Der Investigativreporter Seymour Hersh beschreibt in seinen Memoiren mit dem Titel „Reporter“ einen Moment, in dem er als junger Journalist zufällig mithörte, wie ein Chicagoer Polizist den Mord an einem Afroamerikaner zugab. Der ermordete Mann war von der Polizei fälschlicherweise als Verdächtiger bei einem Überfall dargestellt worden, der erschossen worden sei, als er versucht habe, seiner Verhaftung zu entgehen. In verzweifelter Hektik rief Hersh seinen Redakteur an, um zu fragen, was er tun solle.
„Der Redakteur hielt mich dazu an, nichts zu tun“, schreibt er. „Es stünde mein Wort gegen das all der beteiligten Polizisten, und sie würden mich alle der Lüge bezichtigen. Die Botschaft war klar: Ich hatte keine Story. Doch natürlich hatte ich eine.“ Er beschreibt sich selbst als „voller Verzweiflung angesichts meiner Schwäche und der Schwäche eines Berufsstandes, der mit Kompromissen und Selbstzensur so leichtfertig umging“.
Hersh, der beste Investigativreporter seiner Generation, deckte das Chemiewaffenprogramm des US-Militärs auf, das tausende Soldaten und Freiwillige, darunter Pazifisten der Siebenten-Tags-Adventisten, als menschliche Versuchskaninchen benutzte, um die Auswirkungen biologischer Agenzien wie Tularämie, Gelbfieber, Rifttalfieber und der Pest zu messen.
Er brachte die Geschichte des Massakers von Mỹ Lai ans Licht. Er enthüllte die Abhöraktion Henry Kissingers gegen seine engsten Unterstützer im Nationalen Sicherheitsrat (NSC) sowie gegen Journalisten, die Finanzierung gewalttätiger extremistischer Gruppen durch die CIA zum Sturz des chilenischen Präsidenten Salvador Allende, das Ausspionieren einheimischer Regimekritiker in den USA durch die CIA, die sadistischen Foltermethoden amerikanischer Soldaten und beauftragten Personals im irakischen Abu-Ghraib-Gefängnis, und die Lügen der Obama-Regierung bezüglich des Überfallkommandos, das Osama Bin Laden tötete.
Doch er beginnt seine Memoiren mit dem — jedem Reporter vertrauten — aufrichtigen Geständnis, dass es von den Mächtigen verübte Verbrechen und Ereignisse gibt, über die man nie schreibt, jedenfalls nicht, wenn man seinen Job behalten will. In seinem Buch beklagt er unter anderem seine Entscheidung, einem Bericht nicht nachzugehen, den er erhalten hatte und der Präsident Richard Nixon beschuldigte, seine Frau Pat geschlagen zu haben, sodass sie in einer Notaufnahme in Kalifornien landete.
Verfolgung der Gewissenhaften
Reporter, die gemeinsam mit Militäreinheiten in den Irak und nach Afghanistan reisen, werden regelmäßig Zeugen von Gräueltaten und oft auch von Kriegsverbrechen, die das US-Militär verübt, doch sie wissen, dass ihr Zugang von ihrem Schweigen abhängt. Diese geheime Übereinkunft zwischen der Presse und den Mächtigen ist ein grundlegender Bestandteil des Journalismus, einer, den selbst jemand so Mutiges wie Hersh zumindest ein paar Mal zu akzeptieren gezwungen war.
Und doch kommt der Moment, in dem Journalisten — jedenfalls die guten — sich entscheiden, ihre Karrieren der Wahrheit zu opfern. Hersh, der die Verbrechen des späten Imperiums unerbittlich aufzeichnete, darunter die weitverbreitete Anwendung von Folter, willkürliche Militärangriffe auf Zivilisten sowie gezielte Ermordungen, wurde aus diesem Grund praktisch auf die schwarze Liste der amerikanischen Medien gesetzt. Und der Verlust seiner Stimme — er arbeitete für die New York Times und später für den New Yorker — ist ein Beweis dafür, dass die Presse, die schon immer ihre Fehler hatte, nun durch die Macht der Unternehmen kastriert wird.
Hershs Memoiren erzählen ebenso viel von seiner bemerkenswerten Karriere wie vom Tod des Investigativjournalismus und der Verwandlung von Nachrichten in eine nationale Reality-TV-Show, die von Gerüchten, Beschimpfungen, offiziell genehmigten Narrativen und Enthüllungen sowie Unterhaltung lebt.
