Etwa 350 Jahre vor Christus wies Aristoteles darauf hin, dass sich widersprechende Behauptungen nicht gleichzeitig wahr sein können. Diese Feststellung wurde zu einer wichtigen Richtschnur für logisches Denken wurde und verhalf der Menschheit zu großen Erkenntnisgewinnen. Aber gleichzeitig war die Suche nach der Abgrenzung zwischen dem Wahren und dem Falschen nie abstrakt, sondern immer interessengeleitet und eine Machtfrage. Man erinnere sich nur an die Auseinandersetzung, ob sich nun die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne drehe. Beide Behauptungen widersprachen einander und die Kirche tat alles, um ihre Weltsicht gegen die Wissenschaft zu verteidigen, bis sie sich schließlich geschlagen geben musste.
Obwohl wir in einem aufgeklärten Zeitalter leben, versuchen Machteliten immer wieder, Menschen zu manipulieren und die Grenzen zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu verwischen. Die Freiheit der Rede und der Medien sollte vor dieser Manipulation Schutz bieten. Doch aktuell sind wir Zeugen ihrer Erosion in demokratischen Gesellschaften, allen voran in den USA. Wenn diese Freiheiten brüchig werden, geraten die zivilisatorischen Errungenschaften seit der Aufklärung in Gefahr. Nicht umsonst entwarf Orwell eine Dystopie, in der er die Verwirrung des menschlichen Denkens und Fühlens beschrieb, um Gehorsam und ideologische Gleichschaltung zu erreichen. Denn perfektes Untertanentum ist nur erreichbar, wenn die Menschen entweder nicht wissen, was richtig und falsch ist, oder mit großer Inbrunst glauben, auf der richtigen Seite zu stehen.
Ausrechnet die „Integrity Initiative“, eine ursprünglich geheime britische Aktion, die sich dem Kampf gegen Desinformation verschrieb, aber gleichzeitig Propaganda betrieb, lieferte unabsichtlich ein Regelwerk, wie sich der moderne Kampf um den perfekten Untertanen enttarnen lässt, auch wenn sich deren Leitfaden auf russische Desinformation und Propaganda fokussierte. In Regel Nummer 7 heißt es, dass es erstens unbedingt notwendig sei, die Fakten zu prüfen und sicher zu sein, dass die eigene Quellenlage stimmt, und zweitens, dass ein Propagandist niemals zugeben wird, einen Fehler gemacht zu haben. Regel Nummer 8 verwies darauf, dass Desinformation keine Frage der Logik ist. Es ginge allein um das Schüren von Emotionen. Damit sind Fakten und Logik die entscheidenden Waffen, um bei klarem Verstand zu bleiben und die Spreu vom Weizen zu trennen.
Westliche Desinformationskampagnen, es gibt nicht nur russische, stimmen alle in einem Ausgangspunkt überein: Westliche Demokratien sind dem Rest der Welt politisch und moralisch überlegen und damit a priori im Besitz einer höheren Wahrheit. Daraus folgt das Postulat, dass es keine Unwahrheiten des Westens geben kann, er immer moralisch handelt, während der politische Gegner das verschlagene und verlogene Böse repräsentiert. In der westlichen Weltsicht spielt der Rest der Welt gar keine Rolle.
Seit einigen Jahren verkörpert Russland in der vorherrschenden Sicht des Westens das ultimativ Böse. Diese Erzählung blendet konsequent aus, dass der Westen ebenfalls lügt, wenn es ihm passt, dass er mit Drohnen mordet, die Welt mit Desinformation überzieht, ganz besonders, wenn es um Regime change geht, völkerrechtswidrige Kriege führt, „wo er will“, und aufgrund seiner — wenn auch schwindenden — militärischen Überlegenheit anderen Staaten als Bedrohung erscheinen kann.
