Mimik spielt im zwischenmenschlichen Umgang eine zentrale Rolle. Kommunikation ist mehr als der Austausch von Wörtern. Die Mimik ist auf das Engste mit der Sprache verschnürt und man muss das Paket aufschnüren, wenn man die Funktionsweise der Teile verstehen will.
Was ist Sprache?
Der Ausdruck Sprache wird für alles Mögliche verwendet. Zunächst für die verbalen Sprachen der Menschen. Mimik und Gestik werden als Körpersprache bezeichnet. Auch von Tiersprachen wird geredet, sogar von einer Bienensprache. Mit Letzterer sind die Tänze gemeint, mit denen eine Biene ihren Artgenossen einen Futterstandort signalisiert.
Träfe ein Dackel aus Deutschland auf einen Hund aus China, die beiden verstünden sich auf Anhieb mit jedem „Wau-Wau“. Und auch ein schweigsamer sibirischer Wolf wäre genau im Bilde, worüber die beiden bellen. Animalisches Kommunikationsvermögen wird mit den Genen vererbt. Im Unterschied zu einer menschlichen Muttersprache müssen Tiersprachen nicht erlernt werden. Ihr Verständnis ist angeboren und daher in der gesamten Tierart spontan gegeben. Und jede Tierart kennt nur eine einzige Sprache, deren Gestalt über Jahrtausende gleich bleibt.
Haben Menschen im Laufe der Stammesgeschichte ihr angeborenes Kommunikationsvermögen verloren? Keineswegs. Entdecker wie Kolumbus hätten keine Chance gehabt, sich mit Einheimischen zu verständigen, hätten sie nicht über ein Arsenal von Signalen verfügt, mit denen sie kommunizieren konnten. Es war die angeborene Kommunikationspotenz der Art Homo sapiens, die ins Spiel kam. Sie entspricht jener der Tiere und die Bezeichnung Artsprache wäre hierfür angemessen.
Ursprache
Bei der gegenwärtigen Verkauderwelschung des Deutschen mit unnötigen Anglizismen ist aber zu befürchten, dass Artsprache als „Artlanguage“, also als „Kunstsprache“ missverstanden wird. Und das wäre das Gegenteil dessen, was hier gemeint ist. Daher sei der Ausdruck Ursprache gewählt.
Wir verfügen durchaus noch über die ursprüngliche Sprache (Singular) unserer Art, die angeboren ist, also mit den Genen erworben wird. Diese Ursprache besteht aus einer weitgefächerten Palette von Ausdrucksformen wie Körperhaltung, Körperbewegungen, besonders der Hände, Droh- und Dominanzgebärden, Abwehrhaltungen, Unterwerfungsgesten, Begrüßungs- und Einladungsgesten und so weiter. Dazu kommen Bewegungen der Gesichtsmuskulatur, also alles, was man unter Mimik versteht, wie Lächeln, Augenaufreißen oder -zukneifen, Stirnrunzeln, Lippenspitzen, Mundwinkelherunterziehen, et cetera.
Unsere Mimik fungiert als permanente Signalanlage. Das menschliche Gesicht ist ein Großflughafen von abgehenden Signalen. Und nicht nur Mimik und Körperbewegungen, sondern auch Lautäußerungen nichtverbaler Art, wie Jauchzen, Stöhnen, Zischen, Schreien, Wimmern, Weinen oder Lachen, gehören zur vielfältigen ursprachlichen Ausdruckspalette.
Pantomime ist die Kunst, mit dem Repertoire der ursprachlichen Signale Geschichten zu erzählen. Comics und Zeichentrickfilme leben von der expressionistischen Übertreibung ursprachlicher Codices. Sie werden schon von sehr kleinen Kindern spontan verstanden, was belegt, dass ihr Verständnis angeboren ist.
