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Die verschwundene Revolution

Die verschwundene Revolution

Teile der sogenannten friedlichen Revolution von 1989 werden in der Geschichtsschreibung fast vollständig verschwiegen.

Die verlorene Illusion

Wenn ich heute beispielsweise Richard David Precht in einer Talkshow sehe, wenn er erklärt, was an unserem Bildungssystem falsch ist, bekomme ich eine Art Déjà-vu. Vor allem denke ich: Hätten sie „uns“ damals bloß machen lassen!

„Wir“ haben 1989 sehr ähnlich über das Bildungssystem diskutiert. Dabei haben wir uns nicht lange an ausführlicher Kritik aufgehalten, sondern vor allem gemeinsam darüber nachgedacht, was man besser machen könnte.

„Wir“ — das waren die Aktivisten einer „Arbeitsgruppe Volksbildung“ in Leipzig, die mehr oder weniger lose mit dem Neuen Forum verbunden war und sich gegründet hatte, um Bildungskonzepte für die Zukunft in einer demokratisierten DDR zu entwickeln.

Das Neue Forum, zur Erinnerung oder zur Information für die Jüngeren, war eine politische Oppositionsbewegung, die sich nach dem tschechoslowakischen Vorbild „Obcanske Forum“ (Bürgerforum) in der DDR gegründet hatte, um eine wählbare Alternative zur alles beherrschenden SED zu werden. Wir gingen jeden Montag auf die Straße, um gemeinsam mit anderen Demonstranten freie Wahlen und die Zulassung des Neuen Forums zu fordern, natürlich auch mehr Reisefreiheit und generell echte Demokratie.

Wir hatten die Vorstellung, wenn das Neue Forum einmal als Partei anerkannt würde, dann müsste es große Chancen haben, bei den ersten wirklich freien Wahlen in der DDR gegen die SED zu gewinnen und dann wäre es endlich so weit: Wir könnten die politischen Greise in der Regierung, die mit ihrem Parteiapparat jede vernünftige Entwicklung im Land massiv erschwerten, endlich ablösen und die DDR zu einer modernen demokratischen Gesellschaft umwandeln.

Und darauf wollten wir vorbereitet sein. Es gab noch weitere Arbeitsgruppen, für Wirtschaft oder für Umweltschutz. Ich engagierte mich in der für Bildung. Wir kamen alle aus der Praxis, als Lehrer, Erzieher, Psychologen berichteten von unserem Alltag, büffelten pädagogische Theorien, diskutierten über die Vermeidbarkeit von Strafen, über den Sinn und Unsinn von Zensuren, über die beste Verbindung von Theorie und Praxis. Wir waren uns einig gegen das Auswendig-Lernen und hatten ein Modell entwickelt, das sich Nachbarschaftsschule nannte und so konsequent wie möglich Lernen mit praktischer Erfahrung (zum Beispiel in der unmittelbaren Umgebung) verbinden wollte.

„Wir haben wirklich geglaubt, wir könnten die Volksbildungspläne der Zukunft gestalten“, sagte neulich ein Mitstreiter von damals zu mir, als ich ihn nach dreißig Jahren am Stand eines Kinderbuchprojektes wiedertraf. Er hatte Tränen in den Augen und lachte. Ja, wenn man heute darauf zurückblickt, glaubt man, die eigene Naivität kaum noch fassen zu können. Und doch war es so. Es waren nicht zuletzt die Verlockungen und Versprechungen von ZDF und ARD, die unsere „Revolution“ ja von Anfang an unterstützt hatten und uns glauben ließen, dass da wirklich irgendjemand an einer Selbstbestimmung der DDR-Bevölkerung interessiert sein könnte.