Investigativer Journalismus ist nicht nur abhängig von Reportern wie Hersh, sondern genauso maßgeblich von Männern und Frauen innerhalb der Macht-Systeme, die den Mut haben, Lügen aufzudecken und Verbrechen an die Öffentlichkeit zu bringen. Jede Institution, wie ruchlos ihr Handeln auch sein mag, als Ansammlung Unverbesserlicher abzuschreiben, ist ein Fehler.
„Es gibt viele Offiziere, darunter Generäle und Admirale, die verstanden haben, dass der von ihnen geleistete Amtseid eine Verpflichtung dazu ist, die Verfassung hochzuhalten und zu verteidigen, nicht den Präsidenten oder einen direkten Vorgesetzten“, schreibt Hersh. „Sie verdienen und haben meinen Respekt. Sie wollen ein guter Militärreporter sein? Dann spüren Sie diese Offiziere auf.“ Einer der Helden in Hershs Buch ist Ron Ridenhour, der in einer Kampfeinheit in Vietnam diente und die militärische Untersuchung des Massakers von Mỹ Lai anführte, und der Hersh großzügig half, Augenzeugen und Beteiligte aufzuspüren.
Die umfassende Überwachung durch die Regierung hat jedoch die Fähigkeit der Menschen mit Gewissen — wie etwa Chelsea Manning oder Edward Snowden — blockiert, Staatsverbrechen zu enthüllen und dabei unentdeckt zu bleiben. Die Obama-Regierung klagte unter dem Spionagegesetz acht Menschen der Informationsweitergabe an die Medien an — Thomas Drake, Shamai Leibowitz, Stephen Kim, Chelsea Manning, Donald Sachtleben, Jeffrey Sterling, John Kiriakou und Edward Snowden — und kappte so im Grunde die entscheidende Verbindung zwischen Investigativreportern und Quellen innerhalb der Regierung.
Diese Verfolgung durch die Regierung hat die Enthüllung von Regierungslügen, Betrug und Verbrechen mangels Alternative den Hackern überlassen. Und dies ist der Grund dafür, dass Hacker und jene, die deren Material veröffentlichen — wie Julian Assange auf WikiLeaks — schonungslos verfolgt werden. Das Ziel des von Unternehmensinteressen gelenkten Staates ist die hermetische Abschirmung seiner Aktivitäten, besonders jener, die das Gesetz verletzen, vor der Aufsicht oder Beobachtung von außen. Und dieses Ziel ist sehr weit gediehen.
Aufdeckung des Massakers von Mỹ Lai
Hersh bemerkt in seinen Memoiren, dass er — wie alle guten Reporter — einen fortwährenden Kampf gegen seine Redakteure und Kollegen sowie gegen die Regierung und Unternehmen führte. Es gibt eine Spezies von Reportern, die in den meisten Kabelfernsehprogrammen und in den Etagen der Nachrichtenredaktionen von Zeitungen wie der New York Times zu finden sind und die ihren Lebensunterhalt als Hofstaat der Mächtigen bestreiten. Sie kritisieren von Zeit zu Zeit die Exzesse der Macht, doch nie die Werte der Machtsysteme, darunter den Unternehmenskapitalismus oder die Motivationen der herrschenden Eliten. Sie verachten Reporter wie Hersh, deren Berichte ihre geheimen Absprachen enthüllen.
Das Bertrand-Russell-Kriegsverbrechen-Tribunal wurde 1967 während des Vietnamkriegs in Europa abgehalten. Dabei wurden auch die Aussagen dreier amerikanischer Soldaten gehört, die berichteten, wie sie Soldaten und Marineinfanteristen dabei beobachtet hatten, wie sie Dörfer regelmäßig willkürlich mit Munition beschossen, ohne Rücksicht auf zivile Opfer.