Joe Navarro, ein kubanischer Einwanderer in die USA, erzählt:
„Als ich acht Jahre alt war, kam ich als Flüchtling aus Kuba in die USA. (…) Am Anfang konnte ich kein Wort Englisch und so tat ich das, was auch Tausende anderer Immigranten taten, die ins Land kamen. Wenn ich zu meinen neuen Schulkameraden dazugehören wollte, so wurde mir schnell klar, dann musste ich mich auf die ‚andere‘ Sprache konzentrieren, die mir leichter zugänglich war: die Sprache nonverbalen Verhaltens. Und ich stellte fest, dass ich diese Sprache sofort übersetzen und verstehen konnte. In jener Zeit betrachtete ich den menschlichen Körper als eine Art Schautafel, auf der die Gedanken eines Menschen bildlich dargestellt sind — anhand von Mimik, Gestik und anderen Bewegungen konnte ich sie ablesen(…)
Anfangs nutzte ich Körpersprache, um dahinter zu kommen, was meine Klassenkameraden und Lehrer mir zu vermitteln versuchten und welche Haltung sie mir gegenüber einnahmen. Eines der ersten Dinge, die ich bemerkte, war, dass Schüler oder Lehrer, die mich wirklich mochten, ihre Augenbrauen hoben, wenn ich den Raum betrat. Andererseits kniffen diejenigen, die mir nicht sonderlich freundlich gesinnt waren, ihre Augen leicht zusammen, wenn ich auf der Bildfläche erschien — ein Verhalten, das man nie wieder vergisst, wenn man es einmal beobachtet hat“ (1).
Im Zweiten Weltkrieg war es für die französische Résistance eine Frage von Leben und Tod herauszufinden, ob jemand ein Spitzel war. Hierfür hatte sie einen Experten.
Der blinde Jaques Lusseyran schildert, wie er einem gewissen Nivel begegnete:
„Als aber Nivel eintrat und ein überfreundliches ‚Guten Tag’ ertönen ließ, war die Diagnose mühelos gestellt: ‚Diesen Menschen fallen lassen! So schnell wie möglich sich von ihm lösen!’ Seine warme Stimme, seine wohl abgerundeten Sätze gaben ihm das Gesicht, das ich zunächst gesehen hatte. Aber unter diesem Gesicht kam sofort ein anderes zum Vorschein. (…)
Ich hatte in mir eine geheime Kammer: Wenn ich auf die gute Idee kam, dorthin hinab zu steigen, wurden alle Dinge einfach und klar. Vor allem war hier von den Menschen alle Tünche abgewaschen: In einem sanften Wort konnte ich eine Drohung hören, in einem prahlerischen Ausspruch die Angst. Und dieser Ort der Klarheit — es ist seltsam! — war nichts anderes als jener innere Raum, der mir vertraut ist, seitdem ich mit acht Jahren blind geworden bin.
Ich habe niemals genau erfahren, welches Unglück uns meine Intuition erspart hatte. Doch einige Monate später wurde der verdächtige Nivel (...) gesehen. Er trug das Parteiabzeichen und brüllte mit den anderen Heil Hitler!“ (2).
Früh erblindete Menschen entwickeln bisweilen eine besondere akustische Sensibilität, die ihnen als Frühwarnsystem dient. Für Lusseyran war das Gehörte weit mehr als eine Abfolge von Sätzen. Er lauschte auf die ursprachlichen Signale, die der andere unabsichtlich preisgab. Denen begegnete er in seiner „geheimen Kammer“. Und die verrieten ihm, dass der andere ein Lügner und Spitzel war.
Das wichtigste Erkennungsmerkmal eines Menschen ist neben seinem Aussehen seine Stimme. Sie wird nicht nur durch Kehlkopf und Stimmbänder geformt, sondern auch durch sein Temperament und seine Art zu sprechen. Stimmhöhe, Lautstärke, Rhythmus und Tempo, die Art der Betonung und anderes mehr machen die Einzigartigkeit einer Stimme aus. Das alles sind ursprachliche Signalmomente.
Nicht nur was, sondern auch wie jemand etwas sagt, ist ausschlaggebend. Das Gewicht des ursprachlichen Anteils in der alltäglichen Kommunikation wird unterschätzt, weil die Aufmerksamkeit auf den Inhalt einer Rede gerichtet ist.
Der englische Archäologe Steven Mithen meint:
„Wir sind heute relativ desensibilisiert, was die Feinheiten der Gesten und Körperbewegungen betrifft, einerseits, weil wir so an der gesprochenen Sprache hängen, und andererseits, weil wir die Kraft des Kommunikationssystems, das auf Gesten und Körperbewegungen basiert, verkennen“ (3).
