Zunächst muss aber geklärt sein, was Aufklärung ist und was nicht. „Sapere aude!“ war der Leitspruch der Epoche. Dieser Ausdruck, der durch Immanuel Kant populär wurde, kann übersetzt werden mit „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ oder „Wage, selbst zu denken“. Die Aufklärung markiert das Ende der geistigen Herrschaft religiöser Welterklärungsmodelle und des Aberglaubens sowie den Beginn einer tatsachenbasierten Wirklichkeitserfahrung, einer reflektierten Kritikfähigkeit. So weit, so wünschenswert.
Können wir aber die Aufklärung als gelungene Errungenschaft uneingeschränkt in die Evolutionsgeschichte des Menschen einreihen? Sind ihre Ideale selbstverständliche Eigenschaften unserer Gesellschaft geworden? Denn: Erst mit einer Kritikfähigkeit, die wirklich imstande ist, die komplexen Gesamtzusammenhänge auszuwerten, die unsere Welt bilden, ist es möglich, sinnvoll Haltung dazu zu beziehen. Ansonsten bleibe ich – zumindest teilweise – im Aberglauben stecken, und das auch, wenn dieser auf scheinbar harten Zahlen und „Fakten“ fußt.
Heute würde jeder Mensch uneingeschränkt eine aufgeklärte Haltung für sich beanspruchen. In beiden Definitionen des „Sapere aude!“ klingt allerdings etwas an, was leicht übersehen wird, weil es so selbstverständlich erscheint: Es geht um ein Wagnis, um einen bewussten Schritt, der ein gewisses Risiko beinhaltet. Ein Risiko, wenn ich selbstständig denke? Welches Risiko soll das sein? Welches Wagnis gehe ich denn da ein?
Vorgedacht, nachgedacht, quergedacht zu den Risiken
Um festzustellen, wo der Mensch „riskiert“, müssen wir klären, wo sich der Mensch sicher fühlt. Was also ist des Menschen höchstes Gut?
Seit dem Pandemiegeschehen erkennen wir, dass es offensichtlich nicht in erster Linie die Werte einer liberalen Demokratie sind. Zu leichtfertig haben wir panisch ihre Basis aufgegeben, inzwischen wider besseren Wissens. Liegen unsere handlungsleitenden Kräfte also vielleicht unterhalb der Schicht der Kultur und ihrer Werte? Sind sie möglicherweise kollektiv vor- oder unterbewusst?
Über lange Epochen hinweg war es für den Menschen lebenswichtig, seinen Platz in der Gemeinschaft nicht zu gefährden. Ein Ausschluss war meist ein Todesurteil. Keine Frage: Dieses Muster ist heute noch in der Tiefe unserer Psyche vorhanden, auch wenn es objektiv betrachtet überflüssig geworden ist. Der Mensch, der sich nicht integriert fühlt, nicht zugehörig, ist der verlorene Mensch. Er ist dem Wahnsinn preisgegeben. Der Ausschluss ist ein Stigma, das keiner unbeschadet übersteht. Die Exkommunikation durch die Kirchen früher — und mancher Sekten noch heute — waren verbunden mit sozialer Ächtung. Denn: Wer weiß, was richtig ist? Wer hat den exklusiven Draht „nach oben“?
Heute sind es nur noch in Ausnahmefällen Gurus oder Priester. Giorgio Agamben schreibt in seinem Buch „Wo stehen wir?“:
„Wie bereits vielfach im Lauf der Geschichte geschehen, müssen die Philosophen erneut in Auseinandersetzung mit der Religion treten, die nun aber nicht mehr das Christentum ist, sondern die Wissenschaft beziehungsweise der Teil davon, der die Form einer Religion angenommen hat. Ich weiß nicht, ob die Scheiterhaufen wieder lodern werden und Bücher auf den Index kommen, doch sicher wird das Denken derer, die weiterhin nach der Wahrheit suchen und die vorherrschende Irreführung verwerfen, ausgeschlossen und beschuldigt werden, Falschmeldungen zu verbreiten …“ (1).
Wir haben derzeit eine neue Priesterklasse, die sich als Exklusiv-Vertreter der „reinen Wahrheit“ versteht. Unsere Gegenwart ist leider nicht durch echten Meinungsliberalismus und Toleranz geprägt, nicht von einem Klima, in welchem das Individuum mit der eigenen Hoheit über sich selbst, seine Einstellungen und seine Meinung in seiner positiven Freiheit als höchstes gesellschaftliches Ideal gehandelt wird.
