Vorsicht, Erwachsene!
Vor kurzem fliege ich von Amsterdam aus in die USA. Die Maschine gehört einer europäischen Fluglinie, und sie befindet sich noch über europäischem Boden, als ich mir in der Videothek Michael Hanekes Film "Amour" ansehen möchte - jenen 2012 mit der goldenen Palme von Cannes ausgezeichneten Film, worin Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant alternde Eheleute und deren Leiden nach einem Schlaganfall der Frau darstellen. Bevor der Film beginnt, erhalte ich aber noch eine Warnung: Es werde in diesem Film "adult language" vorkommen, also Erwachsenensprache, die möglicherweise meine Gefühle verletzt. Ich staune.
Denn zunächst ist "Amour" ja alles andere als ein pornographischer oder auch nur betont sexueller Film. Es geht um die verzweifelte, aufopferungsvolle Liebe zwischen alten Leuten. Und da werde ich schon gewarnt? Welche Art von Filmen könnte ich mir ansehen, ohne solche Warnungen zu bekommen? Außerdem handelt es sich um ein Kunstwerk, einen Autorenfilm klassischen Zuschnitts, wie nicht mehr allzu viele produziert werden, für ein wohl schmaler werdendes Publikum. Wer "Amour" ansieht, dürfte darum in der Regel wissen, was ihn erwartet. Wer es aber nicht weiß und vielleicht irrtümlich einen Abenteuerfilm mit amourösen Verwicklungen, eine frivole Burleske oder einen Porno erwartet - muss der wirklich gewarnt werden?
Mein Befremden rührt, wie ich mir nun sage, daher, dass ich eine Grenze zwischen Kulturen überschreite: ich bin schließlich dabei, von der etwas robusteren, europäischen in die bekanntermaßen zarter besaitete US-amerikanische Kultur überzuwechseln. Und offenbar hat die europäische Fluglinie - in einer Art von Antizipation oder von vorauseilendem Gehorsam, oder um sich gerichtliche Klagen amerikanischer Passagiere auf amerikanischem Boden zu ersparen - sogar schon innerhalb Europas die US-amerikanischen Standards übernommen. Das ärgert mich ein bisschen: habe ich denn als Europäer in Europa keinen Anspruch auf die mir vertrauten und von mir verteidigten kulturellen Bedingungen und Spielregeln? Muss ich mich hier den puritanischsten US-Amerikanern anpassen?
Andererseits, sage ich mir, überquere ich vielleicht weniger eine Kultur- als eine Zeitgrenze. Was die US-Amerikaner heute schon praktizieren und was uns heute noch seltsam vorkommt, wird schließlich - so wie zum Beispiel die Rauchverbote, die verstärkte Aufmerksamkeit für Hautfarben und die diversen kleinlichen Sprachregelungen - vielleicht morgen schon auch bei uns allgemeiner Standard sein. Dann allerdings empört mich die Sache noch mehr. Meinetwegen sollen die US-Amerikaner, oder wenigstens die stimmungsbildenden Mehrheiten dort, sich in ihren Eigentümlichkeiten ergehen, soviel sie wollen. Aber sie sollen sie bitte nicht auch noch uns aufnötigen. (Freilich muss ich mir sagen, dass auch es auch in Europa Leute gibt, die auf genau so etwas hinarbeiten.)
