Meine Tochter war dreieinhalb Jahre alt, als sie zum ersten Mal bei einer Kindergartenfreundin zum Spielen war. Die beiden Mädchen und die kleine Schwester der Kindergartenfreundin spielten Friseur. Meine Tochter bat angesichts der Tatsache, dass eine echte Schere im Spiel war, darum „aber auch wirklich nur so zu tun“. Das versicherte ihr die Kindergartenfreundin, bis sie ihrer Schwester befahl, die Hände meiner Tochter festzuhalten. Dann schnitt sie ihr die Zöpfe ab.
Haare wachsen wieder, aber das Entsetzen aller war groß. Als meine Tochter sich dann im Spiegel sah, weinte sie bitterlich. Tage später musste meine Puppe daran glauben. Meine geliebte Puppe aus Kindertagen. Und wieder ein paar Tage später wurden unserem Sohn alle Haare abgeschnitten. „Täter“ diesmal: Meine Tochter, die doch erst vor ein paar Tagen am eigenen Leib erlebt hatte, wie grausam das war. Ja, ich hatte es im Psychologie-Studium gelernt, dass man oftmals das weitergibt, was man selbst erfahren hat, aber es ist eine Sache, dies in einem Hörsaal vermittelt zu bekommen, eine andere, es selbst zu erleben.
Warum ist das so? Und was müssen die Menschen, die sich zurzeit so grausam gegenüber anderen Menschen verhalten, erlebt haben?
Schlagende Eltern
Man hat es schon oft gehört: Wer als Kind geschlagen wurde, wendet später als Elternteil auch häufig Gewalt an. Obwohl es unsinnig scheint, ist es doch belegt. Man versteht nicht, warum man an die eigenen geliebten Kinder weitergibt, was einen selbst leiden ließ.
Zwar ist dieses Verhalten verboten. So heißt es in Absatz 2 des § 1631 BGB:
„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
Doch dieses Verbot wird nicht immer eingehalten. Über 70 Prozent derer, die als Kind Gewalt erleiden mussten, werden später selbst gewalttätig. Erlernt wurde durch dieses Verhalten der „Vorbilder“, dass Schläge und Gewalt ein akzeptables Mittel sind, das unerwünschte Verhalten anderer zu quittieren. Gelernt ist nun einmal gelernt (1).
Erlebte Traumata
Ein Trauma kann man nur verarbeiten, wenn man es aufarbeitet, zerstückelt, in Teilen wieder durchlebt und so klein macht, dass man es verdauen kann.
Im Buch „Ohrfeige für die Seele. Wie wir mit Kränkungen und Zurückweisung besser umgehen können“ vergleicht die Autorin Bärbel Wardetzki ein Trauma mit einem Apfel. Dieser Apfel befindet sich im Ganzen im Magen. Man wurde dazu gezwungen, diesen Apfel zu schlucken. Im Ganzen. Und nun liegt er da im Magen und bereitet Schmerzen. Der Körper kann nicht an die Vitamine und Nährstoffe herankommen, weil die Schale des Apfels noch intakt ist. Die Magenschmerzen sind quälend.
Der Apfel steht hier symbolisch für das erlebte Trauma, die Kränkung, die Zurückweisung. Um das Trauma aufzuarbeiten, zu bearbeiten und hinter sich lassen zu können, muss der Apfel unter Schmerzen zunächst wieder hochgewürgt werden. Dann kann man ihn kauend zerkleinern. Durch dieses Kauen wird der Apfel zerstört, man kann ihn schlucken, man kann die Vitamine verwerten, man kann ihn dann verdauen. Weigert man sich, zu realisieren, dass der quälende Druck im Magen vom unverdauten Apfel herrührt, wird man ihn für immer dort belassen und im Leben nicht vorankommen.
Der Versuch einer Aufarbeitung
Das Verhalten, das erlittene Leid an andere weiterzugeben, es selbst zu praktizieren, ist also normal, auch wenn es manchen von uns unsinnig erscheint.
Sich aus der Opferrolle heraus zu bewegen und zum Täter zu werden, ist ein Versuch, die gefühlte Ohnmacht, die Übergriffigkeit anderer durch eigene Machtausübung wieder gutzumachen.
