Gerade mit ihren Vergleichen bezüglich der aktuellen Situation kann sich eine Autorin leicht „in die Nesseln setzen“. Angesichts von Julia Freidanks präziser und mitfühlender Darstellung von Opferschicksalen verbietet sich jedoch der Vorwurf, sie wisse überhaupt nicht, wie schlimm diese Periode der deutschen Geschichte gewesen ist. Vielmehr scheint sie sagen zu wollen: Schlimm genug, dass sich überhaupt wieder so viele Parallelen zwischen damals und heute zeigen. Die Autorin beleuchtet im Rahmen einer spannenden Handlung die Psychologie der Ausgegrenzten wie auch der Ausgrenzer und Konformisten.
Julia Freidank stellte die Trilogie unter den Titel „Das Brauhaus an der Isar.“ Vor „Das Vermächtnis“ waren schon Band 1, „Spiel des Schicksals“, und Band 2, „Im Sturm der Zeit“, veröffentlicht worden. Im Mittelpunkt steht jeweils ein Frauenschicksal, an dessen Beispiel sich die Ereignisse der „großen“ Politik und der Kulturgeschichte spiegeln. Die Epochen, die in der Trilogie durchwandert werden, sind Wilhelminismus, Weimarer Republik und Drittes Reich, wodurch das Konzept an ernsthafte Fernsehunterhaltung in der Art von „Charité“ oder „Babylon Berlin“ erinnert. In „Das Vermächtnis“ gerät die junge Lotte Kurowsky, die als Halbjüdin gilt, in die Kriegswirren und verliebt sich in den Wissenschaftler Gero.
Auch das Böse hat in dem Erzählgeflecht seinen Platz. Und es hat einen Namen: Markus.
Anhand des Blockwarts und Denunzianten Markus Sauter zeigt Freidank die Psychologie des „kleinen Mannes“ auf, der in der Diktatur zu einer ungeahnten Machtposition gelangt:
„Es war kein Hass, der ihn antrieb. Im Grunde war ihm Lotte Kurowsky völlig gleichgültig. Aber Verbot war Verbot. Verbote durchzusetzen gab ihm ein Gefühl von Macht, das er seit dem Ende des Reichs schmerzlich vermisste.“
Sogar unmittelbar vor seinem schmählichen Tod bekennt sich Sauter zur Partei und zum ehernen Gesetz von Befehl und Gehorsam:
„Aber gleichzeitig fühlte er sich plötzlich so stark. So wie damals, als er noch die Uniform der SS getragen hatte. Zuversichtlich, einer Gruppe Auserwählter anzugehören, der es bestimmt war zu herrschen. Er, der einfache Bursche, hatte sich die Teilhabe an der Herrlichkeit durch bedingungslose Nibelungentreue erarbeitet. Das Einzige, was er hatte tun müssen, war, Befehle zu befolgen. Ohne zu fragen, wie eine Maschine. Es war so leicht gewesen. Hatte ihm Ansehen und Geld eingebracht. Die Macht zu entscheiden, was lebenswertes Leben war und was nicht. Gott oder Maschine, es war eins: jenseits des Menschlichen. Sie hätten die Erde befreit von aller Brut. Formlose Masse, die kein Recht hatte auf Besitz, auf Glück, auf Leben. Die man tätowierte, kennzeichnete mit Brandmalen wie Rinder, damit sie nicht entlaufen konnten. An denen man die medizinischen Behandlungen testete, die den Auserwählten dereinst zugutekommen würden. Es war zu ihrem eigenen Besten, auch wenn sie das nicht einsehen mochten. Wozu hätten sie auch sonst getaugt? Der Einzelne war nichts. Selbst das Leben war den Zielen der Partei zu opfern.“
Ganz unten in der Hierarchie der neuen Herren Deutschlands rangierten die Juden. Ihre Tragödie gipfelte zwar bekanntlich in furchtbarem, „industriellem“ Massenmord — aber sie begann mit „kleinen“, alltäglichen Demütigungen und Schikanen.
