Die Schicksalsgefährten
1989 war nicht nur für Deutschland, sondern auch für Russland ein Schwellenjahr, das nicht hielt, was sich viele von ihm versprochen hatten.
Um Zeitgeschichte zu verstehen, ist es manchmal hilfreich, in der Geschichte weiter zurückzugehen und zu den Wurzeln gegenwärtiger Probleme vorzudringen. Das Jahr 1989 war das Ergebnis einiger zusammenlaufender Entwicklungsstränge, aber auch die Geburtsstunde neuer, bis heute folgenträchtiger Entwicklungen. Aus wirtschaftlichen Gründen hatte die Sowjetunion ihr imperiales Überengagement in Osteuropa zurückgefahren. Es entstand ein Macht-Vakuum, das Freiräume für die Emanzipationsbewegungen in vielen Warschauer-Pakt-Staaten bot. Die Sowjet-Führung unter Gorbatschow wiegte sich zeitweise in der Illusion, sie könne ihre Satellitenstaaten in die Unabhängigkeit entlassen und die Rüstung zurückfahren, ohne dabei den Status als Supermacht einzubüßen. Viele Deutsche indes träumten in den Wendejahren von einem dauerhaften Frieden zwischen den ehemals verfeindeten Blöcken. Heute stehen deutsche Soldaten wieder in vielen Teilen der Welt. Die NATO mit Gesamtdeutschland als voll integriertem Mitglied versucht die Labilität des auseinandergebrochenen ehemals sozialistischen Machtblocks auszunutzen und treibt Russland in die Enge.
Geschichte experimentiert nicht. In den historischen Kämpfen tritt stets das zutage, was in der jeweiligen geschichtlichen Konstellation bereits angelegt ist: an materiellen und politischen Kräften, Ideen, Programmen und Perspektiven. Die einen Auseinandersetzungen zur Tragödie und andere zur Farce zu erklären, ist unter dem Blickwinkel einer weltphilosophischen Interpretation gewiss berechtigt, verkennt jedoch, dass es in allen Fällen um Sieger und Besiegte geht, Opfer und Täter, die Schließung der einen geschichtlichen Pfade und die Öffnung anderer. Die sich anschließend zu Siegern der Geschichte erhöhen, sind oft die, die bei der nächsten Wendung tief fallen.
Geschichte war nicht nur offen, sie ist und bleibt offen. An manchen Tagen aber zeigt sich dies in besonderem Maße, wenn nämlich die bisher Herrschenden nicht mehr in der alten Weise herrschen können, die bisher Beherrschten nicht mehr wie bisher beherrscht sein wollen und dies plötzlich offen sichtbar wird. In der deutschen Geschichte waren der 4. und der 9. November 1989 solche Tage.
Der Ausgangspunkt
Auch dreißig Jahre nach 1989 wird in der offiziösen politischen Sichtweise der Eindruck zu erwecken versucht, als sei mit dem „realen Sozialismus“ ein böser Feind vertrieben worden, der von außen kam. Aber war die Idee, eine völlig andere Gesellschaft zu schaffen, die mit den kapitalistischen Verhältnissen bricht, nicht aus diesen selbst hervorgewachsen?
Die „alte Welt“ Europas ging mit dem Ersten Weltkrieg unter. Er war das einschneidende Ereignis des 20. Jahrhunderts. Die russische Oktoberrevolution war ein sozialhistorischer Vorgang, der folgerichtig aus den Gemetzeln des Ersten Weltkrieges hervorging, in dem über zehn Millionen Menschen ihr Leben verloren. Bereits lange vorher war geistiges Allgemeingut innerhalb der Internationalen Arbeiterbewegung, dass die furchtbaren Störungen und Verwüstungen, die ein europäischer Krieg anrichten werde, auf eine große Katastrophe hinauslaufen muss, die die bürgerliche Gesellschaft in den Abgrund reißt. In diesem Sinne erschien der Erste Weltkrieg als die erwartete, vom Kapitalismus und seinem Imperialismus hervorgerufene Katastrophe, aus der es nur einen Ausweg geben konnte, den „Sozialismus“.
