Jenseits aller Tränen
Was heute auf der Erde geschieht, ist zu schlimm, zu bodenlos grausam, um es ertragen zu können. Das Einzige, was uns schützt, ist der Abstand. Könnten wir aus der Nähe erleben, was Menschen einander antun, was sie sich seit Tausenden von Jahren angetan haben, was sich heute auf globaler Ebene überall wiederholt, wir wären aller Hoffnungen beraubt. Syrien, die Bomben, der „Islamische Staat“, die heimatlosen Kinder, die Methoden von Konzernen, Regierungen und Geheimdiensten: Die Spirale von Macht und Vernichtung hat einen globalen Höhepunkt erreicht. Die Welt befindet sich in einer globalen Katastrophe.
Das gegenwärtige Flüchtlingsthema ist nicht nur ein Thema der Flüchtlinge, sondern ein Thema der ganzen Menschheit. Viele Mitarbeiter von Tamera waren in der Flüchtlingshilfe aktiv, in Lesbos, Idomeni und anderen Orten. Sie haben vor Ort gesehen, was mit den Flüchtlingen geschieht. Sie haben aber auch gesehen, wie viele Menschen mit liebendem Herzen zu Hilfe kamen.
Wie viele helfende Menschen sind schon unterwegs gewesen, haben Hungernde gespeist, Flüchtenden Unterkunft gewährt, Kinder aus den Flammen gerettet, haben — oft unter Einsatz ihres Lebens — Informationen geliefert über die politischen Hintergründe der globalisierten Grausamkeit! Doch ebendiese Grausamkeit konnte nicht mehr gestoppt werden. Wenn wir alles betrachten, haben wir nur zwei Möglichkeiten: entweder wegzuschauen und zu resignieren — oder die Ursachen des kollektiven Dramas zu erkennen und eine andere Welt aufzubauen. Wie es Etty Hillesum, eine holländische Jüdin, kurz vor ihrem Tod im Konzentrationslager Auschwitz in ihr Tagebuch geschrieben hat:
„Das Elend ist wirklich groß, und dennoch laufe ich oft am Abend, wenn der Tag hinter mir in der Tiefe versunken ist, mit federnden Schritten am Stacheldraht entlang, und dann quillt es mir immer wieder aus dem Herzen herauf — ich kann nichts dafür, es ist nun einmal so, es ist von elementarer Gewalt: Das Leben ist etwas Herrliches und Großes, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen — und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen.“
Sexualität und Gewalt
Die Liebe ist der archimedische Punkt des Lebens — also der Punkt, von dem Archimedes sagte, durch ihn könne man die Welt aus den Angeln heben. Wie kann man so etwas sagen in einer Welt, die von Hass und Gewalt geprägt ist?
Gerade deshalb soll es gesagt werden. Hass und Gewalt können nur so lange bestehen, wie die Quellen eines angstfreien Lebens — Vertrauen und Liebe — versiegt sind. Nichts ist grausamer als betrogene Liebe. Die Biografien junger Sexualmörder oder die Biografien historischer Despoten offenbaren ganz tief den Zusammenhang von betrogener Liebe — oft schon im Elternhaus — und Gewalt. Auf der anderen Seite der ebenso sichere Zusammenhang von verwirklichter Liebe und Güte, Humanität, Parteinahme für das Leben. Könnte ein Junge, der eben ein Mädchen geliebt hat, ein Kaninchen töten?
Kein IS-Kämpfer würde einen Menschen töten, wenn er in einer Welt der Liebe aufgewachsen wäre.
So etwas muss man wissen. Bitte lest die Lebensgeschichten, die Alice Miller über die Despoten des 20. Jahrhunderts geschrieben hat. Sie wären wahrscheinlich keine Despoten geworden, wenn ihr Leben nicht schon früh durch Ablehnung und Hass verdunkelt worden wäre.
