„Es geht eigentlich um das Leben an sich!“, sagte Andrea Schaupp vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, BUND, anlässlich der Proteste rund um den Hambacher Forst. „Accept existence of expect resistance“, plakatierten Baumbesetzer im Hambi. Bei Occupy Wallstreet, 2011 in San Francisco, breiteten Demonstranten vor hochgerüsteten Polizisten plötzlich ihre Teppiche aus und gingen in Meditationshaltung. Die Ordnungshüter schienen zunächst ratlos, dann trugen sie die Meditierenden mit viel Mühe davon. Die Sympathie und der moralische Sieg waren aufseiten der absolut friedlich Protestierenden. Andere religiöse Menschen sagten es noch deutlicher. Sie wollen „das Heilige verteidigen“.
Der Slogan „Defend the Sacred“ war erstmals 2016 durch die friedlichen Proteste der Indigenen gegen eine Ölpipeline in Nord-Dakota bekannt geworden. Seither führen immer mehr politische Aktivisten für ihr Tun auch spirituelle und tiefenökologische Gründe an. Am Strand von Odeceixe (Portugal) formten Aktivisten mit ihren Körpern einen riesigen Delfin. Und die Sätze: „Nein zur Bohrung, ja zur Zukunft. Das Heilige verteidigen.“ Die Aktion erfolgte aus Protest dagegen, dass die portugiesische Regierung dieses Naturkleinod an internationale Ölfirmen verkauft hatte.
Spiritualität — keine Weltfluchthilfe
Spiritualität wird von politischen Aktivisten oft als Weltfluchthilfe diffamiert, gleichsam als Verrat an der Erde mit Blick auf einen imaginären Himmel. Immer wieder aber haben sich Menschen aus spirituellen Motiven in die Politik eingemischt — etwa Mahatma Gandhi, Dietrich Bonhoeffer oder Sophie Scholl. Oder auch der Zenmeister Bernard Glassman, der mit Obdachlosen zusammen eine Bäckerei eröffnete und sie so von der Straße holte. Die schnellste Brücke zwischen den Welten des politischen Aktivismus und der Spiritualität ist derzeit wohl die Ökologie. An ihr lässt sich am besten die wechselseitige Abhängigkeit allen Lebens demonstrieren. Sacred Activism — das heißt: Schützen, was einem heilig ist vor denen, denen nichts heilig ist als ihr Profit.
Man muss nicht das Wort „heilig“ verwenden und sich ebenso wenig auf „Gott“ berufen, wenn man Natur als schützenswertes, von Leben und Geist durchdrungenes, auch mit uns selbst auf das engste verbundene Netzwerk betrachten will. Spirituell inspirierte Politik generell berücksichtigt in allen ideologischen und praktischen Fragen die geistig-energetische Innenseite der Dinge, sozusagen ihre Seele.
Tiefenökologie im Speziellen unterscheidet sich vom herkömmlichen Umweltschutz darin, dass sie in der Natur eine tiefere Dimension aufzuspüren vermag. Die Natur besitzt somit eine Würde jenseits ihres Nutzwerts und ist mehr als nur eine hübsche Kulisse für menschliches Handeln.
Vor allem ist sie nichts, was vom Menschen grundsätzlich verschieden ist. Was schützt denn der Umweltschützer? — Sich selbst, denn er ist die Natur. Und beide — die Natur wie der Mensch — sind Teile eines Ganzen, dem Bewusstsein Leben und Sinn verleiht. Tiefenökologie ist Ökologie aus einem mystischen Weltbild und mystischen Erleben heraus. In ähnlicher Weise kann es auch Tiefenpolitik und Tiefenökonomie geben.
Zwei Beispiele: Von einem mystischen Standpunkt aus gesehen, kann ich nicht Krieg gegen ein anderes Land führen, weil der „Andere“, den ich angreife oder töte, nicht von mir getrennt ist. Das bin ich selbst. Analog dazu werde ich keinen meiner Mitmenschen ausbeuten wollen, denn als Ausbeuter bin ich mit dem Ausgebeuteten energetisch verbunden. Es wird also deutlich, dass ernst gemeinte Spiritualität oder Mystik enorme politische Konsequenzen hätte. Das gegenwärtige auf Wachstum und Verschuldung basierende Wirtschaftssystem ist zum Beispiel aus einem spirituellen Blickwinkel heraus nicht tragbar.
Soziale Mystik
Es ist nicht pauschal zu beantworten, ob „die Spiritualität“ ein eher hilfreiches oder schädliches Phänomen ist. Schon die Frage ist falsch gestellt. Es kommt ganz darauf an, welche spirituelle Weltanschauung und Praxis gemeint ist. Wird ein Schritt in Richtung Befreiung gegangen oder in Richtung „selbstverschuldete Unmündigkeit“, wie Immanuel Kant es ausdrückte. Fördert Spiritualität einen mitfühlenden und unterstützenden Umgang mit anderen Wesen oder verhärtet sie uns. Bestärkt sie uns in einem vielleicht egozentrischen Erleuchtungsstreben? Mit den Worten des spirituellen Kultautors Carlos Castaneda könnte man all diese Fragen so zusammenfassen: „Hat der Weg ein Herz?“.
Geseko von Lüpke, einer der Hauptvertreter der Tiefenökologie in Deutschland, schrieb in einem Aufsatz für das mittlerweile eingestellte spirituelle Magazin connection:
„Spiritualität kann Politik befruchten, und Politik kann zur spirituellen Praxis werden. Die alten Trennungen sind aufgehoben, die Grabenkämpfe können eingestellt werden. In Zukunft wird es darum gehen, den spirituell Suchenden dabei zu helfen, die inneren Reformen ins Außen zu tragen und die Aktivisten dabei zu unterstützen, die Reform der Welt im Innen zu verankern.“
Für den Benediktinerpater und Zenmeister Willigis Jäger ist Spiritualität eine der ganz wesentlichen Grundlagen des sozial- und umweltverträglichen Handelns:
„Erkennen und erfahren, dass wir eins sind — daraus kommt eigentlich alle Ethik. Die Ethik kommt nicht aus ‚du sollt, du musst oder du darfst nicht’. Sie kommt aus dieser Erfahrung der Einheit heraus. Wenn ich die Not des Anderen als meine Not erfahre, dann tue ich gleichsam etwas für mich, wenn ich dem Anderen helfe.“
Mystik, so könnte man schlussfolgern, ist ihrem Wesen nach sozial; religiöse Institutionen sind es dagegen nicht unbedingt, weil sie häufig auch mit einer Rhetorik der Ausgrenzung gegenüber den „Nicht-Dazugehörigen“ oder „Nicht-Linientreuen“ arbeiten. Da Mystik der innere, dem unmittelbaren Erleben entspringende Kern aller Religionen ist, soll hier auch kein bestimmtes religiöses Bekenntnis auf Kosten eines anderen hervorgehoben werden. Soziale und nicht-soziale Strömungen können sich vielmehr vor jedem kulturellen und religiösen Hintergrund entfalten.
Die Erde in uns weinen hören
Der vietnamesische Zen-Mönch Thích Nhất Hạnh entwickelte eine moderne Spielart des engagierten Buddhismus, die das Gegenteil von Weltabgewandtheit repräsentiert. Seine Argumente lehnen sich eng an die Schriften des Religionsgründers und dessen Lehre vom „Nicht-Selbst“ an. Was der Mensch sein „Selbst“ nennt, ist nach Buddha durchdrungen von Elementen des „Nicht-Selbst“ — etwa Wasser, Luft, pflanzliche und mineralische Strukturen –sowie von Bewusstseinsströmungen, die aus ihm selbst kommen. Thích Nấht Hạnh nennt diese Erkenntnis „die Lehre des gegenseitigen Sich-Durchdringens, des Zusammenseins (interbeing). Man kann nicht einfach nur sein, man muss mit sein, von allem durchdrungen“.
Von Thích Nấht Hạnh stammt auch der schöne Satz: „Wir müssen beginnen, die Erde in uns weinen zu hören.“ Er entwirft ein überraschend aktives Bild von einem religiösen Menschen:
„Wenn die Erde dein Körper wäre, könntest du viele Bereiche wahrnehmen, an denen sie leidet. Viele Menschen sind sich des Leidens der Welt bewusst, und ihre Herzen sind voller Mitgefühl. Sie wissen, was getan werden muss. Sie setzen sich auch politischer, sozialer und ökologischer Ebene ein, um die Zustände zu verändern.“
Den Begriff der „sozialen Mystik“ benutzt ganz explizit auch die inzwischen 90-jährige US-Amerikanerin Joanna Macy, bekannt als die große alte Dame der Tiefenökologie. Joanna Macy spricht vom Modell eines „Ökologischen Selbst“, wodurch das herkömmliche Bild vom „hautverkapselten Ego“ aus den Angeln gehoben werde. Dadurch werde auch der Begriff des „Eigennutzes“ um eine entscheidende Dimension erweitert.