Aber was ist es, das mir hier so sehr missfällt? Bekomme ich nicht des öfteren Warnungen, die ich nicht unbedingt brauche? Was ist das Besondere an diesem Typ von Warnung? - Nun, zunächst bemerke ich, dass ich ja als Erwachsener vor Erwachsenensprache gewarnt werde. Man erklärt nicht einfach, dass dieser Film erst für Menschen über 18 geeignet ist. (Und ohnehin ist "Amour" wohl kaum ein Film, den sich Teenager gerne ansehen möchten.) Es wird also mit Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass nicht alle Erwachsenen in der Lage sind, sich erwachsen zu verhalten und einen Film, dessen Sprache ihnen nicht gefällt, kritisch zu betrachten oder aber sein Abspielen auf ihrem Monitor zu unterlassen. Das scheint mir das Neue und Auffällige an diesem Phänomen, diesem Symptom der aktuellen Kultur, zu sein: die als evident vorausgesetzte Annahme, dass es Erwachsenen nicht zumutbar sei, sich als Erwachsene zu verhalten; dass die Belastbarkeit, die Erwachsenen eignet, nicht von jedem Erwachsenen mehr verlangt werden dürfe.
Nun gut, denke ich mir. Ich bin ja zum Glück belastbar, und hier wird eben einmal für die anderen, die es nicht im selben Maß sind, etwas unternommen. Warum aber regt mich das so sehr auf? - Ich sage mir: meine Wut rührt daher, dass mir dieses Zartgefühl von oben nach unten (denn es sind ja die Autoritäten, die hier zartfühlend auf die Untergebenen einzugehen scheinen) infam vorkommt. Und warum infam? - Nun, weil es in einem auffälligen Gegensatz zu dem steht, was sonst gerade, oder sagen wir, seit gut zwei bis drei Jahrzehnten in dieser Kultur - der Kultur der privilegierten westlichen, kapitalistischen Länder - passiert: der eklatanten Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Hier nehmen scheinbar Leute auf Leute Rücksicht, auf die sie im übrigen nicht die geringste Rücksicht nehmen. Und vielleicht hilft ihnen das Erstere ja auch noch beim Zweiteren.
Die Brutalisierung der Verhältnisse
Ich halte mir dazu kurz vor Augen, was eigentlich jeder weiß - aber was man sich vielleicht nicht immer in seiner Gesamtheit, als Panorama vor Augen hält: Neoliberale Austeritätspolitik hat in den letzten Jahren nicht nur reiche westliche Staaten in den Ruin getrieben und alleine in Europa Millionen von Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut gestürzt. Sie hat auch vieles, was bislang an zivilisatorischen Standards, Formen erfüllender Arbeit und guten Lebens selbstverständlich war und zum Gemeineigentum zählte, zerstört: Plötzlich fuhren Eisenbahnen in die Irre, Pensionsvorsorge geriet zum Spekulationsgegenstand, Gesundheit und Bildung verfielen einem irrationalen Ökonomisierungsdruck, Arbeiten verwandelte sich zum bullshit-job, Produkte zerfielen vorzeitig dank geplanter Obsoleszenz oder entzogen sich in die Undurchschaubarkeit ihrer ständig wechselnden Benutzeroberflächen, Bürgerrechte fielen umstandslos der Überwachung durch die Geheimdienste (mitunter sogar durch fremde Geheimdienste) zum Opfer, menschliche Grundrechte (wie zum Beispiel die Versorgung mit Trinkwasser) wurden verhandelbar, demokratische Selbstbestimmung opferte man für Freihandelsverträge, und Universitäten wurden zu stressigen, überregulierten Lernanstalten für Menschen, die nur noch tun durften, was man ihnen vorschrieb - und was anhand von Punkten, Zertifikaten und Kennzahlen bürokratisch darstellbar war.
