Joseph Nacchio, Chef einer US-Telekommunikationsfirma, lehnte die Forderung der NSA ab, Kundendaten herauszugeben. Bald darauf verurteilte ihn ein Gericht wegen „Insider-Handels“. Zufall? Ecuadors Präsident Corea war bereit, Edward Snowden Asyl zu gewähren. „Wir lassen uns nicht einschüchtern“, verkündete er stolz. Kurz darauf ruderte er zurück. US-Vizepräsident Biden hatte ihn angerufen und gewarnt, die Beziehungen zwischen beiden Ländern würden sich „stark verschlechtern“, falls der Whistleblower in dem lateinamerikanischen Land unterkäme.
1991 wurde Jeffrey Carney in Berlin auf offener Straße von der CIA entführt. Carney hatte bei der US-Luftwaffe in Westberlin gearbeitet und geplant, in die DDR zu gehen – Geheimnisverrat. Der deutsche Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom sagt dazu:
„Weder damals noch später gab es auch nur den geringsten diplomatischen Protest der Bundesregierung darüber, dass die Entführung auf deutschem Boden stattgefunden hatte.“
Orwell reloaded
Dies sind nur einige Vorfälle von vielen. Ich will mit diesem Artikel ausdrücklich nicht auf eine „geheime Weltregierung“ anspielen, wie sie manchmal beschrieben wird (dies wäre ein eigener Artikel). Das heißt, es geht mir nicht darum, die „Bilderberger“, bestimmte amerikanische Familienclans oder allgemein „die globalen Banken und Konzerne“ als die Drahtzieher hinter den Kulissen zu entlarven. Mir geht es allein um deutlich erkennbare Vorgänge, die sich im Vordergrund des Weltgeschehens abspielen. Speziell: um die ungesunde Dominanz der USA über den Rest der Welt.
Kaum jemand hält es heute für nötig, diesen Weltherrschaftsanspruch zu bemänteln. Von „Global Leadership“ ist die Rede, oder von „Informational Superiority“.
Ich beziehe mich hier auch zunächst auf ein Mainstream-Magazin, das sich klar neoliberal und pro Krieg positioniert, im Zusammenhang mit der NSA-Affäre aber durchaus erfreulich Flagge gezeigt hat: den „Spiegel“.
„Angst regiert gerade diese Welt“, schreibt der Spiegel in seiner Ausgabe vom 8. Juli 2013. „Angst vor dem Zorn der Vereinigten Staaten von Amerika, Angst vor Präsident Barack Obama, der einst als Weltenretter begrüßt wurde. Kaum einer will es sich mit der politischen und wirtschaftlichen Supermacht verscherzen.“ Und, durchaus wertend: „Der Westen macht sich gerade lächerlich durch Unterwürfigkeit, durch freiwillige Unfreiheit, durch den Verstoß gegen die eigenen Werte.“ In den 1970er-Jahren, so der Spiegel, habe Senator Frank Church im Zusammenhang mit einer Geheimdienst-Affäre gewarnt, die NSA würde „einem Diktator ermöglichen, ein System totaler Tyrannei zu errichten, gegen den niemand ankämpfen könnte“.
Wer sich in der Schule mit George Orwells Roman „1984“ befasst hat, hat in diesem Zusammenhang vermutlich folgendes „gelernt“: Orwells Vision habe sich nicht bewahrheitet. Die großen faschistischen und linksautoritären Regime Europas seien zusammengebrochen. Freiheit und Demokratie hätten gesiegt. Doch was in den 1980ern vielleicht noch galt, war nur eine Zwischenstandsmeldung, die von der Geschichte längst überholt ist.
„Gute Hirten“ im Einsatz
Einen bemerkenswerten Film zum Thema „US-Sicherheitsapparat“ haben Matt Damon und Robert Niro gedreht. „Der gute Hirte“ (2006). Er zeigt die Lebensgeschichte des CIA-Mitbegründers Edward Wilson. Als Wilson (Damon) dem Geheimdienst seinen alten Lyrikprofessor quasi als „Gesellenstück“ ans Messer liefert, warnt ihn dieser: „Steigen Sie aus, so lange Sie noch eine Seele haben.“ Der Professor wird vor Wilsons Augen wegen angeblicher politischer Unzuverlässigkeit barbarisch ermordet. Später werden solche Vorfälle für den CIA-Mann zur lieb gewordenen Gewohnheit.