Ähnlich wie Mithen bemerkt auch der niederländische Primatologe Frans de Waal:
„… unsere Fixierung auf das gesprochene Wort hindert uns, die Fülle nichtverbaler Signale - Körperhaltung, Gesten, Mimik und Stimmlage - in vollem Umfang zu begreifen. Ohne Körpersignale verliert unsere Kommunikation ihren emotionalen Gehalt und wird zu bloß technischer Information (…)
Wenn Menschen aufgrund einer neurologischen Erkrankung ihre mimische Ausdrucksfähigkeit verlieren und deswegen nicht die Emotionen anderer widerspiegeln können (beispielsweise durch Lächeln oder Stirnrunzeln), verzweifeln sie an ihrer Einsamkeit, wie man weiß. Unsere Spezies findet ohne die Körpersprache, die uns zusammenzementiert, das Leben kaum lebenswert“ (4).
Die menschlichen, ursprachlichen Signale sind in ihrer Grundstruktur denen von Menschenaffen verwandt. Sie sind vom selben Evolutionstypus. Daher gibt es wechselseitiges Verständnis.
„Es hätte keinen Zweck, Angst oder Feindseligkeit verbergen zu wollen, denn die menschliche Körpersprache ist für Schimpansen ein offenes Buch“ (5).
Und wir verstehen sehr wohl, was es bedeutet, wenn ein Gorillamännchen sich aufrichtet und mit den Fäusten an die Brust schlägt: „Seht her, ich bin der Größte!“
Man kann davon ausgehen, dass die Erzeugung und Verarbeitung ursprachlicher Signale ein Erbteil aus der animalischen Phase der Menschheitsgeschichte ist, deshalb in stammesgeschichtlich älteren Hirnarealen geschaltet wird und nicht über jene kortikalen Partien läuft, in denen sprachbasiertes, diskursives Denken stattfindet. Dazu passt, dass ursprachliche Signale als spontan, unmittelbar, reflexartig oder instinktiv empfunden werden und man unbewusst agiert oder reagiert.
Kultursprachen (6)
Im Laufe der Evolution der Primaten entsteht ein Ausnahmewesen, der Mensch. Seine Reifung vom Säugling zum erwachsenen Exemplar ist nicht mehr allein genetisch vorherbestimmt wie bei allen anderen Arten, sondern die vollständige Reifung bedarf eines kulturellen Eingriffes, setzt das Wirken einer spezifischen Sprachkultur voraus.
Genetisch vererbt, also angeboren sind in diesem Fall nur die Fähigkeit und das Verlangen des Kleinkindes, die Sprache seiner Umgebung zu lernen. Diese Sprache hat in seinen Genen keine Repräsentanz, aber das Sprechenlernen hinterlässt in seinem Großhirn physische Einträge (spezifische Figurationen von Synapsen). Um ein vollwertiges Mitglied einer menschlichen Gemeinschaft zu werden, müssen Kinder in eine Sprachkultur hineinwachsen. Menschwerdung ist somit nur als sozialer Prozess innerhalb einer Kultur möglich.
Biologische Gestalt und kulturelles Umfeld sind hier keine Gegensätze, sondern unabdingbare Komponenten jeder Menschwerdung. Die althergebrachte, philosophische Denkweise, dass Natur und Kultur Gegensätze seien, erweist sich hier als erkenntnistheoretischer Irrtum. Die biologische Substanz des Menschen ist so angelegt, dass sie zu ihrer Reifung der Sprache einer gegebenen Kultur bedarf. Es liegt daher nahe, die verbalen Verständigungsmittel der Menschheit als Kultursprachen zu begreifen.
Kultursprachen haben kein starres Begriffsrepertoire, keine unveränderliche Wörterpartitur, sondern sie ändern sich im Laufe der Zeit wie die Kultur, deren Verständigungsmittel sie sind. Was auf den ersten Blick als Nachteil erscheint, ist das Geheimnis des Erfolges, denn die Erweiterung des Wissens bedarf einer veränderbaren Sprache, um das Neue in Begriffe zu fassen. Würden Sprachen mit den Genen vererbt, könnten sie sich nicht zeitnah verändern. Genmutationen finden in anderen Zeiträumen statt.