Jürgen Bartsch ist einer der bekanntesten Sexualmörder in der deutschen Kriminalgeschichte. Er war kaum 16 Jahre alt, als er nacheinander vier Jugendliche in eine Höhle führte und dort bestialisch ermordete. Man bat mich damals (1968), darüber ein forensisches Gutachten zu schreiben. Ich schrieb daraufhin einen längeren Text mit dem Titel „Jürgen Bartsch in uns“. Es war nicht mehr nur das Psychogramm eines einzelnen Sexualmörders, sondern das Psychogramm einer ganzen Gesellschaft, die solche sadistischen Exzesse hervorbrachte.
Es handelt sich um eine Struktur, die in der Mehrheit der männlichen — teilweise auch der weiblichen — Bevölkerung angelegt ist und meistens auf unauffällige Emotionen und Fantasien beschränkt bleibt: die Struktur des Sadomasochismus. In den Tiefengesprächen meiner früheren psychoanalytischen Praxis und der später folgenden Gruppen und Gemeinschaften tauchte immer wieder dieses Thema auf. Es war mir nicht fremd, denn ich kannte es ja von mir selbst, aus meinen eigenen Onaniefantasien in der Pubertät und danach. Auch später noch, als ich längst erwachsen war, habe ich manchmal heimlich solche Bilder benutzt, um mit einer Frau den sexuellen Höhepunkt zu erreichen. Im Laufe der weiteren sexuellen Entwicklung und Erfahrung sind sie dann von selbst verschwunden.
Vielleicht ist dies wichtig für alle, die von ihren Fantasien nicht loskommen: Sie lösen sich meistens von selber auf, wenn man die Möglichkeit hat, in vertrauensvollem Kontakt mit Partnern oder Partnerinnen die gestauten Energien zu reinigen. Das beste Mittel dafür ist die Liebe. Wo sexuelle und seelische Liebe besteht, hat die Gewalt keinen Sinn und keine Resonanz mehr.
Angeregt durch meine eigenen Fantasien und die Heilungsarbeiten mit anderen wusste ich für immer, was da im Menschen angelegt ist und wozu Menschen fähig sind, wenn sie — zum Beispiel im Krieg — in eine Situation kommen, in der alle Dämme brechen. Die bisherige Geschichte des Menschen ist eine Kriegsgeschichte, und die Kriegsgeschichte war zu allen Zeiten eine Geschichte grenzenloser sexueller Gewalt. Als die Russen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in Berlin eindrangen, wurden dort schätzungsweise 90.000 Frauen vergewaltigt. Dies aber war keineswegs eine Eigentümlichkeit der Russen. Was haben brave Soldaten der deutschen Wehrmacht in den griechischen Dörfern gemacht?
Der Zweite Weltkrieg ist offiziell zu Ende, nicht aber die sexuelle Gewalt. Es ist nicht zu fassen, was da in bürgerlichen Kreisen geschieht und sich unentwegt ausbreitet: Kinderpornografie, angeboten in weltweiten Netzwerken mit Anschluss an die besten und anerkanntesten Adressen der bürgerlichen Gesellschaft! Und vieles, vieles mehr ... Würde man im Rahmen einer gründlichen Razzia alle sexuellen Straftäter ins Gefängnis stecken, so säße die halbe Menschheit im Gefängnis.
Fassen wir zusammen: Ein globales Thema unserer Zeit ist die sexuelle Gewalt. Sie reicht von internationalem Kindesmissbrauch, Mädchenhandel, sadomasochistischen Privatbunkern bis zu den Methoden von Geheimdiensten oder dem Islamischem Staat. Im Grunde findet sie in fast jeder zivilisierten Gesellschaft statt, auch in Tausenden Ehen und Familien.
Ein Kernthema aufgeklärter Friedens- und Heilungsarbeit ist die Auflösung der sexuellen Gewalt und die Humanisierung unserer animalischen Begierden. Humanisierung bedeutet nicht Verdrängung, sondern Offenbarung und Bejahung in einem vertrauenden Kontakt.