Als der Traum kurz vor der Erfüllung schien

Freilich, die DDR lag schon im Argen. In Ungarn waren die Grenzen zum Westen geöffnet, eine ganze Völkerwanderung schien sich da hindurch zu bewegen. Und doch glaubten wir, den Exodus aufhalten zu können, wenn wir unsere Gesellschaft rechtzeitig nach den Regeln der Vernunft gestalten würden. Selbstverständlich wurde viel über Wirtschaft gesprochen, etwa darüber diskutiert, wie viel Privateigentum eine demokratische Gesellschaft vertragen kann, und wie flexibel sich auch eine Planwirtschaft gestalten ließe. Aber ich kenne keinen einzigen, der auf die Idee gekommen wäre, die komplette Privatisierung der volkseigenen Betriebe der DDR zu fordern.

Wir erlebten ein paar wenige Wochen, in der unser Ziel fast greifbar schien. Im September und Oktober 1989 wurden die Demonstrationen, die sich an die Friedensgebete in der Nikolaikirche anschlossen, immer größer. Immer mehr Menschen kamen, um sich den Rufen nach Demokratie und Freiheit anzuschließen, während links und rechts der Straße Polizisten mit Gummiknüppeln und heruntergezogenem Visier Spalier standen. Nie wussten wir, was diese Vermummten tun würden. Am Sonntag, dem 7. Oktober 1989, zum 40. Jahrestag der Republik hatte eine zusätzliche Demonstration stattgefunden, in der sich die Menschen den offiziellen Lobhudeleien der Parteifunktionäre entgegensetzten und die mit Gewalt zerschlagen wurde.

Erst recht fanden sich am Tag darauf, am 8. Oktober, noch mehr Menschen an der Nikolai-Kirche ein, um gegen diesen Gewaltakt zu protestieren. Diesmal tat die Polizei nichts. Und auch in den Wochen darauf, hielt sie sich zurück. Das sprach sich herum. Der Protest schwoll an, am Montag, dem 5. November, dann das Unfassbare: Eine gigantische Massendemonstration wälzte sich über den Leipziger Ring. Jemand erzählte mir, Straßenbahnen sollen angehalten und sich die komplette Fahrgastschar der Demonstration angeschlossen haben. All diese Massen wollten den Wandel unserer Gesellschaft!? Wir staunten, wir hatten das Gefühl, unsere große Zeit sei ganz nah. Noch standen die Polizisten bewaffnet am Straßenrand. Es heißt, nur das Intervenieren von Kurt Masur habe verhindert, dass sie an diesem Tag der größten Massendemonstration seit Beginn der Montagsdemos nicht zugeschlagen haben. Es fühlte sich an wie ein Siegeszug.

Am Freitag darauf trafen wir uns: Jetzt konnten, jetzt mussten wir Nägel mit Köpfen machen, dachten wir.

Mit der Mauer fiel auch die Revolution

Damals war es noch ziemlich normal, keinen Fernseher zu haben und auch kein Radio zu hören. Viele von uns hatten nicht mal ein Festnetztelefon zu Hause.

So ging ich also am Freitag, dem 9. November 1989, voller Zukunftsideen zu der Wohnung, in der sich unsere „Gruppe Volksbildung“ traf. Als mir jemand öffnete, sah ich Sektgläser. Meine Mitstreiter standen mit sehr unterschiedlichen Gesichtsausdrücken im Wohnzimmer herum.

Ich hörte es zum ersten Mal:

„Die haben die Mauer aufgemacht.“
„Was für eine Mauer?“
„Die Grenzen. Du kannst jetzt in den Westen.“

Mehr als ein ungläubiges „Aha“ brachte ich zuerst nicht hervor. Ich stürzte den Sekt eher schicksalsergeben herunter. Dass wir an diesem Abend nicht mehr über pädagogische Konzepte sprechen würden, verstand sich irgendwie von selbst. Jemand meinte, er fahre jetzt mit seinem Auto zum Bahnhof, Fotos machen. Der Bahnhof lag auf dem Weg zu meiner Wohnung, ich stieg mit ins Auto. Am Bahnhof kam ich kurz mit raus, es wimmelte von Menschen, die sich an den Türen drängten, um hineinzukommen. Man hatte Sonderzüge bereitgestellt, die nach Kassel oder Frankfurt am Main fahren sollten. Ich wollte dieses aufgeregte Massengedränge nicht aus der Nähe sehen und ging zu Fuß nach Hause. Am nächsten Tag las ich in einer Zeitung, dass eine Frau im Gedränge unter einen Zug gekommen und gestorben ist.