Das Instrumentarium der Symbole
Menschen betrachten die Welt anders als Tiere. Die ursprüngliche, animalische Form der Betrachtung kann nicht die reflektierte Wahrnehmung der Dinge und Vorgänge gewesen sein. Das muss so etwas wie eine unmittelbare Anmutung, ein Sein im Hier und Jetzt gewesen sein, gleich einem Treibholz im Strom der Zeit. Ein Sein, das von den Vorgängen des Lebens angemutet und von den eigenen Affekten (Erregungen) beherrscht wird.
In drogen- oder meditationsbedingten Rauschzuständen lässt sich das Moment bewusster Wahrnehmung kurzzeitig ausschalten und ein Zustand erleben, der ursprünglicher Anmutung nahekommen könnte. Religiös motivierte Meditierende oder Drogenkonsumenten deuten das als Fenster zur Transzendenz oder als Erweiterung der Pforten der Wahrnehmung.
Es gibt streng genommen nichts, was nicht im Lauf der Zeit einer Veränderung unterliegt. „Alles fließt“, sagte ein altgriechischer Philosoph. Erst unsere Muttersprache macht, dass etwas für uns ist. In einer Sprache sind Momente des ewig fließenden Weltgeschehens in Symbolen erstarrt. In einer gesprochenen Sprache sind es Lautsymbole (Elias).
Diese haben mit dem Bezeichneten keinerlei Ähnlichkeit, ausgenommen sogenannte lautmalende Wörter, mehrheitlich aus der Kindersprache, wie Miau oder Muh. Diese Symbole bilden das, was wir Sprache nennen. Und wir sind auf geheimnisvolle Weise in der Lage, diesen Symbolen/Begriffen/Wörtern, die aus Konkretem geboren wurden, einen verallgemeinernden Bedeutungsradius einzuräumen.
Baum: Das Lautsymbol/Wort Baum ist ein Symbol für eine unendliche Vielzahl von ähnlichen Gewächsen, die durch Wachsen oder Absterben einer ständigen Veränderung unterliegen. Es gibt keine zwei Bäume, die genau gleich sind. Dennoch verständigen wir uns über Bäume und wissen, was damit gemeint ist. Dieses Verstehen auf einer höheren Synthese-Ebene ist nicht angeboren, sondern wird mit dem Sprechen lernen erworben.
Mama: Zunächst ist die Mutter nur ein nährendes und schützendes Biotop für den Säugling. Es dauert seine Zeit, bis er die zwei großen Augen über seinem Gesicht, den vertrauten Klang ihrer Stimme und die schützenden Arme, die ihn umfangen und hochheben, bis das alles zu „Mama" wird, zusammenschmilzt zu dem Lautsymbol Mama, das er von seiner Umgebung angeboten bekommt. Das Biotop wird in seinem Gedächtnis nun mit dem Symbol Mama repräsentiert. Und es kann noch lange dauern, bis er seine Mama mit dem Wort Mutter in Verbindung bringt.
Mit dem Sprechen lernen eröffnet sich gleichsam eine zweite Welt. Wilhelm von Humboldt bemerkte, dass die Sprache „nicht bloß ein Austauschmittel zu gegenseitigem Verständnis, sondern eine wahre Welt ist, welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände (...) setzen muss“ (7).
Die erlebte Welt bekommt in Lautsymbolen ein zweites Sein und fortan steht das Lautsymbol als Mosaiksteinchen der „wahren Welt“ für das Wahrgenommene. Unbewusste Anmutung wird zur bewussten Wahrnehmung.
Norbert Elias spricht in diesem Zusammenhang von der „Symbolemanzipation der Menschheit ..., von ihrer Befreiung aus der Fesselung an überwiegend nicht erlernte, angeborene Signale und vom Übergang zur Vorherrschaft einer weitgehend erlernten Modulation der Stimme zu Zwecken der Kommunikation“ (8).