Der Großteil der amerikanischen Presse wies die Ergebnisse des Tribunals zurück. Der Kolumnist für Außenpolitik bei der Times, C.L. Sulzberger, veröffentlichte einen giftigen Angriff gegen den mit einem Nobelpreis ausgezeichneten Philosophen und Mathematiker Russell, der zu diesem Zeitpunkt 94 Jahre alt war. Sulzberger, ein Mitglied der Familie, der die Zeitung gehört, schrieb, Russell „hat seine bewusste Idee überlebt und ist zu Ton in skrupellosen Händen geworden.“ Das Tribunal, fuhr Sulzberger fort, „kann der Verantwortung dieses ausgedienten Aristokraten nicht angemessen zugeschrieben werden, dessen körperliches Durchhaltevermögen das seines Gehirns bereits überdauert hat.“
Hersh jedoch, alarmiert durch die Zeugenaussagen während des Tribunals, deckte schließlich das Massaker von Mỹ Lai auf. Doch keine Zeitung wollte die Story annehmen. Magazine wie Life und Look lehnten sie ab. „Ich war am Boden zerstört, und mich schreckte das Ausmaß an Selbstzensur, dem ich in meinem Beruf begegnete“, schreibt Hersh.
Letztendlich veröffentlichte er die Story bei der obskuren Antikriegs-Nachrichtenagentur Dispatch News Service. Die großen Blätter, darunter die New York Times, ebenso wie Newsweek und Time, ignorierten den Bericht. Hersh grub tiefer. Weitere entsetzliche Details über das Massaker kamen ans Licht. Die Sache wurde zu groß, um sie abzuweisen, so sehr die Mainstream-Medien dies anfangs auch versucht hatten, und Hersh bekam 1970 den Pulitzer-Preis für Auslandsberichterstattung. Der einzige Offizier, der für das Massaker — bei dem 106 Männer, Frauen und Kinder zu Tode kamen — verurteilt wurde, war Lt. William Calley, der drei Monate und dreizehn Tage im Gefängnis verbrachte.
Zugang zu den Mächtigen
Zeitungen wie die New York Times brüsten sich mit ihrem exklusiven Zugang zu den Mächtigen, selbst wenn dieser Zugang sie zu einer PR-Abteilung der Eliten macht. Dieses Verlangen nach Zugang — welcher den Nachrichtenorganisationen ihrem Gefühl nach Prestige verleiht und einen Platz im innersten Kreis verschafft, obwohl die Informationen, mit denen sie gefüttert werden, üblicherweise aus Lügen und Halbwahrheiten bestehen — spielt gewissenhafte Berichterstatter wie Hersh gegen die meisten Redakteure und Reporter in den Nachrichtenredaktionen aus. Hersh, der zu diesem Zeitpunkt für die Times arbeitete, erzählt, dass er einem anderen Reporter, Bernard Gwertzman, gegenübersaß, der für die Berichte über Henry Kissinger und den NSC zuständig war.
„Es gab ein beinahe tägliches Ritual mit Bernie, das mich verblüffte“, schreibt Hersh.
„An viel zu vielen Nachmittagen gegen fünf Uhr kam Max Frankels Sekretär zu Bernie, um ihm zu sagen, dass Max — der Washingtoner Büroleiter der Times — in diesem Moment mit ‚Henry‘ telefonierte und dass der Anruf gleich zu ihm weitergeleitet werden würde. Wie zu erwarten würde es nur ein paar Augenblicke dauern, bis Bernie begann, sich eifrig Notizen zu machen, während er Kissinger zuhörte — er hörte wesentlich mehr zu, als dass er sprach — und das Ergebnis war eine Story über Außenpolitik, die ausnahmslos den Leitartikel am nächsten Morgen stellte, gespickt mit Zitaten von einem unbenannten höheren Regierungsbeamten.
Nachdem ich diesen Vorgang ein oder zwei Wochen beobachtet hatte, fragte ich den stets freundlichen und geradlinigen Bernie, ob er das, was Henry ihm erzählte, je mit Bill Rogers, dem Außenminister, oder mit Mel Laird im Pentagon gegenprüfte. ‚Aber nein‘, antwortete er. ‚Wenn ich das täte, würde Henry nicht mit uns sprechen.‘“
Die Washington Post veröffentlichte die Story des Watergate-Skandals, bei dem Agenten des Weißen Hauses unter Nixon in die Zentrale des Democratic National Committee im Washingtoner Watergate-Bürokomplex einbrachen, als Hersh für die Times arbeitete. Kissingers Zusicherungen — Hersh schreibt, dass Kissinger „log wie andere Leute atmeten“ —, dass es sich um kein folgenreiches Ereignis handele, führte dazu, dass die leitenden Redakteure bei der New York Times es zunächst ignorierten. Doch die Zeitung, schließlich durch die Enthüllungen in der Washington Post in Verlegenheit gebracht, setzte Hersh auf die Story an, obwohl der Chefredakteur Abe Rosenthal Hersh mit einer Mischung aus Zuneigung und Skepsis „meinen kleinen Kommunisten“ nannte.