Ein mutmaßlicher russischer Agent wird in Guantanamo-Manier durch psychischen Druck, Schläge und Waterboarding gefoltert. Vor seinem Tod deckt der Russe die wahren Gründe der US-amerikanischen Sicherheits-Hysterie auf: „Ihr müsst den sowjetischen Mythos am Leben halten, damit euer militärisch-industrieller Komplex floriert. Euer System ist abhängig von der Annahme, Russland sei eine tödliche Bedrohung.“ Heute dienen sowohl das wieder aufgewärmte Feindbild Russland als auch der „Internationale Terrorismus“ diesem Zweck. Robert de Niro als besonnener Geheimdienstchef warnt: „Ich fürchte, dass zu viel Macht in die Hände von zu wenigen fällt.“
Genau das ist längst geschehen. Wir leben in einem „Goldenen Zeitalter der Überwachung“, so der Spiegel. Und, um einen Satz von Konstantin Wecker zu variieren: Die Zeiten stinken, und die Politiker schweigen. Zwar gab es, als der Skandal „frisch“ war, ein zaghaftes Aufbegehren seitens der Regierungen der ausspionierten Länder, doch diente dieses wohl eher der Volksberuhigung. Der Tenor der offiziellen Verlautbarungen war: Wir wussten nichts, und hätten wir etwas gewusst, wäre das Verhalten der amerikanischen Kollegen sicher in Ordnung gewesen. Schließlich dient es der Terrorbekämpfung, und wer würde die nicht aus tiefster Seele ersehnen?
Seither ist es um den NSA-Skandal verdächtig ruhig geworden. Man hat sich gewöhnt, der Vorgang wurde quasi „ent-skandalisiert“. Gegenkräfte sind erlahmt. Die Piratenpartei, die sich Überwachungskritik dankenswerterweise auf die Fahnen geschrieben hatte, sackte paradoxerweise ausgerechnet nach dem Jahr 2013 in allen Bundesländern unter die 5-Prozent-Hürde und damit unter die Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit. Das Sterben dieser Partei, deren Existenz allemal mehr Anlass zur Hoffnung gab als die der später erfolgreicheren AfD, war einer Mischung aus Medienkampagnen und eigenen Fehlern der teilweise chaotisch agierenden Protagonisten geschuldet.
Bald darauf – mit Höhepunkt im Jahr 2016 – machte eine Serie von Terroranschlägen jede Überwachungskritik vorerst obsolet. Aufgescheucht durch medial zusätzlich aufgebauschte Schreckensereignisse war die Bevölkerung bereit, Schutz suchend bei Vater Staat unterzukriechen und ihre Freiheit für mehr Sicherheit zu opfern.
Die Welt verwandelt sich schleichend, aber auch nicht allzu langsam, in eine gewaltige „Black Mirror“-Folge – jene geniale dystopische Serie von Drehbuch-Genie Charlie Brooker, die bei uns leider nur über Netflix zu sehen ist. China führte unbedarft das „Social Scoring“ ein, ein Punktesystem, das Bürger ständig im Hinblick auf ihr Wohlverhalten im Sinne staatlicher Regeln bewertet – gestützt durch modernste Überwachungstechnologie. Bereits etwa ein Drittel aller Deutschen würde ein Social Scoring-System auch für ihr Land befürworten. Diese Zahl ist erschreckend hoch in Anbetracht dessen, dass es sich um gefährlichen faschistoiden Irrsinn handelt.
In Deutschland nutzt Horst Seehofer, unser Bavarian Big Brother, jede Gelegenheit, um die Schlinge um unsere Hälse fester zuzuschnüren. Schärfere Polizeigesetze sind in mehreren Bundesländern installiert oder in Planung. Die automatische Gesichtserkennung wurde im Feldversuch an einem Berliner Bahnhof 2017 schon einmal ausprobiert; ein Vorstoß, alle Autofahrer-Nummernschilder im Vorüberfahren und verdachtsunabhängig zu registrieren (Kennzeichen-Scan), wendete das Bundesverfassungsgericht vorerst – zum Glück – ab.
Die Europäische Harmonisierung der Repression wird auf verschiedenen Wegen massiv vorangetrieben. Etwa durch die „E-Evidence-Verordnung“ zur gesamteuropäischen Nutzung der Internet- und Emaildaten der Bürger und die „Europäische Ermittlungsanordnung (EEA)“. Beide Einrichtungen würden es Behörden aus dem europäischen Ausland – auch solchen aus rechtsstaatlich fragwürdigen Ländern wie Ungarn – erlauben, auf die Daten deutscher Bürger zuzugreifen.