Mit den Freunden aus der Arbeitsgruppe Volksbildung traf ich mich nur noch wenige Male. Wir stellten unsere Konzeptentwicklung ein.

Die Montagsdemonstrationen gingen weiter, aber es waren nicht mehr unsere. Anstelle freier Wahlen forderten die Demonstranten, Helmut Kohl solle auch der Kanzler des Ostens werden. Sie gingen für Wahlen auf die Straße, die ohnehin mit Sicherheit auf sie zukamen, und sie verkündeten schon jetzt, wen sie wählen würden.

Die Reformbestrebungen einer DDR waren erledigt. Alle Reformüberlegungen waren mit dem Gedanken einhergegangen, dass man die Reisefreiheit schrittweise einführen müsste. Mit dem Mauerfall von einem Tag auf den anderen war das Schnee von gestern. Unsere Revolution löste sich vor unseren Augen in Nichts auf, das Schicksal der Noch-DDR-Bürger war besiegelt. Und diese Bürger marschierten in Massen über die Straße und forderten ihr bereits besiegeltes Schicksal ein. Es wurde absurd.

Noch gab es letzte Hoffnungen. Runde Tische wurden eingerichtet und ehrenwerte Personen wie Kurt Masur in Leipzig oder Christa Wolf und Christoph Hein in Berlin riefen die Bevölkerung zur offenen Zukunftsdebatte „für unser Land“ auf.

Nur eine ganz kurze Zeit lang konnte man zumindest die Illusion haben, wirklich jeder Mensch könne in dieser neuen Gesellschaft mitbestimmen, wenn er nur den Mund auftäte.

Auch unsere Volksbildungsgruppe hatte noch nicht alle Hoffnung fahren lassen. Wir folgten einer Einladung des damaligen Stadtdezernenten für Bildung, Wolfgang Tiefensee, und nahmen an einem „Runden Tisch“ teil, bei dem es um das künftige Bildungskonzept von Sachsen gehen sollte.

Vertreter unserer Gruppe präsentierten das Modell der Nachbarschaftsschule. Ich erinnere mich an mehrere Blicke auf die Uhr, besonders bei Herrn Tiefensee und seinen Begleitern.

Am nächsten Tag erfuhren wir aus der Zeitung, dass sich Sachsen schon einige Tage zuvor entschieden hatte, das Bildungssystem von Bayern zu übernehmen.

Wir mussten kapieren, dass unsere Montagsdemos, unsere angebliche friedliche Revolution nur der Türöffner gewesen war, damit sich das westdeutsche System Zug um Zug in der zerfallenden DDR niederlassen konnte.

Heute erinnert kaum jemand daran, dass diejenigen, die diese Revolution begonnen hatten, die Macht eigentlich selbst übernehmen wollten. Natürlich nicht. Dann müsste man ja eingestehen, dass es sich genau genommen um eine gestohlene Revolution handelt.

Und wie kann man das, was dann folgte, überhaupt noch Revolution nennen? Wenn Massendemonstrationen in ihrer letzten Konsequenz dazu führen, dass gesellschaftliches Eigentum wieder privatisiert und zur kapitalistischen Profitmacherei freigegeben wird — in unserem Schulunterricht hieß so ein Vorgang „Konterrevolution“.

Die intellektuelle Enthauptung

Eine versuchte Revolution könnte man vielleicht noch einmal das nennen, was nach der Besetzung gesellschaftlicher Schaltzentralen im Osten durch Politiker und „Fachleute“ aus der BRD geschah. Einigermaßen bekannt sind noch die Aufstände ostdeutscher Arbeiter, die gegen die Schließung ihrer Betriebe durch die Treuhand protestierten. Was kaum noch auffindbar ist, sind Erinnerungen daran, dass man 1990 und in den Folgejahren die akademische Schicht des Ostens in die Wüste geschickt hat. Die DDR ist praktisch intellektuell enthauptet worden, obwohl es dagegen massiven Protest gab.

