mehr störte mich aber, dass Corona nie wirklich Thema war, weil Corona politisch sei und AA nicht politisch ist. Damit wurden aber auch die mit Corona verbundenen Ängste tabuisiert, womit ich bis heute ein Problem habe, weil das Menschen dazu treiben kann, wieder zur Flasche zu greifen. Später im Jahr, ich war schon in Bulgarien, sollte bei den Meetings der AA auch der Impfstatus abgefragt werden, wie ich erfuhr.

Meinen Impfstatus wollte hier in Bulgarien, wo die Impfquote bis heute bei 30 Prozent liegt, nie jemand wissen. Auch testen lassen musste ich mich, seit ich hier bin, nicht ein einziges Mal. Dafür gibt es mehrere Gründe, allen voran den, dass ich auf dem Land und nicht in der Stadt lebe. Für mich persönlich liegt es vor allem am gesunden Menschenverstand der Bulgaren und an ihrer Herzensbildung. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Ihre Gastfreundschaft ist echt und bis heute sprichwörtlich.

Vor allem auf sie führe ich meine bald einsetzende wunderbare „Bulgarisierung“ zurück. Sie ist ein Geschenk, für das ich auch Corona dankbar bin, und das mich meine deutsche Besserwisserei und Rechthaberei ablegen ließ. Auch meine Ängste sind praktisch verschwunden. Mein Leben hat sich auf das Wesentliche reduziert, seitdem ich raus aus meiner Berliner Komfort-Zone bin, die immer weniger eine Komfort-Zone war. Die Bulgaren sind für ihre Duldsamkeit bekannt und für ihre Toleranz. Zugegeben, die meisten Menschen sind hier einfach, aber nicht dumm. Vor allem sind sie authentisch.

Natürlich gibt es auch Schattenseiten in Bulgarien, die ich nicht verschweigen möchte. Für mich persönlich ist es das illegale Schlagen von Holz und das Vermüllen der Natur. Das ist oft schwer auszuhalten. Regelmäßig gehe ich los und sammle Müll ein, manchmal auch mit einem Esel. Was das Abholzen angeht, halte ich mich zurück. Nicht nur, weil mein eigenes Holzlager noch halbwegs gefüllt ist. Sondern auch, weil wir vielleicht bald auch in Berlin erleben werden, wozu hungernde und verarmte Frierende in der Lage sind.

Bis heute hilft mir, was ich in meinem Berliner Taxi von meinen Fahrgästen gelernt habe. Anderen Menschen zuzuhören und sie nicht gleich beurteilen oder gar verurteilen zu müssen, sondern verstehen zu wollen, warum sie so ticken, wie sie eben ticken. Auch den Gelassenheitsspruch der Anonymen Alkoholiker habe ich nicht vergessen in Bulgarien. Er besagt, zwischen Dingen zu unterscheiden, die man ändern und die man nicht ändern kann, und dass man um Mut bittet, Dinge zu verändern, die man ändern kann. Und auch, dass es immer nur um heute und die nächsten 24 Stunden geht.

Obwohl der Alkohol und da insbesondere der Selbstgebrannte, der „Rakija“, eine nicht unbedeutende Rolle im Alltag der Bulgaren spielt, bin ich weiterhin trocken. Ich verstehe meine Sucht nunmehr als Teil einer insgesamt süchtigen Gesellschaft, die dabei ist, eine seelenlose und kriegerische zu werden. In Bulgarien ertappe ich mich immer öfter dabei, wie auch ich jetzt beim Zuhören den Kopf hin und her wiege, was beim Bulgaren Zustimmung bedeutet. Im Gegensatz zum Deutschen, wo es ein Nicken ist, bedeutet es hier aber nicht „Ja, du hast Recht!“, sondern ist eher ein „Du, ich versteh’ dich!“.


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