Ereignisse oder Gegenstände bekommen Namen, werden mit Raum- und Zeitbezügen im Gedächtnis gespeichert und somit beliebig abrufbar. Mit der Aneignung von Lautsymbolen befreit sich der Mensch aus der Bindung an Zeit und Raum, weil Figurationen von Lautsymbolen (Wörtern / Begriffen) zu Gedanken werden (Denken als stummes Sprechen verstanden), die frei verfügbar und manipulierbar sind. Die im Sprachgedächtnis gespeicherten Lautsymbole sind die Bausteine der Humboldt'schen wahren Welt, welche der Intellekt zwischen sich und die Gegenstände setzt.
Elias bemerkt, dass es nicht möglich wäre, einem Hund beizubringen, wütend sein Revier zu verteidigen, wenn kein Rivale im Anmarsch ist. Die Aufforderung an einen Hund: „Stell dir vor, es kommt ein Störenfried und jetzt belle!“, würde nicht klappen. Wenn der Anlass für eine angeborene, artgemäße Reaktion fehlt, bleibt sie aus. Ein Hund, wie alle Tiere, ist verhaftet im Hier und Jetzt.
Dem gegenüber kann ein Kind, das mit seiner Puppe spielt, echte Trauer empfinden, wenn die Puppe krank ist. Ebenso leicht kann es sich im nächsten Augenblick freuen, dass die Puppe wieder gesund ist. Das Kind kann in Fantasiewelten wandeln.
In der Fantasie können Dinge und Vorgänge in beliebige Räume und Zeiten verlegt werden. Mehr noch, aus verschiedenen Symbolen können Fantasiegestalten konstruiert werden wie das Einhorn, der Teufel, die Engel und andere Mythengestalten.
Was ist Bewusstsein?
Diese Frage treibt Philosophen und Psychologen schon seit ewigen Zeiten um. Christliche Theologen machten es sich und uns leicht und sagten, es sei der göttliche Funke.
Die Lösung könnte in der Einsicht liegen, dass die Erfassung des Weltgeschehens durch Symbole eine neue Dimension bekommt, eine fünfte Dimension (Elias). Es sind die Symbole einer Sprachkultur die uns vor unserem geistigen Auge begegnen, deren wir uns bewusst werden. Bewusstsein wäre somit ein kultursprachliches Phänomen. Bewusst, im Sinne von reflektierbar, darüber nachdenken können, wird nur das, was über jene kortikalen „Umspannwerke“ läuft, die kultursprachliche Einträge verarbeiten.
„In der Tat bleibt den Angehörigen einer Sprachgemeinschaft alles das unbekannt, was in ihrer Sprache nicht (laut-) symbolisch repräsentiert ist; Sie können darüber nicht miteinander kommunizieren“ (9).
Dass wir über uns nachdenken können, uns von uns selbst distanzierend, ist unserer Sprache zu danken. Bewusstsein ist Bewegung in der fünften Dimension.
Wenn man sich aus dem Hineingeworfensein in das Hier und Jetzt befreien kann, tun sich neue Welten auf. Erinnerungen an Vergangenes, Vorstellungen über Fernes, Fantasien über Zukünftiges werden möglich. Diese Freiheit hat die Verfügbarkeit von Lautsymbolfigurationen zur Voraussetzung, denn erinnern, planen, glauben, fantasieren ist stimmloses Sprechen, wobei einmal erfasste Gedankengänge nicht jedes Mal Stück für Stück neu gedacht werden müssen, sondern abgerufen werden können, ähnlich wie man eine Zeitungsüberschrift mit einem Blick überfliegt und nicht Buchstabe für Buchstabe entziffern muss — es sei denn, man ist Legastheniker.
Das duale System menschlicher Kommunikation
Die ältere Hirnforschung neigte zu der Ansicht, dass es im Gehirn mehr oder weniger abgegrenzte Bereiche gäbe, denen verschiedene Funktionen zukämen. Es gäbe ein Areal für Sprache, benannt nach den Forschern Paul Broca und Carl Wernicke; Areale, in denen Sinnesempfindungen verarbeitet werden; eine Hirnpartie (Amygdala), aus der Gefühle, Emotionen, Affekte gespeist werden und so weiter.
Jüngere neurologische Forschungen scheinen zu belegen, dass das Ausmaß der Vernetzung des gesamten „Apparates“ unterschätzt wurde. Laienhaft ausgedrückt könnte man sagen, dass das Gehirn eine multifunktionelle Maschine ist, in der alles mit allem zusammenhängt, reagiert und kommuniziert.