„Juden wurde alles verboten, was das Leben lebenswert machte: Den Hund hatten sie einer Nachbarin schenken müssen, weil Juden keine Haustiere halten durften. Sie durften nicht Rad fahren, nicht reisen; oft genug verweigerte man ihnen sogar den Zutritt zu Geschäften. Ärzte und Rechtsanwälte verloren ihre Zulassung. Der Ariernachweis war die Eintrittskarte zur Normalität und das J im Ausweis ein Brandmal: der Stacheldraht vor all den kleinen Dingen, die das Leben ausmachten. Arbeit. Freizeit. Glück. Anfangs hatten sie sich geweigert zu glauben, dass es einen Plan gäbe, Juden zu vernichten. Hirngespinste von Verirrten, die überall Verschwörungen witterten. Aber die täglichen Schikanen und Demütigungen hatten eine klare Sprache gesprochen.“
Zu den Menschen, die geistig unabhängig geblieben sind, gehört auch Lottes Freund, der Wissenschaftler Gero, der die Propagandatricks der Nazis genau durchschaut:
„Wenn ihm die irdischen Feinde ausgehen, wird Hitler gegen die Außerirdischen zu Felde ziehen. Oder meinetwegen gegen die Kaninchen. Dann werden wir bald in den Zeitungen lesen, was für furchterregende, brandgefährliche Kreaturen Kaninchen sind. Möhrchen fressen die nur zur Tarnung, wird man uns belehren, denn sind nicht alle Kaninchenbesitzer eines Tages tot? Ein paar Universitätsprofessoren werden bestätigen, dass die Gefährlichkeit von Kaninchen all die Jahrtausende hindurch sträflich unterschätzt wurde, und schon geht es in den nächsten Krieg. Dem famosen Herrn Goebbels würde schon ein Grund einfallen, warum man selbst vor putzigen Nagern Angst haben muss und warum jeder, der diese Gefährlichkeit leugnet, ein Kommunist ist und eingesperrt gehört.“
Nicht mehr indirekt, sondern vollkommen klar, spricht die Autorin im Nachwort ihr Verdammungsurteil gegen jede Art von Diktatur:
„Diktaturen zerstören viel mehr als nur die Freiheit. Sie misshandeln ihre Bürger nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Tatsächlich war es im nationalsozialistischen Deutschland — neben so vielem anderem — auch verboten, Zweifel an einem deutschen Sieg zu äußern oder zu erwähnen, dass Juden systematisch ermordet wurden, kurz: das Offensichtliche auszusprechen. In dem Film Gaslight, 1940, neu verfilmt 1944 als ‚Das Haus der Lady Alquist‘, kristallisiert dieses bedrückende Gefühl. Bis heute versteht man unter ‚Gaslighting‘ eine Manipulationsstrategie: Dem Opfer wird so lange eingeredet, dass seine Eindrücke falsch seien, bis es seiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr traut.
Aber auch anderweitig zerstörte der Nationalsozialismus die Persönlichkeit seiner Bürger: Das Schornsteinfegergesetz erlaubte es, die Unverletzlichkeit der Wohnung auszuhebeln, vor allem, um versteckte Juden, sogenannte ‚U-Boote‘, aufzuspüren. In seiner Sportpalastrede listete Goebbels eine Reihe von Verboten auf — Opfer, die für den Sieg gebracht werden sollten. Der Verzicht auf Friseure gehörte ebenso dazu wie die vegetarischen Tage in Gaststätten und die Schließung von Luxusrestaurants. Schulen und Universitäten in München blieben hingegen trotz der Bombenangriffe bis zum Herbst 1944 geöffnet, die Kinos, die für Propagandazwecke gebraucht wurden, bis zuletzt.
Ebenso Unterwerfungsgeste wie Schikane war der vorgeschriebene Hitlergruß. Ihn zu verweigern konnte ernste Konsequenzen haben: In autoritären Regimes geht es immer um Gehorsam, der durch oft sinnlose Gesten dokumentiert werden muss. Dieses Buch soll auch ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Freiheit untrennbar verknüpft ist mit Menschlichkeit.“
Zum Schluss veröffentlichen wir an dieser Stelle noch das gesamte Vorwort zum Roman „Das Brauhaus an der Isar — das Vermächtnis“:
Wie überlebt man in einer Diktatur? Im Jahr 1944 liegt Süddeutschland in Trümmern. Das Heulen der Sirenen bestimmt den Alltag. Der Qualm erkaltender Brände weht durch die ausgestorbenen Gassen. Blockwarte überwachen die Einhaltung sinnloser Vorschriften. Das Leben in totalitären Staaten bedeutet, ständig gegängelt zu werden.
