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Die Wildnis ruft

Die Wildnis ruft

Das transhumanistische Narrativ muss sich nicht erfüllen, wenn wir uns an unsere Wurzeln erinnern.

„Citius, altius, fortius“: schneller, höher, stärker. Wie kaum ein anderer Sinnspruch fasst das offizielle Motto der Olympischen Spiele das Streben der aktuellen Zeit zusammen. Wir wollen ganz hoch hinaus. Auf der höchsten Stufe des Siegertreppchens wollen wir stehen — die Krönung der Schöpfung. Macht euch die Erde untertan. So steht es geschrieben. So haben wir die Legitimation erhalten, überall unsere Finger mit ins Spiel zu bringen. Nichts ist uns gut genug. Alles wollen wir besser machen.

Lange sind die Zeiten vorbei, in denen wir in andächtigem Staunen verharrten, Zeiten, in denen wir mit den Naturgeistern sprachen und in den Sternen lasen. Primitive waren wir, so wird erzählt, die es nicht besser wussten und keine Maschinen hatten, die die Arbeit an ihrer Stelle verrichteten, keine Waffen, mit denen sie die ganze Erde vernichten konnten. Als Fortschritt rechnen wir es uns an, uns auf der theoretischen Evolutionsgeraden vom Ursprünglichen, Wilden, Unkontrollierbaren entfernt zu haben.

Schritt für Schritt haben wir uns gegen die Natur gerichtet, bis sie zu einem Objekt wurde, das man gewissenlos ausbeuten und zerstören kann. Alles Natürliche wurde zur Ressource. Wir entrissen es der Erde und belegten es mit unseren Patenten, um es möglichst gewinnbringend zu verkaufen. Wir staunen nicht mehr, wir kontrollieren. Wir bewundern nicht mehr, sondern zerstören und machen neu. Wir begeistern uns nicht mehr, sondern haben den Dingen den Geist ausgetrieben.

Ballermänner und Wickelkinder

So ist das Natürliche zunehmend von der Technik verdrängt worden. Wie ein Krake ist sie in alle unsere Lebensbereiche eingedrungen und macht uns heute selbst zu Objekten, die fast nicht mehr dazu in der Lage sind, eigenständig zu handeln. Kaum noch jemand weiß, wie man in der Wildnis ein Feuer entfacht. Stattdessen feuern wir auf alles, von dem man uns sagt, es sei gefährlich, antidemokratisch oder politisch unkorrekt.

Beinah nicht mehr imstande, uns selbst zu versorgen, lassen wir uns von allen Seiten bedienen und digital durch unser Leben führen. Ohne Elektrizität, ohne unser Smartphone und ohne Apps sind wir aufgeschmissen. Wir können nichts mehr, nicht einmal mehr die Manipulation erkennen, der wir uns ausgesetzt haben.

Niemals zuvor in der bekannten Geschichte der Menschheit waren wir global so abhängig, so beeinflussbar, so versklavt. Wie ferngesteuert werden wir von denen gelenkt, die die Technologie zu einem Gott gemacht haben, der jedes Samenkorn kontrolliert.

Zwischen den Welten

Vor allem seitdem wir erkannten, dass wir nicht der Mittelpunkt des Universums sind, drücken wir der Welt unseren Stempel auf. Heute mündet das Streben des Humanismus nach besseren Existenzformen im Transhumanismus und seiner Verpflichtung zu einem Fortschritt, der, so die Bedeutung des Begriffs, das Menschliche letztlich überwindet. Die Künstliche Intelligenz ersetzt die natürliche, das Implantat das Gehirn. Die Biologie — die Logik des Lebendigen — wird per Robotik, Nanotechnologie und genetischem Modifizieren so gesteuert, dass es sich ein paar wenige leisten können, das ultimative Ziel der Menschheit zu erreichen: Unsterblichkeit.

Während eine winzige und selbst ernannte Elite das Siegertreppchen erklimmt, hungern, frieren und sterben Milliarden Menschen für eine vermeintlich gute Sache. Der Appell an unsere besten Absichten und eine Mischung aus Propaganda, Marketing und Zwang reichen für die Massen selbstentfremdeter und entwurzelter Individuen aus, sich freiwillig dem megatechnischen Pharao zu opfern.

Diesem Mainstream gegenüber stehen Bewegungen, die die Natur mit ihren Zyklen und Rhythmen in den Mittelpunkt stellen. Ihnen geht es darum, zurück zu den Wurzeln zu finden – nicht zurück in die Höhlen. Sie streben nach der Erinnerung an das Ursprüngliche, an die alten Weisheiten, die im Laufe der Jahrtausende zu Wissen und schließlich zu Informationen geworden sind. Einen ganz konkreten Ansatz bietet hier die Wildnispädagogik, die auf Lernerfahrungen basiert, die unmittelbar in der Realität der Natur stattfinden.

Während es beim Transhumanismus um das Verschmelzen von Mensch und Maschine geht, liegt der Wildnispädagogik der Wunsch zugrunde, sich erneut mit der Natur zu verbinden. So kann uns bewusst werden, dass wir nicht nur ein Teil der Natur sind: Wir sind Natur. Wir sind Erde, Wasser, Feuer, Luft.

Wir sind der Baum, an den wir uns lehnen, der Vogel, der sein Nest baut, die Wolke, die über unsere Köpfe zieht.

Zurück zu den Wurzeln

In einem gemeinsamen Gespräch stellen sich die drei Wildnispädagogen Bastian Barucker, Gerald Ehegartner und Dado Jade die Frage, wie der zivilisierte Homo sapiens aus der Situation herauskommen kann, in die er sich gebracht hat (1). Denn letztlich haben wir das Gegenteil dessen erreicht, was wir eigentlich wollen. Indem wir das Wilde, Unkontrollierbare zu überwinden versuchten, haben wir uns schließlich selbst an die Leine gelegt.

Doch die Sehnsucht nach einer Art verlorenem Paradies ist noch da. Wir alle tragen die Erinnerung daran mehr oder weniger lebendig in uns. Diese Erinnerung ist es, die uns heute in ein neues Paradies führen kann. Die Wildnispädagogik bietet an, eine Pause zu machen und in den Wald zu gehen. Hier, im Herzen der Mutter Natur, können wir uns aus dem aktuell sich abspielenden Narrativ lösen und uns für eine neue Erzählung öffnen.

In dieser Erzählung geht es nicht darum, die Technik zu verdammen, sondern sie wieder zu dem zu machen, was sie eigentlich ist: ein Hilfswerkzeug des Menschen. Unser Fehler war es, das Werkzeug zum Meister zu machen und uns von ihm aus dem Labor kehren zu lassen. Mit der Rückverbindung an die Natur erkennen wir, dass der ausschließlich technisch orientierte Fortschritt in Wirklichkeit ein Rückschritt war. An uns ist es nun, dorthin zurückzukehren, wo wir die alten Weisheiten verloren haben.


Transhumanismus & Wildnispädagogik: Im Gespräch mit Gerald Ehegartner und Dado Jade



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