Die Fügsamkeit, ja Unbedenklichkeit in der Bevölkerung ist zum großen Teil auch durch einen Gewöhnungseffekt bedingt, den der tägliche Umgang mit Kommerz- und Überwachungsriesen wie facebook, Google und amazon, mit Kreditkarteninstituten und der Omnipräsenz von Überwachungskameras mit sich bringt. Nicht zu vergessen die persönliche mobile Wanze, gemeinhin auch bekannt als Smart Phone.
Dave Eggers Roman „The Circle“ hat das Phänomen der Überwachungsfreundlichkeit als Teil einer vermeintlich sozialen Spaßkultur trefflich beschrieben. „Die Überwachung kann noch so sehr zunehmen, es interessiert keinen, es führt zu keinerlei Widerstand“, sagt da die Romanfigur Mercer, quasi ein Sprachrohr des Autors. In der Tat ist das auffälligste Phänomen an unserer Epoche nicht die Tatsache, dass eine kleine Clique technikverrückter und profitgeiler Bastler ein paar wahnwitzige Ideen ausbrütet. Was wirklich Angst macht, ist die Tatsache, dass die Mehrheit dergleichen acht- und widerstandslos durchwinkt.
Die Figur „Ty“, ein genialer Konstrukteur privater Überwachungstechnologie, wundert sich in „The Circle“ selbst über die Geister, die er rief. „Ich meine, es war, als würde man auf dem Marktplatz eine Guillotine aufstellen. Du rechnest doch nicht damit, dass zig Leute Schlange stehen, um den Kopf reinzulegen.“ Ein totaler Überwachungsstaat, das Ende jeder Privatsphäre – kann so etwas quasi aus einem spielerischen Impuls heraus entstehen – aus Versehen?
An ein Versehen kann ich, was unsere realen Zustände betrifft, nicht glauben. Sicher ist aber: Wir müssen unsere Hälse schleunigst von der Guillotine nehmen – sonst rennen wir kopflos in unser eigenes Verderben! Private und staatliche Freiheitsfeinde, Repression und „freiwillige“ (jedoch durch massive Manipulation erzeugte) Impulse der Bürger, an ihrer zunehmenden Überwachbarkeit mitzuwirken, gehen derzeit Hand in Hand – in Richtung auf den totalitären Abgrund.
Es lohnt, noch einmal ins Jahr 2013 und zu den damaligen Diskussionen zurückzukehren. Sie markieren quasi einen Meilenstein dieser höchst bedenklichen Entwicklung – jedoch weder den Anfang noch das Ende. Der damalige Bundesinnenminister Friedrich sagte 2013: „Deutschland ist glücklicherweise in den letzten Jahren von großen Anschlägen verschont geblieben. Wir verdanken das auch den Hinweisen unserer amerikanischen Freunde.“
Vielleicht kennen einige die Geschichte über einen Mann, der in der Fußgängerzone steht und andauernd in die Hände klatscht. „Warum klatschen Sie in die Hände?“, fragt ein Passant. „Um die Elefanten zu vertreiben“. „Aber hier gibt es doch gar keine Elefanten!“ „Eben!“. Ähnlich argumentieren Sicherheitsfetischisten: Gibt es Terroranschläge, beweist dies die Notwendigkeit eines gigantischen Sicherheitsapparats und des Abbaus von Bürgerrechten. Gibt es keine Terroranschläge, beweist dies – dasselbe. Der Sicherheitsapparat war dann die Ursache dafür, dass alles ruhig geblieben ist.
Das Televisor-Prinzip
Der scheinbar nachvollziehbarste Grund für die Schnüffelaktivitäten der NSA ist zugleich der perfideste. Es offenbart sich darin, so der Spiegel, „eine funktionale Sicht auf den Überwachungsapparat der Supermacht: Was genau die NSA macht, ist zweitrangig – es zählt, was hinten rauskommt“. Setzt sich das Argument durch, Überwachung habe Terror verhindert und Terrorprävention sei wichtiger als Datensicherheit, könnte mit demselben Argument auch der Televisor eingeführt werden.