Selbstverständlichkeiten sind verboten oder gelten gar als Verbrechen: anderer Meinung zu sein, zu reisen, wohin man will. In totalitären Diktaturen ist der Einzelne dem System völlig untergeordnet, bestimmt nicht einmal über den eigenen Körper. Diktaturen führen Krieg gegen die menschliche Natur. Aber die menschliche Natur ist stark. Das Leben ist stark.
Wo die Vordertür schwer bewacht wird, nimmt man eben die Hintertür. Und so begegnete man selbst dem Nationalsozialismus mit Humor — mal mit originellen Witzeleien, mal mit bitterem Sarkasmus. Man wurde kreativ im Austricksen der Bürokratie. Viele arrangierten sich, zu viele. Aber es gab auch Menschen, die im Kleinen mit tausend Nadelstichen zeigten, dass sie sich noch nicht unterworfen hatten. Die jenseits der marschierenden Massen verborgene Nischen fanden, wo sich Kindheit und Jugend nicht um Verbote kümmerten.
Nach dem Ende des Regimes lag Europa in Schutt und Asche. Bettelnde Frauen mit Handkarren, Veteranen und Kriegsversehrte. Schwarz versengte Ruinen, die hohl und mit gesplitterten Fensterhöhlen die Leere im Inneren der Menschen spiegelten, ihre zertrümmerten Träume. Der Krieg hatte den Männern den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Städte, in die sie zurückkehrten, erkannten sie oft kaum wieder — ihre Frauen, ihre Kinder. Die Frauen ihrerseits hatten ihr Leben allein gemeistert und sollten sich nun wieder mit dem Platz am Herd begnügen. Der Wiederaufbau war lang und hart, voller Armut. Aber auch voller Hoffnung.
Hoffnung in einer Welt, von der die wenigsten wussten, wie nahe sie am Abgrund gestanden hatte. Die zunächst verachtete Atomtechnologie sollte den Nationalsozialisten eine „Wunderwaffe“ liefern. Wissenschaftler mussten zusehen, wie ihre Forschung zum Werkzeug der Mörder wurde, oft genug mit Unterstützung gewissenloser Kollegen. Der Weg zurück in den Frieden war für sie vielleicht besonders schwer, denn sie trugen auch die Last von Hiroshima auf ihren Schultern. Und entdeckten die Verantwortung der Wissenschaft.
Für die bayerischen Brauereien bedeuteten die Kriegsjahre und die erste Zeit danach einen Überlebenskampf. Brauverbote, Luftangriffe, Arbeiter, die eingezogen wurden und fielen. Es war auch eine Zeit der Schelme, der Hochstapler. Wer nicht erfinderisch war, verlor alles, andere wurden reich.
Das Oktoberfest, das seit Kriegsbeginn nicht stattgefunden hatte, wurde so zum Symbol der wiedergewonnenen Freiheit. Denn wie nichts anderes verfolgen Gewaltherrscher seit jeher die Freude — weil sie sie fürchten wie nichts anderes. Nie sind Menschen freier, als wenn sie glücklich sind und feiern. Und so wurden die behäbig sich drehende Krinoline und der nostalgische Toboggan auf der Wiesn zu Monumenten der Freiheit. Jeder Tanz, jedes Bierzelt, selbst der Duft nach Steckerlfisch und heißem Zucker war ein Triumph über das Regime. Die Geschichte des fast schon totgesagten Oktoberfests, das aus den Trümmern der Nachkriegszeit neu entstand, erinnert daran, wie kostbar Freiheit ist. Dass es ohne Freiheit keine Menschenwürde gibt. Und ohne Menschenwürde keine Menschlichkeit.
Quellen und Anmerkungen:
Julia Freidank: Das Brauhaus an der Isar: Das Vermächtnis, Rowohlt Taschenbuch, 464 Seiten