Vertrauen, wenn man sich der Wollust hingeben möchte! Fast jede Frau kommt dabei an einen unterbewussten Katastrophenhorizont, eingefleischt durch das grausame Schwert, welches die Religionen gegen die Fleischeslust gerichtet haben.
Sex — das ist der intimste, verleugnetste und unzähmbarste Bereich unserer virtuellen Innenwelt. Ein Bereich, der jederzeit aufbrechen kann und dann zu den grausamen Perversionen führt, welche heute weltweit in allen gesellschaftlichen Schichten üblich sind. Dabei könnte die sexuelle Liebe das tiefste Glück des Lebens sein! Und auch eine tiefe Quelle für Offenbarung und Heilung. Wir Menschen müssen im Namen der Wahrheit und der Liebe diese Quelle erschließen, sie öffnen und von allen Gemeinheiten befreien. Dies ist eine Bedingung für die Entwicklung einer liebenden Kultur.
Irregeführt durch die Gewalt und Verdrängung von Jahrtausenden, haben wir an zwei Punkten unserer menschlichen Existenz eine tiefe Realitätsverweigerung betrieben: am Punkt der Sexualität und am Punkt der Religion. Dadurch ist ein Kulturkanon entstanden, der uns bis heute eisern im Griff hielt, basierend auf dem Tabu der Sexualität und dem Tabu der göttlichen Offenbarung. Über beide Bereiche kann bis heute kaum gesprochen werden. Um aber den Vorgang der globalen Feldbildung im gewünschten Sinne einleiten zu können, sind wir gerufen, beide Tabus zu erkennen und aufzulösen.
Die hier gemeinte Auflösung geschieht nicht durch explosive Emotion oder dogmatische Gewalt, sondern durch die in realem Vertrauen unter Menschen wachsende Erkenntnis. Insofern ist das reale Vertrauen eine unumgängliche Voraussetzung unserer weiteren Evolution.
Die animalische Schicht des sexuellen Leibes liegt bis heute unter tiefen Schamgrenzen versteckt. Es geht dabei um die hemmungslose Hingabe des Fleisches, das leidenschaftliche „Nimm mich“ und die ins Amoralische gehende Selbstvergessenheit zweier in realer Wollust vereinter Leiber. Es ist die tiefste Schicht des leiblichen und weiblichen Eros. Hier liegen die Hintergründe von allen Varianten des Sadomasochismus.
Weil sich die Geschlechter auf dieser Schicht ihrer Begierde nie wirklich zeigen durften, hat diese elementarste Stufe der Sexualität im Laufe der Geschichte schreckliche, gewalttätige Verfälschungen erlitten. Einem biblischen Fluch unterworfen — in der Geschichte vom Sündenfall —, ist die sexuelle Fleischeslust in der patriarchalen Epoche am meisten zerstört, verflucht, bestraft, verdrängt und ignoriert worden. Siehe die Arbeiten von Barry Long und Clarissa Estés. Wenn das Trauma dieser Schicht aufgelöst wird, beginnt für die Frau eine neue Epoche und auch für den Mann. Der sexuelle Leib ist eine Urquelle des weiblichen Lebens und für den Mann das größte Geschenk, das die Natur ihm machen konnte.
Sexualität ist eine Weltmacht
Sexualität war und ist das Thema Nummer eins. Die sexuelle Sehnsucht ist bei beiden Geschlechtern gleichermaßen vorhanden. Sie wollen beide „nur“ das Eine, so wahr sie Menschen sind und eine Seele in sich haben. Peggy Parnass hat sich dazu bekannt, und Erica Jong ist um die halbe Welt gefahren auf der Suche nach dem einen großen Erlebnis, das sie „Spontanfick“ nannte (in ihrem Buch „Angst vor dem Fliegen“). Wir danken ihr für ihre Schönheit und Ehrlichkeit.