Man erinnert sich: Der Televisor in George Orwells Roman „1984“ ist ein Überwachungsapparat in jedem Zimmer jeder Privatwohnung des Landes. Es gibt keinen unüberwachten Winkel mehr. Ohne Zweifel könnte eine solche Maßnahme häusliche Gewalt verhindern. Käme es dennoch zu Straftaten in einem Wohnzimmer, Schlafzimmer oder Klo könnten sie rascher aufgeklärt werden. Was hindert uns also noch an der flächendeckenden Einführung des Televisors?
„Wenn du nach einer Nadel im Heuhaufen suchst, brauchst du einen Heuhaufen“, sagte Jememy Bash, ehemaliger Stabschef des CIA-Direktors. Der Heuhaufen: das sind wir alle. Das ist das menschliche Leben mit seinen ungezählten mündlichen und schriftlichen Kommunikationsvorgängen.
Der menschliche Geist erscheint den Weltregenten als Blackbox, als schwer durchschaubarer Abgrund, dem jederzeit terroristische und antiamerikanische Gedanken entquellen könnten. Menschsein selbst ist in dieser Logik ein Sicherheitsrisiko, und es erscheint geradezu fahrlässig, dass es immer noch so viele unverwanzte Wohnungen, unüberwachte Plätze, unabgehörte mündliche Kommunikationsvorgänge gibt.
Könnten NSA-Techniker in unsere Köpfe so leicht schauen wie in unsere E-Mails, sie würden es tun.
Terror durch Abschreckung
Lohnt sich der ganze Aufwand überhaupt im Vergleich zum Ertrag? NSA-Chef Alexander äußerte 2013 zur Rechtfertigung seiner Überwachungsaktivitäten, diese hätten dazu beigetragen, 10 Anschläge zu verhindern. Da ist auf der einen Seite ein Generalverdacht gegen Milliarden von Menschen, ein unfassbarer technischer und personeller Aufwand – und auf der anderen Seite stehen 10 verhinderte Anschläge. Um das zu verstehen, muss man den Sekundärnutzen der Überwachung ins Auge fassen, der in Wahrheit wohl der Hauptnutzen ist.
Überwachung übt eine disziplinierende Wirkung auf die Bevölkerung aus, lange bevor Polizeieinheiten unsere Wohnungen stürmen. Wer annimmt, dass er überwacht werden könnte, passt schon vorher auf, was er sagt und schreibt. Der Überwacher sitzt gleichsam in unserem Kopf. Und auch wenn da keiner ist, vergiftet allein die Vorstellung, es könnte ihn geben, unseren Geist und unsere Kommunikation. Aus Filmen über die DDR kennen wir diesen Flüsterton, die angstgelenkt nur geduckte und übervorsichtige Kommunikation. Insofern dient paradoxerweise auch die Aufklärung über die Realität der Welt-Überwachung durch Edward Snowden und andere der Disziplinierung der Bevölkerung. Denn je mehr wir darüber wissen, desto größer wird unsere diffuse Angst.
Als Mensch auf dieser Erde zu leben, bedeutet künftig, sein Leben ständig im Hinblick auf mögliches Überwachtwerden zu führen.
Es wäre unrealistisch, anzunehmen, dass dies nicht unsere Art zu denken und zu sprechen schleichend verändern würde. Edward Snowden erklärte im Spiegel vom 8. Juli 2013 folgendes: „Aus Millionen von Facebook-Profilen und E-Mails werden nach bestimmten Kriterien Personen herausgefiltert, bei denen besondere Sicherheitsbedenken bestehen. Diese Personen werden markiert, und dies bedeutet:
„Die Zielperson wird komplett überwacht. Ein Analytiker wird täglich einen Report über das bekommen, was sich im Computersystem der Zielperson geändert hat. (…) Der Analytiker kann entscheiden, was er tun will – der Computer der Zielperson gehört nicht mehr ihr, er gehört dann der US-Regierung.“
Natürlich: Dass Sie oder ich so intensiv überwacht werden, ist immer noch relativ unwahrscheinlich. Damit es aber gar nicht so weit kommt, müssen wir künftig mit unserem Mail- und Surfverhalten, unseren Äußerungen im Internet vorsichtiger sein. Oder?