Unter der Führung der USA war diese Politik zugleich extrem aggressiv: der Reihe nach haben die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre diversen Verbündeten innerhalb und außerhalb der NATO bezeichnenderweise gerade vergleichsweise säkulare arabische Staaten wie Irak, Libyen und Syrien im Namen von "humanitarian warfare" und mit dem Ziel des "regime change" militärisch angegriffen. Allein die Zahl der Kriegsschauplätze, auf denen die deutsche Bundeswehr gegenwärtig Kampfeinsätze tätigt, mag hier erstaunen - insbesondere angesichts des deutschen Grundgesetzes. Diese Kriegshandlungen, meist anfänglich mit dem Vorwand, an diesen Orten Demokratie zu installieren, gerechtfertigt, hinterließen freilich regelmäßig alles andere als demokratische Verhältnisse. Stattdessen entstanden an den Orten der westlichen "demokratischen" Interventionen nichts als "failed states" mit permanentem Bürgerkrieg. Darin zeichnet sich ein neues Muster von Kolonialismus nach dem Ende des kalten Krieges ab: Während im kalten Krieg die beiden großen Machtblöcke NATO und Warschauer Pakt noch vorwiegend daran interessiert schienen, in den ausgebeuteten Regionen der Welt wenigstens halbwegs funktionierende, wenn auch meist diktatorische verbündete Vasallenstaaten zu errichten, produziert der nunmehr weitgehend allein herrschende "freie" Westen, wo er kann, nur noch Zonen ohne jegliche funktionierende Staatlichkeit: denn so können private westliche Firmen mit diversen lokalen Gangsterbanden offenbar umso besser lukrative Rohstoffgeschäfte tätigen. Man kann dies gegenüber dem klassischen Kolonialismus als eine sarkastische Form von "Postkolonialismus" betrachten.
Schließlich kann man dieses Bild noch ergänzen durch einen Blick darauf, wie das reichste und mächtigste Land der Welt mit seinen eigenen Bürgern umgeht. Mochten die USA kurz nach dem zweiten Weltkrieg noch als Hoffnungsträger einer Konsumgesellschaft erscheinen, die Wohlstand für alle oder wenigstens viele, und dies in einer baldigen Zukunft auch für Menschen anderer Länder zu versprechen schien, so scheint auch dieses Versprechen kurz nach dem Ende des kalten Krieges entbehrlich geworden zu sein. 2015 lebten 43,1 Millionen Amerikaner unter der Armutsgrenze - das ist ein Satz von 13,5 Prozent. Dazu weist dieses Land - knapp hinter den Seychellen - auch die höchste Rate von Inhaftierungen auf: Auf 100.000 US-Bürger kommen rund 700, die einen Gefängnisaufenthalt verbringen müssen - das ergibt aktuell eine Gesamtzahl von mehr als 2 Millionen Menschen. Der Anfang 2017 aus dem Amt geschiedene Präsident Barack Obama hat diese Zustände in einem programmatischen rechtswissenschaftlichen Aufsatz treffend wie folgt kommentiert:
"Wir können es uns nicht leisten, 80 Milliarden Dollar jährlich für Inhaftierungen auszugeben; 70 Millionen Amerikaner, das ist nahezu ein Drittel aller Erwachsenen, mit irgendeiner Art von krimineller Vormerkung abzuschreiben; 600.000 Häftlinge jährlich zu entlassen ohne ein besseres Programm zu ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft; oder die Humanität jener 2,2 Millionen Menschen zu ignorieren, die sich gegenwärtig in US-Gefängnissen befinden, sowie jener 11 Millionen Männer und Frauen, die jedes Jahr in die US-Gefängnisse kommen oder daraus entlassen werden. Außerdem können wir das Erbe des Rassismus nicht verleugnen, das weiterhin Ungleichheit in die Wahrnehmung des Justizsystems durch viele Amerikaner bringt."
Der letzte, betont vorsichtig formulierte Satz verweist nicht allein auf den hohen Anteil von Schwarzen in US-Gefängnissen. Auch der Umstand, dass in den letzten Jahren auffallend viele unbewaffnete Schwarze bei Polizeikontrollen ums Leben kamen, mag darin anklingen.