Wer diese Seite der Medaille erwähnt und mit Fakten unterlegt, wird von der herrschenden Meinung umgehend zum Verräter der „guten Sache“ erklärt, gilt wahlweise als russischer Spion, „Putidiot“ oder als „Verschwörungstheoretiker“. Im schlimmsten Fall riskiert man 175 Jahre Gefängnis wie Julian Assange, im besten Fall gilt man als Trottel, der nicht weiß, dass man den „guten“ Westen und das „böse“ Russland auf keinen Fall in einen Korb werfen darf, denn die Handlungen der Verantwortlichen in Demokratien folgen höheren Zielen, während Politiker in autokratischen Systemen wie das russische nur niederer Instinkte fähig oder gar genetisch verdammt sind.
Solche Totschlagsreflexe sind infam und gefährlich, aber sie sind auch ermüdend und eine Beleidigung des menschlichen Verstands. Vor allem aber sind sie ein Verrat an der Demokratie und an allen zivilisatorischen Werten.
Konfrontation im Sicherheitsrat
Kürzlich führten sechs westliche Staatenvertreter, darunter aus Deutschland, in zwei Treffen des UN-Sicherheitsrates zum Einsatz von Chemiewaffen in Syrien vor, wie man mit Fakten verfährt, die nicht in die politische „Linie“ passen: Man ignoriert sie, beschimpft die Experten, verweigert die Einladung des ehemaligen Generaldirektors der OPCW (Internationale Kontrollbehörde des Chemiewaffenverbots) Jose Bustani als irrelevant und erklärt das Ganze zur russischen Desinformationskampagne. Diejenigen Staaten, die weder dem westlichen noch dem russischen Lager zugerechnet werden können, äußerten durchweg ihre Sorge vor einer Politisierung der OPCW und beklagten die Konfrontation im Sicherheitsrat.
Tatsächlich hatte Bustani für den Sicherheitsrat eine Erklärung vorbereitet, in der er die Bitte ihm bekannter OPCW-Experten unterstützte, im Rahmen der OPCW angehört werden zu dürfen. Sie wollten das Ergebnis ihrer Untersuchungen des gemutmaßten Giftgasanschlags von Douma, Syrien, vortragen. Denn diese Experten, das ist inzwischen eindeutig, waren zwar 2018 in Douma und untersuchten den Tatort, wurden aber von der Abfassung des Abschlussberichtes der OPCW 2019 ausgeschlossen. Sie sagen, der Abschlussbericht wurde manipuliert. Diese Meinung vertreten keine Anfänger, sondern erfahrene und bis dato angesehene Experten der OPCW. Zu ihnen gehört Ian Henderson, ein Südafrikaner, über dessen Rolle in Douma die OPCW nicht die Wahrheit sagte.
Es war nicht Henderson, der seinen Bericht regelwidrig in die Öffentlichkeit brachte, einen Bericht, der die westliche Annahme, dass Bashar al-Assads Truppen hinter dem Anschlag steckten, nicht bestätigte. Aber seitdem sein Bericht öffentlich wurde, steht Henderson ohne Wenn und Aber zu seinen Untersuchungen. Einige Journalisten hatten bereits 2018 die Vermutung, dass sich in Douma nicht das ereignete, was das Video der „Weißhelme“ suggerierte. Die New York Times (NYT) präsentierte eine eigene Untersuchung mithilfe von „Bellingcat“ und produzierte ein Video, in dem die Verantwortung eindeutig Assad zugeschrieben wurde.
Auch die OPCW erklärte dies im Jahr 2019 zum wahrscheinlichen Szenario, aber dann traten die OPCW-Whistleblower auf den Plan und dokumentierten eine Geschichte, die politische Beeinflussung und Unterschlagung wissenschaftlicher Analyseergebnisse nahelegt. Dank WikiLeaks und Journalisten wie Aaron Mate (USA) und Peter Hitchens (GB) bekamen die Erklärungen dieser OPCW-Experten, die in Douma waren, eine gewisse Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit.