Verbannung der Wahrheit
Hersh verließ die Zeitung, nachdem ein massiver Enthüllungsbericht, den er und Jeff Gerth über den Konzern Gulf and Western verfasst hatten, welcher Betrug, Missbrauch und Steuerhinterziehung verübte und Verbindungen zur Mafia hatte, von zaghaften und ängstlichen Redakteuren umgeschrieben worden war. Charles Bluhdorn, der Geschäftsführer von Gulf and Western, verkehrte mit dem Verleger Arthur „Punch“ Sulzberger. Bluhdorn nutzte seine Verbindung mit der Times, um Hersh und Gerth zu diskreditieren und die Zeitung mit anklagenden Briefen und Drohanrufen zu bombardieren.
Als Hersh seinen 15.000-Wörter-Enthüllungsbericht einreichte, wurde dieser vom Wirtschaftsredakteur John Lee und dessen „arschkriecherischem Klüngel schwachsinniger Redakteure“, vielleicht in der Angst vor einer Anklage, abgeschwächt. Es war eine Sache, wie Hersh feststellte, es mit einer öffentlichen Institution aufzunehmen. Es war eine andere, es mit einer privaten Institution aufzunehmen. Er würde nie wieder regelmäßig für eine Zeitung arbeiten. „Diese Erfahrung war frustrierend und entnervend“, schreibt er.
„Über das Amerika der Konzerne zu berichten, hatte meine Energie aufgezehrt, die Redakteure enttäuscht und mich entmutigt. Dem Amerika der Konzerne würde kein Einhalt geboten werden, fürchtete ich:
Die Gier hatte gesiegt.
Der hässliche Kampf mit Gulf and Western hatte die Verleger und Redakteure so sehr aus dem Konzept gebracht, dass es den für die Wirtschaftsseiten verantwortlichen Redakteuren erlaubt wurde, die gute Arbeit, die Jeff und ich gemacht hatten, zu verfälschen und zu untergraben. [...] Der Mut, den die Times gezeigt hatte, als sie dem Zorn eines Präsidenten und eines Generalstaatsanwaltes während der Krise über die Pentagon Papers im Jahr 1971 trotzte, war verschwunden, als sie einer Meute von Konzernunternehmern gegenüberstand.“
Hershs Berichterstattung enthüllte jedoch weiterhin schonungslos die Verfälschungen in den offiziellen Narrativen. Ein Geheimdienstbeamter der Marine, Jonathan Pollard, war 1985 beispielsweise beim Spionieren für Israel erwischt und zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Hersh fand heraus, dass Pollard vornehmlich Dokumente über die Spionageaktivitäten der USA gegenüber der Sowjetunion stahl. Die israelische Regierung, so vermutete Hersh, „gab Pollards Informationen an Moskau weiter, im Austausch gegen die Ausreise sowjetischer Juden mit Kompetenzen und Fachkenntnissen, die Israel brauchte“. Pollard wurde, auf starken Druck vonseiten Israels, 2015 freigelassen und lebt nun dort.
Der spätere Teil von Hershs Karriere ist der erschütterndste. Er schrieb für den New Yorker, als Barack Obama zum Präsidenten gewählt wurde. David Remnick, der Chefredakteur des Magazins, verkehrte mit Obama und scheute sich offenbar davor, den Präsidenten zu verärgern. Als Hersh das fiktive Narrativ, das die Obama-Regierung um die Ermordung Bin Ladens gesponnen hatte, aufdeckte, ließ das Magazin die Story fallen und veröffentlichte stattdessen einen Bericht über den Überfall, der von der Regierung zur Verfügung gestellt worden war und aus der Perspektive eines der Mitglieder der Spezialeinsatzkräfte geschrieben war, das an der Mission teilgenommen hatte.
Hersh kündigte. Er veröffentlichte seinen Bericht über den Überfall in der London Review of Books, der Beginn seines derzeitigen Exils in ausländischen Publikationen.
Gerade jetzt, wo wir Hersh und gute Investigativjournalisten wie ihn am dringendsten brauchen, sind sie fast alle verschwunden. Eine Demokratie toleriert sie im besten Fall. Eine gescheiterte Demokratie wie die unsere verbannt sie und sobald sie dies tut, tötet sie ihre Presse.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Banishing Truth “. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.