Der Politologe und Philosoph Edward Hadas schreibt:
„Wie einige Religionen beinhaltet der Reinheitskult eine scharfe Dualität zwischen den reinen Auserwählten und den unreinen Anderen. Die Zugehörigkeit zu den Auserwählten erfordert eine rigorose Befolgung der Reinheitsvorschriften. Sie bringt ein Vertrauen in die eigene moralische Überlegenheit mit sich, das sich oft als Verachtung für diejenigen äußert, die weniger rein sind“ (2).
Auch wenn Hadas sich hier speziell auf das aktuelle Pandemiegeschehen bezieht, wird der religiöse Aspekt sichtbar: Zugehörigkeit korreliert mit Reinheit, Reinheit korreliert mit „richtig“. Der Auserwählte unterwirft sich, nur der Uneinsichtige, der Unverständige muss draußen bleiben. Haben wir angesichts dessen „den Mut, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen?“
Es ist klar, was Aufklärung also NICHT sein kann: die freiwillige, kritiklose und uneingeschränkte Unterwerfung unter die gerade gesellschaftlich deklarierte — und wissenschaftlich begründete — „Wahrheit“. Der Ursprung dieser Wahrheit liegt nämlich außerhalb von mir selbst.
Diese Wahrheit kann also nicht mehr sein als eine temporäre Konvention, eine Übereinkunft zum Umgang mit bestimmten Inhalten. Solche Übereinkünfte sind meist nicht weit von ihrer Dogmatisierung entfernt. Wieder steht der eigene Verstand auf dem dünnen Eis sozialer An- oder Aberkennung seiner Autonomie.
Alles klar — alles wahr?
Warum aber fällt eine solche Unterwerfung vielen so leicht? Warum sehnen wir uns regelrecht danach?
Eine Antwort ist der uns innewohnende Wunsch nach Kohärenz. Die Welt soll verstehbar sein. Erklärungen haben eine unwiderstehliche Attraktivität. Für sie wurde schon immer die Ratio geopfert oder besser: verbogen.
Dabei müssten wir wissen, dass Stimmigkeit meist nur eine vorübergehende Erscheinung ist, eine, die vom Wissen von morgen leicht gestört oder sogar zerstört werden kann. Stimmigkeit ist der Horizont unserer gegenwärtigen Erkenntnispraxis. Wir wissen auch, dass wir innerhalb unserer stimmigen Sphären gewisse Inhalte ausblenden oder der sie stigmatisieren müssen: Wenn es nicht in diese Stimmigkeit passt, muss es eben falsch sein.
Und so glaubt der moderne Mensch — nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Überforderung durch permanente Informationsüberlastung —, ausreichend aufgeklärt zu sein. Dass die Quellen seiner „Aufgeklärtheit“ selbst das Gefängnis bilden, das er überwunden zu haben glaubt, lässt er nur im Falle der „Anderen“ gelten.
Stimmigkeit und Kohärenz stehen als Wert also über dem Wert der Wahrheit. „Was ich verstehe, ist wahr“— das ist der unbewusste und hochwirksame Glaubenssatz.
Informiert = aufgeklärt?
Aufklärung kann also nicht bedeuten, mit der herrschenden Meinung einfach mitzugehen oder „informiert“ zu sein. Dazu bedarf es keines Mutes. Wenn ich innerhalb meines stimmigen Weltbildes bleibe, wage ich nicht das eigene Denken. Lassen wir Kant selbst definieren, was er unter Aufklärung verstanden hat:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen des Menschen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist dies Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ist also der Wahlspruch der Aufklärung“ (3).
Wenn die Unmündigkeit selbst verschuldet ist, dann erst ist sie als solche anzuklagen. Dann erst, wenn der Mensch auch anders könnte, wenn er nur den Mut dazu besäße, dann ist er unfrei, weil er abhängig von der Leitung des anderen ist.
Der andere: der Staat, der omnipotent und in Priester-König-Manier mit der Wissenschaft bewaffnet die Lebenspraxis aller beschneidet, formt und moralisch definiert, die Leitmedien, die in sonderbarer Gleichförmigkeit das für uns Unverstehbare synchron aufbereiten, der selbstgewählte Guru, der uns in Zeiten der Verwirrung die tiefen Hintergründe erschließt …
Aufklärung reloaded: vom WIR zum ICH
Vielleicht ist es an der Zeit, Kants Leitspruch der Aufklärung um eine neue Dimension zu erweitern. Unser Verstand wird immer Gefangener seiner Prämissen sein, und wir werden immer die gesellschaftliche Integrität der persönlichen Wahrheit vorziehen. Wir werden immer zwischen den Fronten einander widersprechender Wissenschaft sein, und wir werden immer vorbewusst selektiv zu den uns sympathischeren Erklärungsmodellen tendieren.