Sexualität beherrscht die Menschenwelt in Mythologie und Realität. Sexualität führte zum sogenannten Sündenfall von Adam und Eva. Sexualität zwischen Abrahams Weib Sarai und dem ägyptischen Pharao bestimmte die politischen Linien der Geschichte. Sexualität — die Entführung Helenas — stand hinter dem Kampf um Troja. Sexualität führte von der phönizischen zur europäischen Kultur, als die phönizische Königstochter Europa vom Stier entführt wurde.
Sexualität war die Macht, an der die ägyptische Einweihung von Elisabeth Haich gescheitert ist. Sexualität war die Macht der alten Hierodulen und das Geheimnis der attischen Göttin mit dem Granatapfel. Sexualität steigerte die Verbindung zwischen Jesus und Maria Magdalena, seiner engsten Eingeweihten. Sexualität liegt hinter dem Koran, wo den Gläubigen, welche im heiligen Krieg fallen, im Jenseits alle Freuden der Sinnlichkeit versprochen werden. Sexualität war das tragische Schicksal von Abälard und Heloise. Sexualität ist ein Motiv des modernen Tourismus von Mallorca bis Thailand.
Was ist diese Sexualität, die sie alle suchen? Welches Geheimnis der Welt hat die Macht, die ganze Geschichte zu lenken? Was geschieht denn da in den Wäldern, den Hütten und Betten? Was haben Mann und Frau miteinander entdeckt? Warum gerät der heutige Mensch in Panik, wenn er erfährt, dass sein Liebespartner mit einem anderen ging? Weil er ahnt, dass da eine Wollust war, die sein Partner bei ihm selbst nicht findet? Der panische Schauder kommt aus der Wollust des Fleisches.
Man muss nicht Sigmund Freud heißen und ein tiefenpsychologisches Fenster nach dem anderen öffnen, wir müssen uns nur mit uns selbst verbinden und alle Sinne öffnen. Dann erkennen wir von selbst die verborgene Omnipräsenz jener numinosen Macht, die wir Sexualität nennen. Es ist die Macht eines ewig verschwiegenen, geleugneten, heimlichen Verlangens. Auch hinter den grellsten Sexdarstellungen unserer Zeit steckt die Not einer unerfüllten Sehnsucht. Was da so scheinfrei daherkommt, ist wie die Tünche von Lust über einem Meer von Unglück. Man versteht von selbst, warum die bisherige Menschheitsgeschichte ihr humanes Ziel nicht erreichen konnte: Sie hat nicht hingehört auf den Schrei der Leiber und der Seelen.
Der amerikanische Autor Douglas Carlton Abrams lässt in seinem Buch „Das geheime Tagebuch des Don Juan“ den Don Juan folgendes Geheimnis verraten:
„Ich will dir das eigentliche Geheimnis meines Erfolges erklären; es handelt sich nicht um Dinge wie Reichtum, Stand oder Schönheit. Nein, was mir die Türen zu den Gemächern der Frauen öffnet, ist der ungestillte Durst dieser Frauen nach nichts anderem als dem Leben. Die größte Macht der Erde, größer als die Macht von Königen und Päpsten, ist das Verlangen und die Lust einer Frau. Im Himmel, so sagen die Priester, herrscht die Liebe. Aber herrschen auf Erden nicht das Verlangen und die Lust? Wer das Wirken der Lust verstanden hat, hat das tiefste Geheimnis des Lebens verstanden.“
Der Eros ist nicht die individuelle Eigenschaft einer Person oder einer privaten Beziehung, sondern er ist eine überall präsente Weltmacht.
Deshalb kann er, wenn er aus der Bahn geraten ist, nicht einfach durch individuelle Therapien geheilt werden. Hier ist ein geistiger Spannbogen aufzubauen, der uns befähigt, nicht zu schnell unseren spontanen Bedürfnissen oder Nöten zu erliegen. Die eilige Frage „Was nützt mir das alles?“ bremst oft den geistigen Prozess, den wir heute brauchen, um der Thematik auf den Grund zu kommen. Bevor wir etwas wirklich Nützliches ernten können, welches nachhaltig andauert, sollten wir den Zusammenhang erkennen, in dem wir alle stehen.