Man kann nicht einen Baum fällen, ein Tier quälen oder einen Moorsee verseuchen, ohne dadurch zugleich seinem erweiterten Selbst zu schaden, seinen eigenen erweiterten „Körper“ zu verletzen.
Die Empfindung, dass die Erde unser Körper ist, entspricht der hinduistischen Erkenntnis „Tat tvam asi.“ Wörtlich bedeutet der Satz: „Das bist Du,“ Er stammt aus den Upanishaden, den heiligen Schriften der Hindus. Was immer du vor dir siehst, meint dieser Satz, ist nicht von dir getrennt, du bist es selbst.
Die Welt als Liebesobjekt
In ihrem Buch „World as Lover, World as Self“ (deutscher Titel: „Geliebte Erde, gereiftes Selbst — Mut zu Wandel und Erneuerung“) breitet Macy eine Weltsicht aus, die aufregend und inspirierend wirkt — nicht wirklich neu allerdings, bedenkt man ihre Wurzeln in den Naturreligionen, etwa in den schamanischen Traditionen. Die Welt wurde von vielen Menschen zu lange als „Schlachtfeld“ oder als „Falle“ interpretiert — also als ein Ort, von dem man mittels spiritueller Übungen zu entfliehen sucht. Statt dessen sollte die Welt für das geöffnete Herz zum „Liebesobjekt“ werden, was die Autorin mit durchaus auch erotischem Vokabular beschreibt:
„Denn wer die Welt als Geliebten sieht und einen klugen aufmerksamen Blick dafür hat, dem kann jedes Wesen, das ihr oder ihm begegnet, Ausdruck sein für diesen immer noch anhaltenden erotischen Impuls.“
Liebe beziehungsweise Erotik meint hier das Zueinanderstreben von nur scheinbar voneinander getrennten Lebensformen, die ihren gemeinsamen Ursprung erkennen.
Das zweite Denkmodell Joanna Macys betrachtet die Welt als unser erweitertes Selbst.
„Wir sind unsere Welt, die gerade lernt, sich selbst zu begreifen. Wir dürfen unsere Isolation aufgeben. Wir können wieder heimisch werden in einer Welt, die wir erleben als Selbst und als Geliebte.“
Verbunden ist dies mit dem Bild einer gänzlich von Bewusstsein durchdrungenen Realität.
„Alle Welten und Ebenen des Daseins sind angefüllt mit Bewusstsein. Unser Geist kann Verbindung mit sämtlichen Formen des Lebens wahrnehmen und direkt von ihnen lernen.“
Gerade der Dharma, die buddhistische Lehre, dient Macy als Wegweiser zu tiefenökologischem Denken und Empfinden: „Als erstes zeigt sie uns, dass wir zutiefst eingebunden sind in das Gewebe des Lebens und befreit uns so von menschlicher Überheblichkeit und Einsamkeit.“ Dharma und Tiefenökologie entfalten so einen geradezu therapeutischen Nutzen, denn speziell Überheblichkeit und Einsamkeit sind Wurzeln vieler (Zeit-)Krankheiten.
Aussöhnung mit Mutter Erde
In Anlehnung an C.G. Jung beschreibt Joanna Macy das Verhältnis des Menschen zur Erde auch als Hassliebe des „Sohnes“ zu seiner „Mutter“. Diese äußert sich auch in der Ablehnung alles Materiellen („materiell“ von lateinisch „mater“ = Mutter):
„Wenn man die archetypische Mutter mit dem Begriff ‚Erde‘ verbindet und ihr den Begriff ‚Seele‘ gegenüberstellt, so führt das auf der Seite des Sohnes — oder des Geistes — zu zweierlei Reaktionsweisen: Rebellion oder Inbesitznahme. Der Geist rebelliert, indem er die Materie geringschätzt. Das kann durch Selbstkasteiung des Fleisches geschehen, aber auch durch die Zerstörung der natürlichen Welt. Oder er strebt danach, die Mutter zu besitzen, indem er sich ihre Güter und Rohstoffe aneignet und sie für seine Zwecke nutzt.“
Eine Menschheit, die im gegenwärtigen Zustand wohl eher in Behandlung gehören würde als an die Schalthebel der Macht, könnte gesunden: durch die Aussöhnung mit dem „Mütterlichen“, also gleichermaßen mit ihrem eigenen Körper und mit der nährenden Erde.