Kurzfristig kann das Linderung verursachen, den Druck im Magen mindern. Langfristig ist es wichtig, den Apfel zu zerkleinern. Dabei brauchen Betroffene manchmal Hilfe.
Druck erzeugt Gegendruck, Gewalt Gegengewalt
Der Puppe war es egal, dass sie damals auf einmal einen Kurzhaarschnitt bekam, und mein Sohn fand sein Aussehen lustig. Wie oben beschrieben, wachsen Haare auch wieder, und heute lachen wir alle gemeinsam über diese Geschichte aus Kindertagen. Vergessen habe ich sie nicht.
Eindrucksvoll konnte ich hier beobachten, dass erlebtes Leid dazu führt, anderen auch Leid oder zumindest die gleiche Tat zufügen zu wollen.
Wer sich der Willkür anderer ausgesetzt gefühlt hat, der will selbst Macht ausüben, um das Gefühl loszuwerden, der Spielball anderer zu sein.
Bedingungslose Liebe
Was also müssen zahlreiche Menschen, die heute über Macht verfügen, wohl erlebt haben?
Ärzte, Politiker, Handlanger des Staates, Medienschaffende.
Es sind so viele Menschen, deren Verhalten nicht von Menschenliebe zeugt. Sie hetzen, drängen, diffamieren, treiben in die Ecke und machen andere Menschen klein. Was müssen diese Menschen erlebt haben? Wie grausam muss man mit ihnen umgegangen sein, dass sie sich heute so verhalten?
Ich wünsche diesen Menschen, dass sie bedingungslose Liebe finden, damit sie endlich den Apfel zerkauen können und ihre Traumata auflösen.
Bedingungslose Liebe kann dabei nur ein Ziel sein, auf das es sich hinzuarbeiten lohnt. Wir sind menschlich, und so werden wir uns wohl nie ganz von Wut, Enttäuschung, Trotz und negativen Gefühlen denen gegenüber, die uns schlecht behandelt haben, befreien können.
„Bedingungslos“ kann dabei bedeuten, dass wir anerkennen, dass unser Gegenüber auch nur ein Mensch ist. Dass er oder sie im Grunde gut ist, dass wir mit dieser Maxime dem anderen gegenübertreten und uns nicht dazu hinreißen lassen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, selbst wenn wir der Meinung sind, der andere würde es tun oder hätte es verdient.
Sich bedingungslos liebend zu verhalten, mag dem einen oder anderen dumm erscheinen. Wieso sollte ich einem Menschen herzlich begegnen, der es mir gegenüber nicht tut? Wenn bedingungslose Liebe wie ein nicht zu erreichendes Ziel erscheinen mag, so können wir zumindest mit dem Versuch der Offenheit und an den Tag gelegten Respekt anfangen. Wir können damit beginnen, die Verhaltensweisen des anderen nicht sofort zu bewerten, sondern stehenzulassen. Wir können versuchen, Verhalten, selbst wenn es uns persönlich trifft, nicht persönlich zu nehmen. Wir können versuchen, anzuerkennen, dass sich Menschen auf falschen Wegen verirren können, sie aber dennoch im Grunde liebenswert bleiben.
Realistisch ist dies nicht wirklich, utopisch aber auch nicht. Der Gewinn der sofortigen Genugtuung, wenn man Gleiches mit Gleichem vergilt, geht verloren. Insofern ist der Versuch, bedingungslose Liebe walten zu lassen, vielleicht eher als Langzeitstrategie und Investition auch in die eigene psychische Gesundheit zu sehen. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst — das setzt nun einmal auch Eigenliebe voraus. Im Gedanken der bedingungslosen Liebe steckt somit auch die Hoffnung, dass man sich selbst damit ein wenig ruhiger, besonnener und liebevoller begegnet in der Annahme und in dem Glauben, dass wir nicht nur ein Virus übertragen können, sondern auch das Gute.
Würden diese Menschen erfahren, dass man sie um ihrer selbst willen liebt, könnten sie vielleicht auch anderen Menschen etwas mehr Liebe, Respekt und Würde entgegenbringen. An dieser Hoffnung kann jeder festhalten.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Bedingungslose Liebe“ auf dem Blog der Autorin.
Quellen und Anmerkungen: