Es gibt zwei Zahlen, die im Zusammenhang mit der SPD eine Wirklichkeit aufzeigen, die nicht geleugnet werden kann. Sie lauten: 40,9 und 23,0. 40,9 Prozent erreichten die Sozialdemokraten beim Ergebnis der Bundestagswahl 1998, 23,0 Prozent bei der Wahl 2009. Mit anderen Worten: Die SPD hat innerhalb von 11 Jahren einen Verlust von 43,76 Prozent (17,9 Prozentpunkte) eingefahren. Das entspricht fast 10 Millionen Wählern, die der Partei den Rücken kehrten.
Warum beginnt ein Kommentar zur SPD im Sommer 2017 mit diesen Zahlen? Diese beiden Zahlen gegenübergestellt sind es, die selbst heute noch die Gegenwart und die Zukunft jener Partei markieren, die sich eine Politik, welche sich gegen einen beachtlichen Teil ihrer Wähler richtete, nicht als das eingesteht, was sie war: ein Verrat an ihren eigenen Idealen.
Bis heute hat die Partei, die einst als große Volkspartei bezeichnet werden konnte, keinen reinen Tisch mit sich selbst und vor allem mit den Wählern gemacht. Diesen Schritt unternimmt sie nicht, weil sie sehr gut weiß, was er bedeutet. Die Sozialdemokraten müssten sich eingestehen, dass sie in einer Partei beheimatet sind, die zwar gerne noch etwas von sozialdemokratischer Verantwortung redet, aber ideologisch längst näher mit dem Bürgertum als mit den Arbeitern verbunden ist (von den Armen erst gar nicht zu reden).
Die SPD müsste sich eingestehen, dass ihr großes neoliberales Reformprojekt „im Prinzip“ eben nicht richtig, sondern ein schwerer Fehler war. Sie müsste, öffentlich und mit aller Deutlichkeit, mit Altkanzler Gerhard Schröder und denjenigen, die seine Politik mitgetragen haben, brechen. Sie müsste zum großen Kehraus ansetzen und alle aus der eigenen Partei, die auch nur im Entferntesten die neoliberale Wende in Deutschland unterstützt haben, dorthin schicken, wo sie hingehören: Zur CDU oder zur FDP. Doch wie sollte das gelingen?
Die Antwort, auch wenn Sie den einen oder anderen „echten“ Sozialdemokraten, der noch in der Partei sein mag, schmerzt, ist denkbar einfach: überhaupt nicht. Es kann nicht gelingen. Die SPD ist eine Partei geworden, in der die Kräfte zur Selbstheilung und zur Selbstreinigung nicht mehr vorhanden sind.
Ein radikaler Umsturz innerhalb der Partei wäre notwendig, um die Partei von ihrem Kurs der Ignoranz abzubringen. Doch wie sollte es zu einem Umsturz kommen? Der Umsturz müsste aus der vierten und fünften Reihe erfolgen, denn: Nicht nur die Parteivorderen, sondern auch die Akteure in der zweiten und dritten Reihe besitzen längst nicht mehr jene Glaub- und Vertrauenswürdigkeit die notwendig wäre, damit die Partei, wie einst, wieder eine breite Sympathie in der Bevölkerung erfährt.
Doch diesen Umsturz wird es nicht geben. Die innerparteilichen Widerstände gegen die Etablierten sind, sofern vorhanden, so leise, so zurückhaltend, dass sie nicht einmal wahrgenommen werden.
Und so tut die Partei wenige Monate vor der Bundestagswahl das, was sie seit Jahren kollektiv vorexerziert: Weiter verleugnen, warum die Wähler sie abgestraft haben. Stattdessen setzen die wackeren Sozialdemokraten mit scheinbar frohem Mut und reichlich Geklatsche beim Parteitag in der Dortmund Westfalenhalle auf die kollektive Realitätsverweigerung.
Akteure wie Gerhard Schröder („Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“) und Franz Müntefering („Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“) hofiert die Partei noch immer so, als wären sie die Heilsbringer der Sozialdemokratie. Und in großen Buchstaben auf noch größeren Plakaten findet sich in dem großen Saal jenes Wort, das von einem Sozialdemokraten ausgesprochen, mittlerweile regelrecht Angst bei den ärmsten Teilen der Bevölkerung entstehen lässt: Gerechtigkeit.
Nein, dieser Partei ist nicht mehr zu helfen. Wäre es nur das Problem von falsch besetzten Führungspositionen, könnte die SPD längst wieder ernsthaft mit der CDU um die Kanzlerschaft konkurrieren.
Die Partei aber hat aus ihrer Mitte heraus einen Frontalangriff auf das sozialstaatliche Fundament des Landes gefahren. Und die Mitte ist es auch, die sie weiterhin bei der Verleugnung ihrer katastrophalen Entscheidungen unterstützt.
Diese Partei hat, ob mit oder ohne Martin Schulz („Fangt doch mal an zu rufen!“) von 1998 bis heute eines verdeutlicht: Ihr darf man nicht trauen.
Sarah Wagenknecht, die Vorsitzende der Linkspartei, hat die Tage in Sachen SPD gesagt: „Diese Partei braucht kein Mensch mehr.“ So ist es.