Auch in Europa hat eine vergleichbare Philosophie Tradition. Sie ist dort am ehesten unter den Begriffen „Romantik“ und „Idealismus“ bekannt. Der Urgrund romantischer Kunst ist das intuitive Wissen um die Einheit. Damit verbunden ist die Sehnsucht des scheinbar isolierten Einzelnen nach Wiederverschmelzung mit dem göttlichen Urgrund. Romantische Philosophie, die Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland ihre Blütezeit erlebte (Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Schelling und andere), betrachtete die Natur als Außenseite der Seele, die Seele als Innenseite der Schöpfung, beide eigentlich nicht voneinander getrennt, sondern ein und dasselbe, nur aus zwei unterschiedlichen Perspektiven gesehen.
In Momenten der Inspiration, so die Romantiker, kann der Dichter diese ursprüngliche Einheit erleben. Sprache, in ihrer wunderbaren Zweideutigkeit, ist das ideale Medium, um beide Seiten der Schöpfung — das Innen und das Außen — in Eines zu fassen. Kunst kann — in einer schönen Formulierung des griechischen Philosophen Plotin gesprochen — beschreiben, „wie die Seele von allen Seiten in die ruhende Welt einströmt, sich in sie ergießt, sie durchdringt und in sie hineinleuchtet.“ Friedrich Hölderlin, der auch ein großer Naturphilosoph war, drückte es so aus: „Eines zu sein mit allem, das ist das Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen.“
Comeback der Tiefenökologie
Die Philosophie des 19. Jahrhunderts scheint weit weg von uns zu sein. Und noch weiter die vermeintlich spekulative Philosophie. Die wesentlichen Vordenkerinnen und Vordenker der Tiefenökologie scheinen aus der Mode gekommen, ihre Konzepte überwiegend ein Phänomen der 90er und Nullerjahre gewesen zu sein, als Tiefenökologie ein viel diskutiertes Thema in spirituellen Magazinen war. Man kannte etwa James Lovelock, den Begründer der Gaia-Hypothese, der behauptete, die Erde selbst sei ein Lebewesen, sowie Arne Naess und Joanna Macy, die Pioniere der „Deep Ecology“. Heute ist wenig davon die Rede. Dieses Desinteresse der Öffentlichkeit ist aber nur ein scheinbares. Die Namen und Konzepte sind vielleicht aus dem Blickfeld geraten, das — worum es im Kern geht — ist es nicht.
Wir leben in einer Zeit, in der die eskalierende Klimakatastrophe, das Insekten- und Artensterben, die Dürresommer und der „stumme Frühling“ (das Ausbleiben von Vogelgesang) Millionen von Menschen alarmiert hat, die sich lange um dergleichen nicht gekümmert hatten. Die Bücher von Peter Wohlleben wie „Das geheime Leben der Bäume“ erreichen Millionen-Auflagen. Der professionelle Förster ist kein spiritueller Schwärmer, jedoch jemand, der uns die enge Vernetzung der Naturphänomene untereinander, die Würde der Tiere und Pflanzenwesen und ihre besonderen, teilweise ans Fantastische grenzenden Fähigkeiten immer wieder vor Augen führt. Wir leben in einer Zeit, in der Land- und Gartenmagazine boomen und Bienenweiden in vielen Städten jeden verfügbaren Streifen Brachland, jede Verkehrsinsel bedecken.
