„London ist der Geldesel Großbritanniens“, unterstrich der Journalist Chris Giles in der Financial Times. Wäre London ein Nationalstaat, hätte es einen Haushaltsüberschuss von beeindruckenden sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn es bloß mehr von der Londoner Finanzmeile gäbe (1)...
Wissenschaftler zerstören den schönen Schein
Der Frage, wie viel die Londoner City tatsächlich der Wirtschaft und dem Land an Gewinn einbringt und ob nicht manchmal – trotz aller Lobeshymnen – weniger mehr wäre, sind drei Wissenschaftler nachgegangen: Andrew Baker, Professor für Politische Ökonomie an der Universität Sheffield, Gerald Epstein, Professor für Wirtschaft an der Universität Massachusetts, und Juan Montecino, Forscher an der Universität Columbia (2).
In ihrer Pressemitteilung heißt es: „Der Bericht enthält die erste zahlenmäßige Schätzung des Ausmaßes der Schäden, die durch das Wachstum des britischen Finanzsektors über eine nützliche Größe hinaus verursacht wurden“ (3).
Ihr erstes Interesse galt insbesondere der Berechnung der Kosten für Fehlallokationen, also Verlusten, die dadurch entstehen, dass Ressourcen, Fähigkeiten und Investitionen von produktiven Tätigkeiten in die Finanzwelt umgeleitet werden. Das Ergebnis für den Zeitraum von 1995 bis 2015 sind unvorstellbare 3,1 Billionen Euro. Dazu addieren die Forscher die Verluste, die durch die Finanzkrise entstanden sind. Diese berechnen sie mit 2 Billionen Euro, wobei ihre Bewertung damit noch unter den Angaben der Bank of England liegt (4).
Die Forscher schreiben weiter in der Pressemitteilung: „Unsere Berechnungen deuten darauf hin, dass die Gesamtkosten des verlorenen Wachstumspotenzials für das Vereinigte Königreich, die durch ‚einen überdimensionierten Finanzsektor‘ zwischen 1995 und 2015 verursacht wurden, in der Größenordnung von 5,1 Billionen Euro liegen“ (5).
Um diese kaum fassbare Summe etwas fassbarer zu machen: Dies entspricht dem zweieinhalbfachen Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens oder 76.850 Euro für jeden Einwohner des Landes. Bei dieser Summe kann man mit Fug und Recht urteilen, dass die Londoner Finanzmeile bedeutend mehr Reichtum abzieht, als sie zur Wirtschaft des Landes beiträgt.
Die Ergebnisse in Großbritannien sind noch deutlich alarmierender als die für die USA. Gerald Epstein und Juan Montecino hatten über dieses Land bereits 2016 geforscht. Die Fehlallokationen belaufen sich hier für den Zeitraum 1990-2005 auf 2,3 bis 3,4 Billionen Euro. Hinzu kommen die massiven Verluste während der Finanzkrise, die je nach Schätzung mit 5,6 bis 12,5 Billionen Euro zu veranschlagen sind (6).
Der Finanzfluch
„Die Daten im Bericht deuten darauf hin, dass sich die britische Wirtschaft insgesamt gesehen viel besser entwickelt haben würde, wenn: (a) ihr Finanzsektor kleiner wäre; (b) die Finanzierung mehr auf die Unterstützung anderer Bereiche der Wirtschaft ausgerichtet wäre, als auf den Versuch, als eigenständige Quelle der Vermögensbildung zu fungieren“, merken die Forscher in ihrem Bericht an (7).
Dieses Forschungsergebnis korrespondiert auch mit der Arbeit von Nicholas Shaxson. Nach seinem grundlegenden Buch über Steueroasen erscheint diese Tage in Großbritannien nun sein neuestes Buch über die Frage der negativen Auswirkungen eines überdimensionierten Finanzsektors. Shaxson nennt das Phänomen, das im Zentrum seiner Recherchen steht, den „Finance Curse“ (8). Es beschreibt das Paradox, dass ein Überschuss an Finanzmitteln gesamtwirtschaftlich katastrophale Folgen haben kann. Shaxson vergleicht dies mit afrikanischen Ländern, die mit Rohstoffen und Bodenressourcen reichlich gesegnet sind und dennoch unter extremer Armut leiden.
Fehlplatzierte Bankkredite, die der reinen Logik des Finanzmarktes folgen, sind ein entscheidender Faktor des Finanzfluchs. So erklärt Shaxson:
„Vor einem Jahrhundert oder mehr gingen 80 Prozent der Bankkredite an Unternehmen für echte Investitionen (9). Inzwischen gehen weniger als 4 Prozent der Unternehmenskredite der Finanzinstitute an das verarbeitende Gewerbe – stattdessen vergeben die Finanzinstitute überwiegend Kredite untereinander sowie zur Finanzierung von Wohnungen und gewerblichen Immobilien“ (10).
Nicht überraschend sind daher die Investitionsraten Großbritanniens in den Wirtschaftssektoren jenseits des Finanzsektors seit 1997 die niedrigsten in der gesamten OECD (11). Es ist offensichtlich: Der Finanzsektor kommt in keiner Weise mehr seiner zentralen Aufgabe nach, Geldmittel dorthin zu lenken, wo sie in der Wirtschaft tatsächlich konkret gebraucht werden.
Brain drain
Neben der fehlgeleiteten Nutzung der Finanzressourcen ist eine weitere Konsequenz des übermächtigen Finanzsektors verheerend und Teil des Finanzfluchs: Der Finanzsektor saugt sehr gut ausgebildete Menschen aus anderen Wirtschaftssektoren, der Zivilgesellschaft, der Regierung und den Medien in hochbezahlte Öl- oder Finanzjobs hinein.
Dies wurde in der wichtigen Studie „Reassessing the impact of finance on growth“ von zwei Wissenschaftlern der Bank for International Settlements (BIS), Stephen G. Cecchetti und Enisse Kharroubi, bestätigt. In ihrer Studie heißt es:
„Menschen, die vielleicht Wissenschaftler geworden sind, die in einem anderen Zeitalter davon träumten, Krebs zu heilen oder Menschen zum Mars zu fliegen, träumen heute davon, Hedge-Fonds-Manager zu werden“ (12).
Einfache Lösung
Gesundschrumpfen lautet die ebenso einfache wie effiziente Lösung. Offensichtlich gelingt dem Markt hier keineswegs, ein ungesundes Maß zu sanktionieren, wie es so gerne in der Theorie des effizienten Marktes gepredigt wird.
Durch eine Reduzierung des Finanzsektors auf ein gesundes Maß würden zum einen gut ausgebildete Menschen auch ein Interesse haben, Berufe mit gesamtgesellschaftlichem und wirtschaftlichem Nutzen jenseits der Finanzwelt zu wählen, und die Finanzmittel würden wieder so genutzt, wie sie gesamtwirtschaftlich sinnvoll sind.
Ein Gewinn von über 5 Billionen Euro innerhalb von 20 Jahren sollte eine ausreichende Motivation hierfür sein, wenn es die Schockerfahrung der Finanzkrise schon nicht war. Und nicht zuletzt täte auch Deutschland gut daran, die Wissenschaft einen kritischen Blick auf den Umfang des deutschen Finanzsektors werfen zu lassen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.theguardian.com/news/2018/oct/05/the-finance-curse-how-the-outsized-power-of-the-city-of-london-makes-britain-poorer
(2) http://speri.dept.shef.ac.uk/wp-content/uploads/2018/10/SPERI-The-UKs-Finance-Curse-Costs-and-Processes.pdf
(3) https://www.taxjustice.net/2018/10/05/press-release-city-of-london-costs-uk-4-5tn-in-lost-economic-growth/
(4) https://www.independent.co.uk/news/business/news/credit-crisis-cost-the-nation-1637trn-says-bank-of-england-1931569.html
https://www.theguardian.com/business/2008/oct/28/economics-credit-crunch-bank-england
(5) https://www.taxjustice.net/2018/10/05/press-release-city-of-london-costs-uk-4-5tn-in-lost-economic-growth/
(6) http://rooseveltinstitute.org/wp-content/uploads/2016/07/Overcharged-High-Cost-of-High-Finance.pdf
(7) http://speri.dept.shef.ac.uk/2018/10/05/uk-finance-curse-report/
(8) https://www.theguardian.com/news/2018/oct/05/the-finance-curse-how-the-outsized-power-of-the-city-of-london-makes-britain-poorer
(9) https://www.bankofengland.co.uk/-/media/boe/files/speech/2017/are-firms-underinvesting-and-if-so-why.pdf?la=en&hash=96588BB2D1AEEA1C13C0E2E159962B2B3E505DD4
(10) https://financecurse.net/research/who-are-uk-banks-lending-to/
(11) https://www.ons.gov.uk/economy/grossdomesticproductgdp/articles/aninternationalcomparisonofgrossfixedcapitalformation/2017-11-02
(12) https://www.bis.org/publ/work381.pdf