(Angesichts solcher Zustände wird übrigens wohl deutlich, wie fremd und lächerlich den Betroffenen ausgerechnet die Sorge um ihre angemessene Bezeichnung erscheinen muss - und dass diese Sorge folglich nicht die ihre ist. Die Bemühungen um das saubere Bezeichnen kommen nicht von den bezeichneten Gruppen, denn die haben ganz andere Sorgen - und fühlen sich durch diese Sorge allenfalls bevormundet. ) Freilich stehen die reichsten europäischen Länder in manchen solcher Statistiken der Schande nicht weit hinter ihrem großen Vorbild zurück. Dass in Deutschland, dem reichsten Land der europäischen Union, 15 Prozent der Bevölkerung in Armut leben, und damit jedes fünfte Kind, wirft ein ähnlich bezeichnendes Licht auf die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte.
So lassen sich, in aller Kürze und Grobschlächtigkeit, die - ihrerseits groben - Entwicklungen der westlichen sowie der westlich dominierten Welt zusammenfassen, die seit dem Ende des kalten Krieges möglich und wirklich geworden sind. Ohne Resignation, aber in aller gebotenen Schonungslosigkeit müssen wir uns heute die Wirkungen des sogenannten Neoliberalismus vor Augen halten: Nicht nur haben die führenden Mächte der westlichen, kapitalistischen Welt den Anspruch aufgegeben, andere Länder unter ihrer Hegemonie, wenn auch vielleicht mit Verzögerung, in den Wohlstand zu führen. Sie haben sogar im jeweils eigenen Land das Versprechen preisgegeben, mithilfe eines "Fahrstuhleffekts" im Zug wachsenden Wohlstands auch die ärmeren Klassen mit nach oben zu ziehen. Die "Kurve" des Ökonomen Simon Kuznets hatte dies in der Zeit des kalten Krieges hoffnungsvoll prophezeit: "Growth is a rising tide that lifts all boats". Dies schien sich anfänglich zu bewahrheiten. Tatsächlich führte in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg der wirtschaftliche Aufschwung der kapitalistischen Länder zu einer beträchtlichen Reduzierung gesellschaftlicher Ungleichheit, so dass das oberste, reichste Zehntel der Bevölkerung schließlich nicht mehr als 30 bis 35% des nationalen Einkommens bezog. Seit den 1970er Jahren jedoch geht diese Schere wieder auseinander.
Am Beginn des 21. Jahrhunderts hat die gesellschaftliche Ungleichheit wieder die Ausmaße angenommen, die sie in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts aufgewiesen hatte. Das oberste Zehntel verdient jetzt wieder 45-50% des nationalen Gesamteinkommens. Aufgrund von Deindustrialisierung und Kürzung von Sozialleistungen finden Arbeitslose und prekär Beschäftigte nicht mehr aus der Armutsspirale heraus. Und selbst wenn die Wirtschaft wächst, produziert sie keine zusätzlichen Arbeitsplätze mehr. Die sogenannte Globalisierung nützt, entgegen den anfänglich geweckten Hoffnungen, wie immer offensichtlicher wird, nur den privilegierteren Teilen der privilegierten Gesellschaften. Nach dem im Jänner 2017 veröffentlichten Bericht der Entwicklungshilfeorganisation Oxfam besitzen nun 8 Reiche genau so viel wie die ärmsten 50 Prozent der Menschen. Ihr Anteil am globalen Vermögen beträgt 0,2 Prozent. Und das reichste Prozent der Weltbevölkerung verfügt über 50,8 Prozent des weltweiten Vermögens - es besitzt mithin mehr als die restlichen 99 Prozent der Menschen.
Die Weltgesellschaft spaltet sich, wie Alain Badiou (übrigens noch anhand etwas älterer, geringfügig optimistischerer Zahlen) anschaulich zusammenfasst, nun grob in drei Teile:
Die reichsten 10 Prozent besitzen 86 Prozent der verfügbaren Ressourcen. Die globale Mittelschicht, 40 Prozent der Menschen, fast ausschließlich in westlichen Ländern beheimatet, besitzt 14 Prozent; die übrigen 50 Prozent besitzen so gut wie nichts.