Die totale Ermächtigung
Gesundheitsminister Jens Spahn gebärdet sich als Hygiene-Diktator — mit Folgen für die Demokratie und die europäische Einigung.
Seit März dieses Jahres entscheiden die Regierenden in Bund und Ländern in der Coronakrise, ohne die Parlamentarier einzubeziehen. Inzwischen sind einige Abgeordnete aufgewacht und wundern sich. Bleibt die Frage, ob sie schliefen, als sie zum Beispiel am 25. März 2020 im Bundestag Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ermächtigten, ohne sie im angeblichen Kampf gegen ein Virus vorgehen und entscheiden zu können. Während einige Parlamentarier inzwischen vor den Folgen für die Demokratie warnen, möchte Spahn mehr Macht. Es scheint, als gefalle ihm die Rolle als Hygiene-Diktator. Er träumt von einem neuen, noch weiter gehenden Ermächtigungsgesetz.
Als würde das in der Coronakrise schon fast zur Routine gewordene Regieren qua Ministerialverordnungen und Verboten noch nicht ausreichen: Jetzt will der Gesundheitsminister auch noch eine Generalermächtigung für die Pandemiebekämpfung, die diktatorischen Befugnissen gleichkommt. So etwas hat es in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik nicht gegeben.
Mit dem „Dritten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (1) will sich Jens Spahn nunmehr Sonderrechte für die Pandemiebekämpfung sichern, und zwar dauerhaft. In der Konsequenz würde das bedeuten, den Gesundheitsminister zum obersten Polizisten der Nation zu erheben, zentrale Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses zurückzudrehen und die Migrationspolitik wieder zu einer rein innenpolitischen Angelegenheit zu machen.
Darüber hinaus würde es indirekt den Nationalismus fördern und in eine folgenschwere Machtverschiebung zugunsten des Gesundheitsministeriums und zulasten der anderen Ressorts, namentlich des Innenministeriums, münden. Das würde der Demokratie und dem Rechtsstaat einen schweren und wohl irreparablen Schaden zufügen.
Aber der Reihe nach: Worum geht es? Konkret darum, bundeseinheitliche Regelungen zum nationalen und internationalen Reiseverkehr zu erlassen, die den Minister dazu ermächtigen, die Aktivitäten von Fluggesellschaften, Bahnlinien, Schifffahrtsgesellschaften und Busunternehmen zu unterbinden. So könnte er ihnen verbieten, Passagiere auf der Rückreise aus sogenannten Risikogebieten nach Deutschland zu transportieren. Er könnte sie auch dazu zwingen, Passagierlisten und Sitzplätze an die Behörden zu melden. Vergleichbare Regelungen enthält bereits das aktuell geltende Infektionsschutzgesetz.
Mit dem neuen Gesetz, das im Entwurf vorliegt und vom Bundestag im November verabschiedet werden wird, sollen die Befugnisse des Ministers allerdings „verstetigt“ werden, wie es im Gesetzentwurf heißt. Außerdem sollen die Maßnahmen pauschal auch auf andere Erreger oder Viren ausgeweitet werden können. Ferner sollen ausländische Reisende zu einer „digitalen Einreiseanmeldung“ verpflichtet werden und dazu, ihre Aufenthaltsorte zehn Tage vor und zehn Tage nach der Einreise offenzulegen. Ganz abgesehen davon, dass sie eine ärztliche Untersuchung durch die zuständigen Behörden über sich ergehen lassen müssen, um eventuelle Infektionen mit SARS-CoV-2 oder anderen Erregern auszuschließen. Wer „vermeidbare Reisen“ in ausländische Risikogebiete antritt, hat zudem anschließend kein Recht auf eine Entschädigung für den Dienstausfall, wenn Quarantäne angeordnet wird.