Wahrheit ist nicht durch die Menge oder die Qualität von Informationen zu erreichen, sondern durch Ehrlichkeit. Damit erreichen wir nur eine vorübergehende Wahrheit, eine Konvention, eine Übereinkunft, der gerade mehr oder weniger Menschen folgen. Wirkliche Wahrheit beginnt und funktioniert mit Ehrlichkeit. Eine Ehrlichkeit, die bei mir beginnt und die fragt: Was sind meine Ängste? Was treibt mich im Innersten? Was will ich nicht sehen? Wo habe ich mich falsch entschieden und müsste diese Entscheidung korrigieren oder sie mir zumindest eingestehen?
Diese Ehrlichkeit ist schonungslos. Bin ich dazu nicht in der Lage, ist mein Blick auf die Wirklichkeit notwendigerweise aber immer verzerrt. Meine Kritikfähigkeit ist gebunden an meine unbewussten Filter.
Erst wenn ich Ordnung im Innern hergestellt habe, kann eine äußere Ordnung folgen. Erst wenn ich ganz ehrlich geworden bin und mein Geltungsbedürfnis, meinen Wunsch nach Gesehenwerden, meine Todesangst, meine Schuld und alle meine Projektionen anschaue, kann ich der Wahrheit näherkommen. Ich stelle dann fest, dass die Wahrheit viel mehr mit mir selbst zu tun hat, als ich angenommen habe. Ich stelle fest, dass ich viel Energie darauf verwendet habe, meine Ängste in den Griff zu bekommen. Und erst dann kann ich beginnen, selbst Quelle zu sein, und kann meine Intuition zulassen, sie würdigen als Quelle, die sich einer objektiven Beschreibung entzieht.
Equilibrium der Kräfte
Darf man Kant ergänzen? Wagen wir es: „Aufklärung ist der Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit — hinein in eine Haltung uneingeschränkter Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit mit mir selbst. Ich habe den Mut, diese Wirklichkeiten in mir ungeschönt und ohne die Bewertung durch andere zu betrachten.“
Dann kann ich es wagen, meinen Verstand zu gebrauchen, weil ich nicht mehr den Ausschluss oder die Stigmatisierung fürchte. Ich selbst bin völlig und unangreifbar meine eigene Wahrheit geworden. In dieser Wahrheit offenbart sich dann auch jede größere Wahrheit außerhalb von mir.
Jede Krise ist auch ein Angebot: Sie bringt uns in eine Lage, in welcher wir imstande sind, diese geistige Autonomie zu erreichen. Sie zwingt uns zur Auseinandersetzung: mit uns, mit unseren auserkorenen Wahrheiten und mit unserer Haltung der Welt gegenüber. Die Krise rüttelt an unserer Ordnung und macht ihre wahre Qualität sichtbar. Sie mahnt uns, die reine Objektivität zugunsten einer höheren Harmonie zu verlassen und in Kontakt mit unserer intuitiven Dimension zu treten und die Verbundenheit aller Dinge wahrzunehmen.
Die Krise macht offenbar, wie wir unserer Welt gegenüber eingestellt sind: Müssen wir sie bekämpfen oder können wir integrieren? Müssen wir ausschließen oder können wir inkludieren? Glauben wir an humane Werte, und können wir diese in die Praxis bringen?
Oder sind wir normativ-fordernd und halten wir an abstrakten Zielen und Vorstellungen fest, die verwirklicht werden „müssen“?
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! — und vergiss deine zweite Hälfte nicht: „Habe den Mut, dir deiner eigenen Gefühle und Motive klar zu werden!“
Die gegenwärtige Krise ist ein erneutes und selbstgeschaffenes Angebot, GANZ zu werden.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Giorgio Agamben, „An welchem Punkt stehen wir?: Die Epidemie als Politik“, Verlag Turia +
Kant, 2021
(2) Zuerst erschienen bei „Anthroblog“ am 18. Februar 2021 im Essay „Der Krieg gegen COVID-
19 – sechs mögliche Erklärungen”.
(3) Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, 1784.