Im Film „Avatar“ (2009) wird die Verbundenheit in einem lebendigen Ökosystem sehr anschaulich dargestellt. Unter dem Schutz einer großen und gütigen Muttergöttin, Eywa genannt, sind die verschiedenen Lebensformen des fiktiven Planeten Pandora zu einem einheitlichen Netz des Lebens verwoben, das auch eine übergreifende Intelligenz besitzt — ähnlich einem großen Gehirn, in dem die Einzelwesen nur Nervenzellen sind. Die blauhäutigen Ureinwohner, die Na‘vi, können sich über ihre Zöpfe mit jeder Lebensform wie mit einem Kabel verbinden, sodass ein telepathischer Austausch von Gedanken und Gefühlen möglich ist. „Ich versuche, diese tiefe Verbindung zu verstehen, die dieses Volk mit dem Wald hat“, sagt der Held der Geschichte, Jake Sully, und über die Stammesschamanin der Na‘vi:
„Sie spricht von einem Netzwerk von Energie, die durch alles fließt, was lebt. Sie sagt, alle Energie ist nur geborgt, und eines Tages müssen wir sie zurückgeben!“
„Avatar“ wird in den kommenden Jahren mit gleich vier Filmen fortgesetzt werden — eine Hoffnung in der Ära Trump/Bolsenaro. Der Erfolg des Films zeigt, dass Tiefenökologie kein Nischenphänomen mehr ist. Was unzählige Menschen bewegt, wird nur normalerweise nicht so genannt.
Brücke zwischen politischem Aktivismus und Spiritualität
Tiefenökologie ist die derzeit am leichtesten begehbare Brücke zwischen politischem Aktivismus und Spiritualität. Sie kommt sogar ohne das Wort oder einen Begriff von „Spiritualität“ aus. Für Christen mag hier der Begriff „Schöpfung“ ins Spiel kommen. Atheisten erkennen zumindest eine umfassende Vernetzung, ein systemisches Zusammenspiel zwischen den Naturphänomenen an.
Wichtig ist dabei, dass Tiefenökologie nicht nur Gegenstand naturphilosophischer Studien bleibt — so bereichernd die Lektüre von Titeln wie „World as Lover, World as Self“ von Joanna Macy auch sein mag —, sondern, dass sie als gelebte Naturliebe in den Alltag einfließt.
Man kann sich schlecht für den Schutz von Kindern engagieren, ohne auch nur einmal bereit zu sein, sich mit diesen kleinen Menschen zu unterhalten, mit ihnen zu spielen, zu essen, zu lachen, Musik zu hören oder notfalls zu streiten. Ebenso macht es wenig Sinn, theoretisch und überfliegerhaft „die Umwelt“ schützen zu wollen, jedoch mit einem einzelnen Tier oder einer Pflanze keinerlei Beziehung aufbauen zu können.
Ohne einmal fünf Minuten innezuhalten, um das Herumturnen eines Eichhörnchens zu beobachten, die Fortschritte der Cosmeenblüte im eigenen Garten zu bestaunen oder einen vor dem Ansturm der Bienen brummenden blühenden Lindenbaum, bleibt ökologisches, selbst tiefenökologisches Denken abstrakt.
Die Natur als „Du“
Wirkliche „Tiefe“ erwächst dort, wo wir lernen, unser Gegenüber als Subjekt, anstatt nur als Objekt zu betrachten, wo wir in den Dialog mit den Naturwesen treten, mag sich dieser auch nonverbal abspielen. Dorothee Sölle schreibt in ihrem Buch „Mystik und Widerstand“: „Auf eine einfache Formel gebracht, ist die Natur kein Es, kein zu benutzendes Material, das in der patriarchal gedachten Hierarchie ganz unten steht, sondern ein lebendiges Du.“ Auch Sölle greift das Bild von der „Welt als Geliebter“ auf:
„Statt die Welt und alles, was in ihr ist, zu benutzen, fangen gewöhnliche Mystikerinnen an, sie stammelnd zu loben, aus der Betrachterin wird immer wieder eine verschmelzende Liebhaberin.“
Eine der wesentlichen Formen der Natur, auf uns zu reagieren, ist ihr Wachstum. Findhorn in Nordschottland war eine karge Region. Der Wind von der Nordsee fegte ungemütlich über das Land und ließ die Neuansiedler — Peter und Eileen Caddy sowie Dorothy Maclean — frösteln. Die spirituellen Sucher und Begründer einer Lebensgemeinschaft taten sich schwer, zwischen Stechginster und Dünensand auch nur die einfachsten Gemüsesorten für den Eigenverzehr anzubauen. Die Rettung kam dann auf ungewöhnlichem Weg während einer von Dorothys Meditationen. Sie meinte nämlich aufeinmal die Botschaft einer „inneren Stimme“ zu vernehmen, wie sie in ihrem Buch „Du kannst mit Engeln sprechen“ beschrieb. „Stimmt euch auf die Naturgeister ein“, sagte die Stimme. Und: „Die Naturkräfte freuen sich, wenn freundliche Mächte sie empfinden“.