Welches wären die voraussehbaren Konsequenzen dieser Sonderermächtigung für den Gesundheitsminister? Sie blieben keineswegs allein auf die Kontrolle der nach Deutschland Einreisenden beschränkt, wie das bisher im Wesentlichen der Fall ist. Die exekutiven Befugnisse würden vielmehr die räumliche Mobilität der Bürger insgesamt betreffen, sie massiv einschränken und einer beispiellosen Reglementierung durch die Behörden unterwerfen.
Heimliche Grenzschließung und neuer Nationalismus
Letztlich käme dieser Vorstoß einer faktischen Schließung der Staatsgrenzen gleich, einem Grenzaufbau durch die Hintertür. Bezweckt wird offenbar die Errichtung von hohen Hürden für den grenzüberschreitenden Personenverkehr. Wer würde denn aus Deutschland noch ins Ausland reisen, wenn er damit riskierte, nicht mehr nach Hause zurückkehren zu dürfen, wenn der Flug-, Bahn- und Busverkehr von heute auf morgen per Ministerialdekret verboten werden kann? Nicht nur das Grundrecht auf Bewegungsfreiheit wäre massiv eingeschränkt. Die gesamte Gesellschaft würde immobilisiert werden, der Bewegungsradius der Menschen auf den nationalen Raum beziehungsweise auf die Herkunfts- oder Wohnregion schrumpfen.
Unsere bis vor kurzem noch so weltoffene und hoch mobile Gesellschaft erführe dadurch eine nachhaltige Provinzialisierung, die an die beklemmenden Zustände in der ehemaligen DDR erinnert. Der (gesundheits-)polizeilich unterbundene Reiseverkehr ersetzt dann wirkungsgleich die Mauer und die Grenzanlagen an der ehemaligen innerdeutschen Grenze.
Damit eignet sich der Gesundheitsminister weitreichende Befugnisse im Bereich der Inneren Sicherheit und damit letztlich auch der Polizeiführung an, da Grenzkontrollen zu den Kernkompetenzen des Innenministeriums gehören. Ob Seehofer sich das gefallen lassen wird? Zu befürchten ist, dass nunmehr auch zwischen dem jetzigen Innenminister und Jens Spahn ein Überbietungswettbewerb um die härteste Linie stattfinden wird. Der „illiberale Verbotspopulismus“ (2), der die Pandemiepolitik bestimmt, würde weiter angeheizt werden — so lange jedenfalls, wie die Umfragewerte die neuen „starken“ Führer belohnen.
Hinzu kommt, dass durch die amtlich verfügte Begrenzung des Bewegungshorizonts der Bürger auf den lokalen Raum der herkömmliche Alltagsnationalismus eine neue kognitive und gefühlsmäßige Färbung erhalten, das heißt zu einem „Bleiben-Sie-zu-Hause-Nationalismus“ (3) mutieren würde. Gerade die Kritiker von Globalisierung und europäischer Integration würden dadurch unerwartet einen starken Rückenwind erhalten, damit aber auch die rechten Kräfte in unserem Land.
Die politische Programmatik der populistischen Neonationalisten, zu der die Aufrüstung der Staatsgrenzen, die Idealisierung der ethnischen Homogenität des Volkes und die politische Romantik der „Heimat“ ebenso gehören wie die Glorifizierung autoritärer politischer Führer, ließe sich mit Hilfe des Infektionsschutzgesetzes schleichend und lautlos verwirklichen. Es bedarf dann nicht einmal mehr eines „Staatsstreichs" seitens der Regierung. Das Grundgesetz wird einfach dem Infektionsschutzgesetz und der persönlichen Diktatur des Gesundheitsministers untergeordnet. Das kommt einer stillen Revolution gleich, einem Systemwechsel auf dem Verwaltungsweg.
Stille Entsorgung der europäischen Migrationskrise
Nicht weniger einschneidend sind die Folgen der Machtergreifung des Bundesgesundheitsministers für Europa. Sie wirft den Integrationsprozess um Jahrzehnte zurück. Der Abbau der innereuropäischen Staatsgrenzen im Rahmen des europäischen Binnenmarktes und des Schengen-Vertrags ist seit Mitte der 1980er-Jahre die entscheidende Triebfeder des gesamten Projektes gewesen. Das „Europa ohne Grenzen“ gilt als das zentrale Symbol der politischen und gesellschaftlichen Einheit des Kontinents.
Mit der faktischen Grenzschließung erlebt nicht nur die Tourismusindustrie, die auf Reisende und passierbare Grenzen angewiesen ist, einen irreversiblen Knock-out, was zahllose Arbeitsplätze vernichtet. Auch die bisher durch die Verträge der Europäischen Union (EU) garantierte grenzüberschreitende Reisefreiheit und die Personenfreizügigkeit werden ohne viel Federlesens ausgehebelt. Bisher als unveränderlich geltende EU-Grundnormen werden damit außer Kraft gesetzt, ohne Abstimmung unter den Mitgliedstaaten und ohne Beschlussfassung in den europäischen Gremien (4).
Damit kommen wir zur Migrationsfrage. Auch diese wird nun indirekt, aber höchst wirkungsvoll durch das Gesundheitsministerium gesteuert, besser: gestoppt. Die durch das Infektionsschutzgesetz verfügte Unterbindung von Reisemöglichkeiten wirkt wie eine unsichtbare Barriere auch für potenzielle Zuwanderer. Im Windschatten der Pandemiebekämpfung entledigt man sich damit stillschweigend einer jahrelangen innenpolitischen Konfliktquelle: des Migrationsdrucks.
Die Migrations- und Flüchtlingskrise der vergangenen Jahre wird in der Coronakrise gekippt. Potenziellen Zuwanderern ist der Weg nach Deutschland schlicht abgeschnitten. Dass dabei ebenfalls EU-Recht, nämlich die gemeinsame Asylpolitik, schlankerhand außer Kraft gesetzt oder umgangen wird, wird den eingefleischten Europagegnern ebenso entgegenkommen wie den von Fremdenhass erfüllten Neonazis.
Der illiberale Überwachungsstaat als Erfüllungsgehilfe der Rechtspopulisten?
Vieles spricht dafür, dass die Pandemiebekämpfung zu einem fatalen Aufsaugen rechter und faschistoider Politikinhalte durch die staatliche Exekutive führt. So gut wie alle politischen Forderungen des rechtsradikalen Lagers erfüllt jetzt der Staat selbst, vom Autoritarismus der politischen Führer bis zu den Grenzschließungen, von der Rückbesinnung auf die Nation und die Ethnie bis zur Exklusion von Fremden. Es handelt sich um einen fundamentalen sozio-politischen Rechtsruck, der sich nicht mehr primär in Gestalt von extremistischen Bewegungen und Parteien wie etwa der Alternative für Deutschland (AfD) artikuliert. Letztere verlieren im Zuge der Pandemie — wie aktuelle Umfragen zeigen — eher an Wählergunst.
Die regressive Radikalisierung ereignet sich jetzt im Zentrum des Staates selbst, vorangetrieben von der regierenden Elite. Heimtückischer könnte die aktuelle Transformation der Demokratie in einen autoritären Überwachungsstaat mit totalitären Zügen kaum sein. Mit seinem Vorstoß für eine Verstetigung des Infektionsschutzgesetzes agiert der Gesundheitsminister als Speerspitze einer politischen Dynamik, die den demokratischen Verfassungsstaat aufzulösen droht und einer modernen bio-politischen Verwaltungsdiktatur den Weg ebnen könnte.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/B/Drittes_Bevoelkerungsschutzgesetz.pdf.
(2) https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-10/corona-politik-demokratie-angela-merkel-regierung-pandemie-wolfang-merkel
(3) Ivan Krastev: Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert, Berlin 2020, Seite 32
(4) Siehe Vertrag über die Europäische Union (Vertrag von Lissabon), Art. 3, Abs. 2