Andererseits widersprechen neuere Erkenntnisse über die Physiologie des Gehirns herkömmlichen psychologischen Auffassungen:
Situationsgefärbte Erregungsspitzen unseres Seelenlebens nennen wir Liebe, Hass, Eifersucht, Trauer, Freude, Neid, Wut, Angst, oder Mitleid, um nur einige zu nennen. Sie werden auf einer höheren Synthese-Ebene als Gefühle bezeichnet, oder akademischer ausgedrückt, als Emotionen oder Affekte. In all diesen Begriffen erstarren psychische Prozesse zu autonomen Subjekten: — der Liebe, dem Hass und so weiter. (In Dramen der Barockzeit wurden sie als Personen dargestellt.) Diese prägen das Denken, denn die Züge der Gedanken folgen den Geleisen der Sprache.
Mit der Fähigkeit zur Reflexion wächst auch die Fähigkeit zur kulturell gebotenen Affektbeherrschung. In einer Jugendbande mag so etwas wie ein Urzustand herrschen und der Stärkste weist, wie bei einem Wolfsrudel, die anderen in ihre Schranken. Kulturen erfordern ein differenzierteres Affektmanagement.
Aus dieser Warte wird die Rückkehr in den Urzustand zur Auffälligkeit, wenn jemand zum Beispiel „ganz von Sinnen“ vor Wut oder Angst ist, während das eigentlich Auffällige, die Affektreduktion, als das Normale erscheint. So entsteht die Vorstellung, dass Affekte/Emotionen/Gefühle zusätzliche Dimensionen oder Potenzen unseres Seelenlebens seien, obwohl dem die Erfahrung widerspricht, denn es bedarf zwar einer mentalen Anstrengung Liebe, Hass oder Eifersucht zu unterdrücken, nicht aber diese Gefühle zu haben.
Das war der Grund, weshalb die ältere Hirnforschung nach einem Zentrum oder einer Quelle für Gefühle suchte. Tatsächlich zeigt die jüngere neurologische Forschung ein etwas anderes Bild. Danach sind Affekte keine zusätzlichen Attribute, die zugeschaltet werden, sondern eine immanente Eigenschaft aller psychischen Phänomene, also auch eine Eigenschaft der Wahrnehmung oder der Erkenntnis oder des Glaubens.
In der amerikanischen Literatur wird diesbezüglich von core affect gesprochen, was man mit Basiserregung oder Primäraffekt übersetzen könnte. Diese Theorie kann erklären, weshalb ursprachliche Signale eine affektive Ladung haben und beim Empfänger eine entsprechende Resonanz auslösen, egal ob es ein Lächeln oder eine abweisende Mundwinkelstellung, eine herrische Geste oder ein eingezogener Buckel, ein angewidertes Zischen oder ein lauter Lacher ist.
Ursprachliche Signale scheinen bisweilen noch die Vitalität einer stammesgeschichtlichen Epoche zu haben, der kulturbedingte Affektreduktion fremd war. Einem schallenden Gelächter kann man schwer widerstehen, selbst wenn man gar nicht weiß, worum es geht. Dasselbe gilt für wehklagende Trauer.
Die ursprachlichen Signale sind raum- und zeitgebunden. (Pantomime spielt in der Gegenwart.) Das kultursprachliche Instrumentarium, das die Raum- und Zeitbindung überwindet, ist dem alten System weit überlegen und wurde gleichsam zum Wortführer im dualen System der menschlichen Kommunikation.
Damit ändert sich die Funktion der ursprachlichen Signale. Variationen in Mimik und Gestik sowie in Tonhöhe, Lautstärke, Melodie, Rhythmus und Betonung dienen nun als parallele Signalebene, die der verbalen Mitteilung eine persönliche Note verleiht.
Durch die ursprachlichen Signale bringt der Sprecher seine Individualität mit ein und offenbart seine affektive Konfiguration, vielleicht sogar ungewollt, wie wir an dem Beispiel von Nivel sehen konnten. Das heißt, es werden nicht nur Inhalte, sondern auch Affekte kommuniziert. Erst beide Seiten zusammen ergeben ein Gespräch unter Menschen, machen es lebendig und authentisch.