Die Welt-Stasi
Was ich hier skizziert habe, bedeutet subtiler Psychoterror gegen die gesamte Welt. Realisiert ist bereits jetzt eine Art Welt-Stasi. Die USA sind (assistiert von Europa) zu dem geworden, was der Westen in Gestalt des Ostblocks überwunden zu haben glaubte. Prinzessin Amidala sagt in „Star Wars, Episode III“:
„Hast du je darüber nachgedacht, ob wir nicht vielleicht auf der falschen Seite stehen? Was ist, wenn die Demokratie, der wir zu dienen glaubten, nicht mehr existiert, und die Republik zu dem Bösen geworden ist, das wir bekämpfen wollten?“
Die „Global Leaders“ flankieren die Totalüberwachung noch durch einige weitere, höchst bedrohliche Maßnahmen. Wenn es um Drohnenangriffen, die Einrichtung von Folterlagern und Drohungen mit Wirtschaftssanktionen geht, dann ist der Psychoterror wahrlich nicht mehr allzu subtil.
Die USA nehmen sich das Recht heraus, jeden Bürger, überall auf der Welt durch Drohnenangriffe zu töten. Wenn dies in Deutschland derzeit nicht geschieht, liegt es an der engen „Freundschaft“ der neoliberal gesinnten Brudervölker. Sollte Deutschland aber einmal aus der Koalition der Gutwilligen ausscheren und Staatsfeinde auf seinem Territorium dulden – wer weiß? Wikipedia gibt für Pakistan folgende Opferzahlen an: „Laut der Studie ‚Living Under Drones’ starben zwischen Juni 2004 und September 2012 zwischen 2.562 und 3.325 Menschen durch Drohnenangriffe. Die Zahl der Zivilisten unter den Toten benennt die Studie mit 474 bis 881, darunter 176 Kinder.“ Allein die Zahl der unter dem Oberbefehl des Friedensnobelpreisträgers Obama getöteten Kinder (!) übersteigt also bei weitem die Zahl der Menschen, die von der RAF und Nationalsozialistischen Untergrundkämpfern zusammen getötet wurden.
Der globale Amon Göth
Drohnen-Angriffe auf Menschen fremder Staaten schaffen ein Klima diffuser Angst. Nicht jeder kann zum Angriffsziel werden, aber jeder zum „Kollateralschaden“. Stirbt dein Kind, tröstet es dich ohnehin kaum, wenn die Täter vor Gericht gestellt werden. Schmerzlich ist es dennoch, dass es für die Täter nie ein Gerichtsurteil geben wird. Die Opfer werden so noch zusätzlich verhöhnt, weil sie in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Vereinigten Staaten von Amerika getötet wurden. Das Lebensgefühl, das sich hieraus für alle ergibt, ist beklemmend: Ein globaler Amon Göth feuert von seiner Terrasse aus auf jeden Menschen, den zu eliminieren ihm beliebt. Im Gegensatz zu dem KZ-Kommandanten aus „Schindlers Liste“ haben die Menschen, die Drohnen steuern, bei der Auswahl ihrer Opfer zwar klare Kriterien; doch es sind die Kriterien der Mörder, nicht die einer unparteiischen, humanen Justiz.
Mit Folterlagern ist es wie mit der Überwachung: Je mehr empörte Aufklärung es darüber gibt, desto mehr verstärkt sich ein Klima der Angst.
Kaum einer, der in Guantanamo sitzt, wurde auf dem Staatsgebiet der USA verhaftet. Murat Kurnaz etwa, dessen Schicksal ebenfalls 2013 unter dem Titel „5 Jahre Leben“ verfilmt wurde, ist ein in Bremen gebürtiger türkischer Staatsbürger, der in Pakistan von den USA gekidnappt wurde und ohne Prozess vier Jahre lang in Guantanamo einsaß.
Momentan scheint es unwahrscheinlich, dass ein deutscher Gegner der US-Politik auf deutschem Boden verhaftet wird. Aber können wir uns dessen in Zukunft sicher sein? Und was ist mit denen, die in muslimischen Ländern Urlaub machen? Glaubt jemand im Ernst, Merkel und Maas würden für ihn eintreten, wenn er in Guantanamo schlimmsten Erniedrigungen ausgesetzt ist? Während der argentinischen Militärdiktatur wurden Folterkeller bewusst nicht vollständig von der Bevölkerung abgeschirmt. Das heißt, Die Schmerzensschreie hörte man teilweise bis auf die Straße. Dies übte eine stärkere disziplinierende Wirkung auf die Bevölkerung aus als jedes Geheimlager. Eine Drohung mit einer Strafe, von deren Existenz niemand weiß, ist schließlich völlig wirkungslos.