Wir haben bisher bei dem Wort der Nachhaltigkeit an ökologische Fragen, an die globalen Themen von Wasser, Wetter und Energie gedacht. Jetzt wird es höchste Zeit, für die inneren Themen unseres Lebens nachhaltige Lösungen zu finden, denn alle äußere Nachhaltigkeit wird zerbrechen, wenn sie im Menschen kein inneres Fundament hat.
Allein schon durch diese Erkenntnis öffnet sich für unsere eigenen Fragen und Konflikte ein neuer Deutungshorizont: Unsere Probleme sind ja gar nicht nur auf unserem privaten Mist gewachsen, sie tauchen in vielfältiger Form überall auf und können offenbar nur gemeinsam richtig gesehen werden. Wir können uns jetzt ein Stück weit befreien vom Gedanken eines persönlichen Versagens, müssen nicht mehr alles gleich lösen können und müssen nicht gleich bedrückt herumlaufen, weil wir im Moment mit den Themen von freier Sexualität und Partnerschaft nicht klarkommen; wir können aber trotzdem schon teilnehmen an der großen Bewusstseinsarbeit für die Heilung.
Auch wenn wir gelegentlich noch eifersüchtig sind, dürfen wir wissen, dass Eifersucht nicht zur Liebe gehört. Auch wenn wir noch nicht voll geheilt sind, dürfen wir wissen, dass in der Liebe die tiefste Heilsbotschaft liegt.
Ein wesentlicher Punkt der inneren Entwicklung besteht gerade darin, sich selbst nicht mehr zum Maßstab aller Dinge zu machen, sich von der eigenen Nabelschau zu lösen und die Morgenröte zu sehen, die sich über den Dingen erhebt. Wir können nicht privat gegen die Übermacht fehlgeleiteter erotischer Kräfte ankämpfen, die heute den ganzen Globus beherrschen, wir würden uns dabei nur selbst ruinieren. Wir dürfen aber wissen, dass es im Universum des Lebens heilende Kräfte gibt, welche das Thema Eros von selbst in eine neue Richtung lenken, sobald wir mit ihnen kooperieren, Kräfte in der sichtbaren und in der unsichtbaren Welt.
Im Zustand des Vertrauens öffnet sich die ethische, seelische und spirituelle Weltordnung der heiligen Matrix. Alle Wesen sind genetisch mit dieser Ordnung verbunden, auch wenn sie sich im Laufe der Geschichte von ihr entfernt haben. Der archimedische Punkt für die Verwirklichung dieser Ordnung ist eine tief gesehene Liebe. Wir alle sind zu ihr unterwegs und sollen wissen, dass es sie gibt. Sie ist das Ziel fast aller menschlichen Sehnsüchte.
Die unerfüllte Sehnsucht ist keine Sentimentalität, sondern ein Wegweiser in unsere angeborene, entelechiale Richtung. Für die gesuchte Erfüllung gibt es kein kurzfristiges Rezept und keine kurzen Formeln. Auch die freie Sexualität, die wir in unserem Projekt seit Langem praktizieren, ist keine endgültige Lösung, sondern nur eine unabdingbare Voraussetzung für die Wahrheit. Liebe ist so undefinierbar wie jedes Mysterium des Lebens, undefinierbar wie Gott. Gleichzeitig ist sie eine Weltmacht, welche die ganze Menschheit bewegt.