Der Fluch der Maske
Weil in einer Gesprächssituation nicht nur Inhalte, sondern auch Affekte kommuniziert werden, ist das individuelle Moment einer Mitteilung von immenser Bedeutung für eine Zuhörerschaft, besonders für eine jüngere. Wenn die Maske die Mimik verdeckt, fehlt eine wesentliche Orientierungsquelle, die gerade für Kinder von größter Bedeutung ist.
Eine sympathische Verbindung zur Lehrperson ist ein wesentlicher Faktor für den Lernerfolg. Je stärker eine Situation ein affektives Engagement auslöst, desto eher werden Informationen im Gedächtnis gespeichert und desto lebhafter werden sie später erinnert. Was die Pädagogik intuitiv schon lange weiß, wird durch neuere Hirnforschungen bestätigt.
Durch den oben angesprochenen Primäraffekt wird schon vor der Bewusstwerdung die Aufmerksamkeitsverteilung moderiert. Der Affekt wirkt als Filter, welche Sinnesreize das Bewusstsein erreichen.
Durch den Primäraffekt bekommt die Wahrnehmung eine subjektive Qualität und gewinnt persönliche Bedeutsamkeit. Die Überzeugungskraft einer Erinnerung wurzelt in ihrer affektiven Ladung. Psychiatriepatienten, die eine Störung in diesem Bereich haben, wissen zwar, dass sie jemanden kennen, haben aber bei einer Begegnung nicht das emotionale Erlebnis des Wiedererkennens.
Das amerikanische Forscherteam Seth Duncan und Lisa Feldmann-Barett berichtet, dass dort, wo die höchsten affektiven Ladungen zu finden sind, auch die festesten Überzeugungen vorherrschen, selbst dann, wenn das Gegenteil evident ist. Die stärksten affektiven Ladungen fanden sie in jenen Themenbereichen, in denen es um metaphysische Fragen ging. Daher sei religiöser Fanatismus am allerwenigsten für Gegenargumente zugänglich (10). Man wird hinzufügen dürfen, dass dies auch für politische Themenbereiche zu gelten scheint.
Diese etwas detailliertere Einlassung auf jüngere neurologische Forschungsergebnisse sollte deutlich machen, welch immense Bedeutung der affektive Faktor für Wahrnehmen, Erinnern, Wissen und Glauben hat. In Hinblick darauf sind Masken für den Schulerfolg kontraproduktiv, denn sie reduzieren den affektiven Part der Kommunikation.
Nicht nur für das Lehrer-Schüler-Verhältnis könnte das Maskenregime bei längerer Dauer problematisch sein, sondern auch für die Klassengemeinschaft selbst. Diese wird durch die Maske in einem empfindlichen Punkt getroffen. Die Rückkoppelung gegenseitiger Akzeptanz und Sympathie wird deutlich erschwert. Aber gerade das ist es, was eine Klassengemeinschaft zusammenhält.
Ein Eingriff in das affektive Gleichgewicht einer Klassengemeinschaft, wie er durch die Maske erfolgt, ist keine harmlose Angelegenheit. Alles dies wäre einer breit angelegten Untersuchung wohl wert.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Joe Navarro, Menschen lesen — Ein FBI-Agent erklärt, wie man Körpersprache entschlüsselt, München 2010, Seite 17 folgende.
(2) Jacques Lusseyran, Das wiedergefundene Licht, Frankfurt am Main 1981, Seite 173 folgende.
(3) Steven Mithen, The Singing Neanderthals, London 2005, Seite 157.
(4) Frans de Waal, Der Affe in uns, München 2009, Seite 300 folgende.
(5) Frans de Waal, Seite 306.
(6) Wichtige Einsichten zu diesem Abschnitt verdankt der Verfasser der Elias'schen Symboltheorie. Norbert Elias, Symboltheorie, Frankfurt am Main 2001.
(7) Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, Gesammelte Schriften, Band VII, Seite 177.
(8) Norbert Elias, Symboltheorie, Seite 86.
(9) Norbert Elias, Symboltheorie, Seite 10.
(10) Seth Duncan and Lisa Feldmann Barett, Affect is a form of cognition: A neurobiological analysis, National Institute of Health, Cogn. Emot.2007 September; 21(6): 1184-1211.