„Feinde der USA“ – zum Abschuss freigegeben
Ab einem gewissen Ausmaß des Terrors wächst der Widerstand nicht mehr, er sinkt – aus Angst. Geschieht vor unseren Augen etwas Unfassbares, fallen wir leicht in Schockstarre. Merken wir dann, dass wir mit unserer Empörung offenbar allein sind, weil Politiker und Medien die Vorgänge herunterspielen, zweifeln wir vielleicht auch noch an unserem eigenen Verstand. Hinzu kommt bei den USA die Eliminierung von Staatsfeinden zur Abschreckung. Siehe Osama Bin Laden, Muammar al-Gaddafi und Chelsea Manning (vormals Bradley Manning), die gefoltert wurde und bis 2017 hinter Gittern blieb, bevor ein „Gnadenakt“ ihr zur Freiheit verhalf.
Edward Snowden muss Ähnliches befürchten. Es scheint nicht einmal sicher, ob es Snowden gelingen würde, mit dem Flugzeug von Russland nach Venezuela einzureisen, ohne „abgefangen“ zu werden. Sollte er je nach Venezuela gelangen, muss er befürchten, dass ihn die USA auch dort zur Strecke bringen werden. So wird ein globales System der Selbstjustiz und des Schreckens etabliert – vergleichbar nur noch mit der Fatwa gegen Salman Rushdie durch den früheren iranischen Machthaber Khomeini. Das Todesurteil übt eine einschüchternde Wirkung auf alle aus, die sich künftig kritisch oder satirisch über den Propheten Mohammed äußern wollen. „Wohin du auch fliehst, wir kriegen dich“ – solche Sätze scheinen einem Film über die mexikanische Drogenmafia zu entstammen.
Erschreckend ist auch das scheinbar unerschütterliche Selbstbewusstsein der Täter. Barack Obama legte sich im Zusammenhang mit dem NSA- und Snowden-Skandal mittlerweile sowohl mit Russland als auch mit vielen südamerikanischen und europäischen Staaten an. Putin drohte er mit der Absage eines Staatsbesuchs, falls Snowden sich noch länger dort aufhalte. Südamerika wurde brüskiert, als der bolivianische Präsident Morales für 13 Stunden auf dem Wiener Flughafen festgehalten wurde – weil Snowden sich im Flugzeug hätte befinden können.
Wusste Obama, dass ernsthafte Konsequenzen seitens dieser Länder nicht zu befürchten waren? Oder war es ihm egal, weil er sich selbst gegenüber so vielen Ländern, die die Politik der USA vor den Kopf stößt, als der Mächtigere fühlte? Beides trifft wohl zu. Der Terror gegen „Feinde der USA“ war ihm wichtiger als selbst gute Beziehungen zu wichtigen Partnern.
Die „Verschlechterung der Beziehung zu den USA“ wird so zum globalen Popanz, vor dem fast alle Staaten der Erde kuschen. Sei es aus Angst vor wirtschaftlichen Einbrüchen, vor Isolation oder vor militärischem Druck. Damit sind selbst vormals freie und stolze Länder zu angstschlotternden Duckmäusern mutiert.
Dies ist unter dem nach außen hin gröber gestrickten neuen Präsidenten Trump nicht besser, sondern eher schlimmer geworden, denn seine völlige Unberechenbarkeit hält die Welt noch zusätzlich in Atem.
Appeasement statt Rückgrat
Die unterworfenen Staaten reagieren gegenüber den USA wie Kleinkinder gegenüber einem gewalttätigen Vater. Aus einem Gefühl totaler Machtlosigkeit heraus möchte man es sich nicht mit demjenigen verscherzen, von dessen Gnade man existenziell abhängig ist. Lieber idealisiert man den Gewalttäter und versucht, sich mit ihm zu verbünden. Die Entrüstung europäischer Politiker über die NSA-Affäre war ohnehin eher gespielt, weil erstens die Führungsschicht wahrscheinlich davon wusste und zweitens die „Elite“ insgeheim mit den diktatorischen Maßnahmen sympathisiert, weil sie darin eine Blaupause für eigene Pläne zur Kontrolle der Bevölkerung sieht.