Die ersten Menschen, denen die Pflanzenflüsterin von ihren Erlebnissen berichtete, lachten — wie jetzt wahrscheinlich viele Leser. Aber der Erfolg gab Dorothy Macleans exzentrischer „Methode“ Recht. Die Nahrungspflanzen fühlten sich wertgeschätzt, und sie kooperierten. Aus Findhorn wurde ein legendärer Paradiesgarten mit Pflanzen, die ihre übliche Wuchshöhe teilweise dramatisch überstiegen, Pflanzen von unvergleichlich gesunder Ausstrahlung und aromatischem Geschmack. Gerade spirituell interessierte Menschen reisen bis heute aus ganz Europa nach Findhorn, um das Wunder zu bestaunen.
Pflanzen sind in unserer Kultur oft zu seelenlose „Dingen“ abgewertet worden, „dumm wie Brot“ und nur begabt mit unbewussten vegetativen Wachstumskräften. In der kosmischen Hierarchie, in der Menschen den Oberbefehl, Tiere bestenfalls Unteroffiziersränge beanspruchen können, sind Pflanzen gleichsam die Mannschaftsdienstgrade: unbewegt, passiv und unbegrenzt für uns verfügbar.
Wer Pflanzen für dumm und primitiv hält, ist aber vielleicht nur nicht gut informieren — und selbst schuld, wenn ihm eine faszinierende, atemberaubend schöne Welt verschlossen bleibt.
Wer Blumen und Bäume noch immer unterschätzt, sollte sich einmal Naturaufnahmen im Zeitraffer anschauen. Sie zeigen ungeheuer bewegliche Lebewesen in ihren Wachstums- und Zerfallszyklen, in Wach- und Schlafphasen, im Daseinskampf und in Wechselwirkung mit Tieren — etwa mit Fressfeinden oder bestäubenden Insekten.
Die wunderbare Welt der Pflanzen
Der Naturfilmer David Attenborough sagte in seiner großartigen Dokumentation „The Private Life of Plants“: „Pflanzen können sehen. Sie können zählen und miteinander kommunizieren. Sie haben die Fähigkeit, auf die leichteste Berührung zu reagieren und die Zeit mit geradezu unglaublicher Präzision zu registrieren. Der Hauptgrund, warum wir diese Fähigkeiten nicht wahrnehmen, ist, dass Pflanzen sich größtenteils in einer anderen Zeitdimension bewegen als wir.“
Diese „Zeitlupen-Wesen“ schaffen es zum Beispiel, wenn sich Schädlinge nähern, mit Hilfe bestimmter Duftstoffe deren Fressfeinde herbeizurufen. Sie haben es mithilfe genialer Tricks geschafft, die scheinbar höherrangigen Tiere für sich dienstbar zu machen. Indem sie Bienen zum Beispiel in enge Blütenkelche locken, aus denen sie nur mit pollenübersätem Pelz wieder entkommen können. Oder indem sie aus ihren Blüten perfekte Kopien bestimmter Fliegen formen und diese zur „Kopulation“ anregen. Eichhörnchen „dienen“ den Bäumen, indem sie deren Früchte (etwa Bucheckern) überall vergraben und Affen, indem sie gefressene Feigenkerne über ihren Kot wieder abgeben, woraus neue Feigenbäume sprießen können.
Der „Pflanzenschamane“ und Bestsellerautor Wolf-Dieter Storl behauptet aufgrund meditativer Kontaktaufnahme mit den Pflanzengeistern: „Sie wollen bewundert, verehrt und geliebt werden. Sie wollen an unseren Gedanken und Imaginationen teilhaben. Denn unsere Gedanken und Gefühle sind für sie (…) Nahrung.“ Mögen wir besonders religiöse Menschen sein oder nicht, es sollte nicht allzu schwer sein, zumindest ein bisschen Liebe und Bewunderung aufzubringen. Und ein wenig Respekt. Es genügt dafür eigentlich schon, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen.
Natur als Weg in die Stille
Eckhart Tolle, der spirituelle Lehrer und Autor des Bestsellers „Jetzt!“ erlebt Natur als einen für alle begehbaren Weg in die Stille, die auf dem Grund aller Dinge auf uns wartet.