Im Dezember 1990, am ersten Tag der Weihnachtspause der Universitäten und Hochschulen in den inzwischen „neuen Bundesländern“, wurde bekannt gegeben, dass alle Universitäten und Hochschulen im Osten während dieser Pause neu besetzt werden sollten.

Man hatte einfach den ganz schnellen Prozess geplant, Ost-Professoren und -Dozenten weg, Fachleute aus dem Westen rauf auf die frei gewordenen Posten.

Zu den Begründungen für die geplante Akademiker-Entlassungswelle zählte unter anderem die Feststellung, dass alle DDR-Hochschullehrkräfte in der SED gewesen seien und daher aus ideologischen Gründen für ihre neuen Aufgaben nicht mehr tragbar.

Solche und andere Vorwürfe zeugten von einer kompletten Unkenntnis der DDR-Gesellschaft. Um eine bestimmte Karrierestufe in der DDR zu erreichen, war man gezwungen, Parteimitglied zu werden. Viele Wissenschaftler sind dabei einen Kompromiss eingegangen, weil er sie in die Lage versetzt hat, sich in ihrer Position für sozialen Fortschritt in der DDR einzusetzen. Viele haben einfach gute Arbeit geleistet und genossen nicht selten hohe internationale Anerkennung. Und warum soll das Bekenntnis, sich für Sozialismus und Weltfrieden einzusetzen, überhaupt ideologisch fragwürdig sein?

Dass man so gut wie alle amtierenden Dozenten und Professoren einfach absetzen wollte, löste massive Proteste bei den Studenten aus. Wochenlang besetzten sie in Berlin und Leipzig ihre Universitäten. Ich selbst nahm an der Uni-Besetzung in Leipzig teil. Der Protest bewirkte, dass sogenannte Berufungskommissionen unter studentischer Beteiligung eingeführt wurden. Was man in einer Hauruck-Aktion nicht durchsetzen konnte, wurde schließlich in langwierigen ermüdenden Diskussionsrunden durchgezogen, wo der prüfungsgeplagte Student in Zeitnot als einziger Befürworter eines geachteten Professors jedes Mal hoffnungslos unterlag.

Heute wird diese intellektuelle Enthauptung der ehemaligen DDR-Gesellschaft schulterzuckend in den allgemeinen Biografiebruch aller Ostdeutschen eingeordnet. Und in den heutigen Quellen sucht man vergeblich nach unseren Protesten gegen diese würdelose Entehrung verdienstvoller Wissenschaftler.

Aber es gab diese Proteste, wie so vieles andere, was es in der DDR und während der Wende gegeben hat und wovon am 30. Jahrestag der Erinnerung an jene Zeit wieder nicht die Rede sein wird. Weil die Geschichte eben vom Sieger der Geschichte geschrieben wird, und der lässt weg, verschweigt und beschönigt, wie es für ihn am besten ist. Und dass eine Revolution ohne die Revolutionäre gefeiert wird, geschieht ja auch nicht zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte.

Retten wir die Geschichte mit unseren Geschichten

Was wir aber tun können, ist unsere Geschichte zu retten, bevor sie im Schwarz-Weiß der Rückschau-Propaganda völlig verschwindet, bevor wir uns selbst kaum noch daran erinnern, dass es in den Siebzigern oder Achtzigern noch so viel mehr gab als Diktatur im Osten und Freiheit im Westen. Und überhaupt wird es längst Zeit, diese einseitige Rückschau auf den Osten zu beenden, der sich angeblich in den Westen hinein befreit hat. Auch die ehemalige BRD war vor 1989 ein anderes Land als das heutige Deutschland und auch da gibt es sicher sehr viel mehr Geschichten, die das übliche Klischee durchbrechen.

Ein Buchprojekt, das von Rubikon und Free21 unterstützt wird, möchte ein solcher Geschichtenretter sein. Interessierte können sich mit eigenen Beiträgen beteiligen.


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