Nun steht Rede gegen Rede. Da niemand etwas tut, um aufzuklären, was damals innerhalb der OPCW geschah, ist der Ruf der OPCW beschädigt. Alles ereignete sich unter Verantwortung des ehemaligen Generaldirektors der OPCW, der, wie ein Interview mit der NYT vom 3. Mai 2018 offen legte, nicht nur keine Ahnung von Nervengiften hatte, sondern zutiefst parteiisch auftrat. Er behauptete damals, es existiere ein russisches militärisches Programm zu Nowitschoks, ohne dass es dazu je eine Untersuchung der OPCW gegeben hätte.
Anschläge mit Nervengift in Syrien
Es wäre naiv, zu behaupten, es ginge um einen schlichten Expertenstreit. Das Terrain ist hoch vermint. Die Nutzung von Chemiewaffen durch Assad war die rote Linie, die Barack Obama für einen Kriegseintritt der USA zog und 2013 dann kassierte. 2018 hoffte John Bolton, dass Trump sich dazu entscheiden würde. Aber der zog es vor, gemeinsam mit zwei Verbündeten, „nur“ Vergeltungsschläge zu üben, die nichts als „Nadelstiche“ waren, wie die Washington Post anmerkte. Dass die OPCW-Prüfungen noch gar nicht stattgefunden hatten, bewegte niemanden. Douma war allerdings der erste Fall, bei dem überhaupt OPCW-Experten vor Ort waren und wenn in Douma nicht das passiert sein sollte, was offiziell behauptet wird, stellt sich die grundsätzliche Frage: Was hätten OPCW-Experten gefunden, wenn sie Zugang zu den anderen Orten der mutmaßlichen Giftgasanschläge gehabt hätten?
Im Fall des Anschlages von 2017 erklärte der US-amerikanische Verteidigungsminister 2018, dass die USA immer noch keine Beweise für die Schuld Assads hätten. „Vergolten“ wurde dennoch. Der Journalist Seymour Hersh bezweifelte die Verantwortung von Assad für den Anschlag von Ghouta, 2013. Er nutzte damals Enthüllungen von Edward Snowden und Kontakte zu US-Geheimdienstquellen. Der Artikel erschien in der Londoner Review of Books. 2016 legte ein Artikel zum außenpolitischen Erbe von Obama im Atlantic offen, dass Seymor Hersh den entscheidenden Punkt richtig verstanden hatte: Die US-Geheimdienste hatten keine eindeutigen Beweise für Assads Schuld 2013, was mit dazu führte, dass Obama in den Syrienkonflikt nicht militärisch eingriff.
Die OPCW untersucht nach wie vor Giftgasanschläge in Syrien. Im Sicherheitsrat wurde deutlich, dass syrische Proben von Tatorten bei der OPCW verschwunden sind. Es ist ebenfalls bedenklich, dass die OPCW offenbar eine Strategie verfolgt, die Nachprüfung der Abschaffung der syrischen Chemiewaffen, die auf eine Initiative von Obama zurückgeht, mithilfe von Putin „offen zu halten“. Darauf wies Ian Henderson hin. Am Bedenklichsten aber ist das große Medienschweigen.
Denn inzwischen sind auch andere Fakten in der Welt. Dokumente, die aus aus dem britischen Außenministeriums gestohlen wurden, belegen, dass westliche Steuergelder, auch EU-Mittel, verwendet wurden, um mithilfe von privaten Unternehmen die Aufständischen gegen Assad weiß zu waschen. Das geschah im vollen Bewusstsein, dass der Kern des Aufstands gegen Assad radikale Islamisten waren, die wir niemals in westlichen Gesellschaften tolerieren würden. Diese Unternehmen haben Geschichten fabriziert und weltweit Journalisten getäuscht. Auch darüber herrscht Funkstille.
Menschen wie Chelsea Manning, John Kiriakou, Julian Assange haben nicht zu Verbrechen geschwiegen, die im Namen des Guten im Kampf gegen die „Achse des Bösen“ begangen wurden. Sie wurden eingesperrt. Assange sitzt heute in einem Hochsicherheitsgefängnis, in das tatsächlich all diejenigen gehörten, die im Namen des Guten zu Verbrechern wurden und großes Leid über die Menschheit brachten. Nur Untertanen empört das nicht.