Die Intimität der Wahrheit
In der Tamera-Gemeinschaft gibt es die Einrichtung des sogenannten SD-Forums. SD steht für Selbstdarstellung. Ein Teilnehmer geht in die Mitte der Gruppe und zeigt, was er oder sie fühlt und denkt. Es gibt keine Verurteilung. Manchmal geschieht es, dass jemand etwas Überraschendes vorbringt, wie zum Beispiel jener bärenstarke Typ, auf den alle projizierten, der auf einmal sagte:
„Ich hatte immer Angst vor Frauen und habe sie heute noch. Ich simuliere eine Potenz, die ich nicht habe. Ich bitte um Hilfe.“
Dies sind Augenblicke der Wahrheit. Auf einmal verändert sich die Energie im Raum. Die ganze Gruppe ist plötzlich aufmerksam, atmet anders, die inneren Privatdialoge hören auf, die gemeinsame Aufmerksamkeit ist auf ein Thema gerichtet, das alle angeht. Es ist die Intimität der Wahrheit, die uns jetzt miteinander verbindet. Je mehr solcher Erfahrungen in einer Gemeinschaft möglich sind, desto sicherer findet sie die Ethik einer tiefen menschlichen Solidarität.
Dass unser Projekt nach vier Jahrzehnten noch in voller Lebendigkeit existiert, hängt auch damit zusammen, dass wir von Anfang an derartige Wahrheitsräume eingerichtet haben. Wir mussten viel lernen, um dazu fähig zu werden. Als wir in der ersten Kommune in Leuterstal (Süddeutschland) vor 35 Jahren eine „Woche der Wahrheit“ veranstalteten, schlugen sich die vierzehn Teilnehmer die Wahrheiten so um die Ohren, dass sich die Tage mit Wut und Angst füllten. Sechs Teilnehmer haben dann die Gruppe verlassen.
Da war bei dem Begriff der Wahrheit etwas gründlich missverstanden worden. Die Teilnehmer hatten die Tage benutzt, um ihren angestauten Frustrationen und Aggressionen freien Lauf zu lassen und zu sagen, was sie voneinander dachten. Aber zu sagen, was man voneinander denkt, ist noch keine innere Wahrheit. Wahrheit entsteht, wenn wir selbst wahr werden und uns der Masken entkleiden, mit denen wir sonst unser Image voreinander aufbauen.
Wahrheit ist der authentische Austritt aus den alten Rollenmustern und die Bereitschaft, die anderen in die eigene Seele schauen zu lassen. Dadurch entsteht eine menschliche Betroffenheit und Anteilnahme, in der alle alten Reflexe von Verurteilung und Ablehnung erlöschen.
Wahrheit erzeugt Akzeptanz und Liebe. Gesehen werden heißt geliebt werden. Das gilt auch für unsere Einrichtung der Tiefengespräche in der Gruppe. Sobald sich der Kanal zwischen dem Leiter und der befragten Person öffnet, wird die Person in ihrer reinen Gestalt — fast könnte man sagen: in ihrer Christusnatur — sichtbar. Dann öffnet sich das Tor der Liebe, es entsteht vollkommene Akzeptanz. Es ist eine Intimität nicht nur auf emotioneller, sondern auch auf spiritueller Ebene, eine tiefe Intimität, aus demselben Stoff zu sein.
Diese Intimität der Wahrheit gibt es auch in der Sexualität, in der erotischen und seelischen Struktur einer echten Liebesbeziehung, sobald es den beiden Partnern gelungen ist, aus dem üblichen Netzwerk von inneren Kommentaren und Projektionen auszusteigen und sich gegenseitig in ihrer ursprünglichen Schönheit zu erkennen. Die Wahrheit ist das Licht der Liebe. Das Schöne, das wir lieben, ist der Glanz der Wahrheit. Und Liebe, das hat uns schon Sigmund Freud gesagt, ist das Verhältnis zum Schönen.
Hier können Sie das Buch bestellen: „Und sie erkannten sich: Das Ende der sexuellen Gewalt“.
Hier finden Sie den Online-Kurs zum Buch: „Heilung der Liebe“.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch von Sabine Lichtenfels und Dieter Duhm. Er stammt aus dem ersten Teil des Buchs, den Dieter Duhm verfasste, weshalb nur er als Autor dieses Exklusivabdrucks angegeben ist.