Sollten einzelne Politiker tief in ihrem Herzen anderer Meinung sein, werden sie sich mit Kritik zurückhalten. Ist es nicht, um „Schaden vom Volk abzuwenden“ opportun, sich mit dem Großen Bruder Amerika nicht anzulegen? Ab einem gewissen Stadium der Etablierung einer Weltdiktatur ist „Appeasementpolitik“ nur logisch. Denn wer möchte seinem Wahlvolk den Status eines Schurkenstaats zumuten – mit Folgen wie in Pakistan?
Zum Versagen der Exekutive kommt das Versagen des Justizapparats, beginnend mit den USA selbst. Edward Snowden sagte im Spiegel-Interview:
„Die Frage, wer theoretisch angeklagt werden könnte, ist hinfällig, wenn die Gesetze nicht respektiert werden. Gesetze sind gedacht für Leute wie Sie oder mich – nicht aber für die.“
Hinzu kommt vielfaches weiteres Versagen, etwa das von Ex-Bundespräsident Gauck und Angela Merkel, deren Milde vor dem Hintergrund ihrer Biografien im Stasi-Staat DDR besonders kläglich anmutet.
Nicht zuletzt scheitert ernsthafter Widerstand gegen die USA natürlich am üblichen „Schweigen der Lämmer“, also der Bevölkerungsmehrheit. An der hat natürlich auch die Presse ihren Anteil, denn Medienmanipulation ist allemal die wirksamste Freiwilligkeit erzwingende Maßnahme. Allerdings sind die Nachrichten im Spiegel und anderswo alarmierend genug. Selbst bei einem Volk, das traditionell nicht gerade demonstrationsfreudig ist, müsste das eigentlich genügen, um so viele Leute auf die Straße zu treiben wie der Reaktorunfall von Fukushima 2011. War auf dem Höhepunkt des NSA-Skandals jedoch noch teilweise geheuchelte Entrüstung aus der Politik zu vernehmen, ist heute jegliche Entrüstung versiegt.
„Die Diktatur ist nicht ganz ausgereift“
Global muss eine weitgehende Isolierung der USA angestrebt werden. Das ist schwierig, da in den meisten Ländern, die als „Verbündete“ in Frage kommen, selbst mehr oder minder gut bemäntelte „Faschismen“ an der Macht sind (Russland, China, arabische Welt …). Vielleicht dulden kleine Länder die Weltdiktatur der USA vielfach auch deshalb, weil sie denken: „Ganz ohne großen Partner sind wir schutzlos, und die Alternativen zur USA – Russland oder China – wären noch schlimmer.“ Allmählich verschwimmt dieser Unterschied jedoch, da die USA sich, was Demokratie und Menschenrechte betrifft, dem Niveau ihrer früheren Gegner nach unten anpasst.
Wir sind auf dem Weg in eine globale „DDR“ unter kapitalistischen Vorzeichen, aus der keine Flucht möglich ist, weil es kein „Hinter der Mauer“ gibt. Eingemauert sind wir vor allem durch unsere Ängste, die fleißig geschürt werden.
Wie sagte König Ägist in Sartres Stück „Die Fliegen“: „Wer bin ich denn, wenn nicht die Summe der Ängste, die auf mich projiziert werden?“
Wie haben frühere Diktatoren ihre Schreckensherrschaft etabliert? Meist geschah dies nicht mit einem „großen Knall“, sondern auf geordnete Weise, gemäß den Regeln von Demokratien, die dem gefährlichen Flirt mit der Selbstzerstörung nicht widerstehen konnten. Naomi Wolf zeigte solche Prozesse in ihrem Buch „Wie zerstört man eine Demokratie?“ auf. Faschismus, sagt sie, hat nicht immer ein spektakuläres, offen grausames Gesicht. Er offenbart sich in seiner Anfangsphase selten durch Massenerschießungen oder die rauchenden Schlote von Vernichtungslagern. Manchmal ist er zunächst nur daran zu erkennen, dass wir beginnen, unsere Worte abzuwägen.
Wolfs Buch spricht eine deutliche Warnung aus: Wenn die Bürger nicht jetzt sofort entschlossen gegensteuern, wird sich in den USA ein „Übergang zum Faschismus“ vollziehen, der bereits begonnen hat. „Eine ruhig gestellte, angsterfüllte amerikanische Bürgerschaft könnte das Ende jenes Amerika bedeuten, das die Gründerväter intendiert hatten“, schreibt Wolf. „Wir haben nur noch wenig Zeit, um zu verhindern, dass dies geschieht.“