„Sobald du deine Aufmerksamkeit auf etwas Natürliches richtest, auf irgendetwas, dessen Existenz sich ohne menschliches Zutun entfaltet, trittst du aus dem Gefängnis des begrifflichen Denkens heraus und hast bis zu einem gewissen Grad Anteil am Zustand der Verbundenheit mit dem Sein, in dem sich alles Natürliche noch befindet.“
Tolle gibt auf diese Weise eine liebevolle Einführung in die Naturmeditation:
„Einem Stein, Baum oder Tier Aufmerksamkeit zuzuwenden heißt nicht, an sie zu denken, sondern sie einfach wahrzunehmen und im Bewusstsein zu halten. Dann teilt sich dir etwas von ihrem Wesen mit. Du spürst, wie still sie sind, und dabei entsteht dieselbe Stille auch in dir. Du spürst, wie tief sie im Sein ruhen — wie sie vollkommen eins sind mit dem, was sie sind und wo sie sind. Indem du das wahrnimmst, findest auch du tief in dir selbst einen Ruheplatz.“
Liebe zur Natur — zu „allem“, von dem wir nicht getrennt sind — kann nun angesichts der derzeitigen Zustände zu emotionalen Reaktionen der Traurigkeit, ja der Verzweiflung führen. „Apathie“ (wörtlich „Nicht-Leiden“) ist die weitaus bequemere Haltung, weshalb viele Menschen sie unbewusst der liebevollen Für-Sorge für die Mitwelt vorziehen. Gleichgültigkeit und Verdrängung tun einfach nicht so weh.
Joanna Macy empfiehlt dennoch, emotional aufzutauen.
„Kein Mensch ist in seinem Herzen frei von Kummer über das Leiden anderer. Es wird kaum jemanden geben, der völlig gleichgültig ist gegenüber den Gefahren, die die Erde und ihre Bewohner bedrohen. Niemand ist gänzlich ohne Sorge um die Lebensaussichten nachfolgender Generationen. Aber in einer Gesellschaft, die uns mit Botschaften wie ‚Immer schön locker bleiben‘, ‚Keep smiling‘ und ‚Geiz ist geil‘ bei der Stange hält, ist es gar nicht so leicht, solchem Leid Glauben zu schenken.“
Raus aus der emotionalen Erstarrung!
Insofern ist auch eine wütende, eine vor Traurigkeit den Tränen nahe Greta Thunberg eine gute Symbolfigur für das, was jetzt kollektiv ansteht: ein Aufwachen aus gefährlicher Erstarrung. Zynismus — die Neigung, selbst über die schlimmsten Dinge mit witzelnder Leichtigkeit hinwegzugehen — ist im Grunde eine „Tugend“ von gestern. Es wird dem Zynismus nicht gelingen, eine epochale Krise zu bewältigen, die er selbst mit herbeizuführen half. Was Not tut, ist vielmehr eine neue Ernsthaftigkeit, die aus dem Bewusstsein der Dringlichkeit entspringt. In den Statements gerade der jüngeren Generation finden wir diese Ernsthaftigkeit zum Glück wieder.
„Schmerz um die Welt zu empfinden ist deshalb ein lebendiges Zeugnis dessen, wie eingebunden wir in dieses Netz sind“, schreibt Macy.
„Leugnen wir den Schmerz, verhalten wir uns wie blockierte und verkümmerte Nervenzellen: Abgeschnitten vom Strom des Lebens schwächen wir das größere Ganze, dessen Teil wir sind. Wenn wir aber zulassen, dass der Schmerz seinen Weg durch uns nimmt, bekräftigen wir unsere Zugehörigkeit und stärken zugleich das kollektive Bewusstsein des größeren Ganzen.“
Sich abzukapseln, um den Schmerz zu vermeiden, schneidet uns also zugleich von jenem Verbundenheitsgefühl ab, das notwendig ist, um die wirklich heilsamen Schritte zu unternehmen. Der Weg zur Heilung führt durch den Schmerz hindurch, nicht an ihm vorbei.
Oder wie es der buddhistische Meister Shantideva sagte: „Möge aller Kummer reifen in mir“. Joanna Macy kommentiert das so: „Wir helfen ihm reifen, wenn wir ihn durch unser Herz gehen lassen und guten, nahrhaften Kompost aus all dem Kummer machen.“