Die Analyse aus kommunistischer Sicht kam zu dem Ergebnis: „Der imperialistischen Politik, die die ‚Großmächte‘ führten, musste früher oder später der Zusammenstoß folgen. Es ist ganz klar, dass diese räuberische Politik aller ‚Großmächte‘ die Kriegsursache war.“ Der Krieg „musste ein Weltkrieg werden“, weil alle Mächte „miteinander durch die gemeinsame Weltwirtschaft verbunden“ waren. So lautete die Konsequenz: „Allgemeine Auflösung oder Kommunismus? Die sich entwickelnde Revolution wird aus denselben Gründen zu einer Weltrevolution, aus welchen der imperialistische Krieg zum imperialistischen Weltkrieg wurde“ (1).
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist anders verlaufen. Die Weltrevolution blieb aus, der reale Sozialismus blieb zunächst auf die Sowjetunion beschränkt. Die russischen Bolschewiki, einmal an der Macht, waren aber nicht bereit, ihre Fahne wieder einzurollen und nach Hause zu gehen, sondern verteidigten ihre Macht mit allen Mitteln.
Auf Geheiß Wladimir Iljitsch Lenins lösten sie im Januar 1918 die gewählte parlamentarische Vertretung Russlands auf. Damit blieb der errichteten Sowjetmacht, sodann jeder seither errichteten Macht kommunistischen Typs, der Verzicht auf die Gewinnung der numerischen Mehrheit innerhalb der „eigenen“ Bevölkerung eingeschrieben. Die revolutionäre Partei verwandelte sich in die allgegenwärtige Staatspartei. Der reale Sozialismus nahm schließlich die durch Josef Stalin geprägte Gestalt an und wurde in dieser im Gefolge des Zweiten Weltkrieges auf andere Länder im Osten Europas ausgedehnt.
Bereits kurz nach der russischen Oktoberrevolution betonte Rosa Luxemburg die marxistische Position von der „Diktatur des Proletariats“, unterstrich jedoch, dass diese das Werk der Arbeiterklasse „und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse“ sein dürfe. Genau dies aber warf sie den Führern der russischen Revolution, Lenin und Leo Trotzki, vor: die Abschaffung der Demokratie, die zu einem „Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande“ und schließlich zu einer Diktatur, nicht des Proletariats, sondern „einer Handvoll Politiker“ führen werde (2).
In Kronstadt – Seefestung, Hafen und Garnisonsstadt in der Nähe von Petersburg, das bis 1918 Hauptstadt Russlands war – lebten vor allem Arbeiter und waren Tausende Soldaten und Matrosen stationiert, die seit 1917 aktiv die russische Oktoberrevolution unterstützt hatten. Hier brach im März 1921 der erste Arbeiteraufstand gegen die einseitige Herrschaft der Partei Lenins aus, eben wegen der fehlenden demokratischen Mitwirkungsrechte: wenn schon Herrschaft der Arbeiter, dann der Arbeiter selbst. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, zur „Konterrevolution“ erklärt.
Die Begründung für den „realen Sozialismus“ im Osten Europas war stets ideologisch. Im Zentrum stand das Versprechen, die „sozialistische“ Welt werde grundlegend unterschieden sein von der des Kapitalismus, mit einem höheren Maß an Selbstbestimmung für die Menschen und einer höheren Arbeitsproduktivität.
Unter der Voraussetzung der von Lenin und später von Stalin geprägten Partei wurde das erstere nicht nur nicht erreicht, sondern eine systematische Kontrolle und Unterdrückung der Individuen organisiert. Die Millionen Opfer des Systems der Straflager waren Ausdruck dessen.
Dennoch erhielt sich in einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung die Hoffnung auf die bessere Welt, die Bedingung des sozialistischen Aufbaus in den Anfangsjahren war, als Erwartung der höheren Arbeitsproduktivität, die ein besseres Leben bringen werde. Seit den 1950er Jahren drehte sich das dann um: Die unmittelbare Kontrolle über die Menschen wurde reduziert, die Erreichung der höheren Arbeitsproduktivität aber rückte in immer weitere Ferne. War der wirtschaftliche Abstand zu den entwickelten Ländern des Westens bis in die 1960er Jahre geringer geworden, so vergrößerte er sich danach wieder. Die Glaubwürdigkeit der ursprünglichen Versprechungen nahm ab, je länger der „reale Sozialismus“ existierte.
Das von Rosa Luxemburg kritisierte Fehlen demokratischer Verhältnisse blieb das Hauptproblem der Gesellschaften des „realen Sozialismus“. Der erste Aufstand nach der Konstituierung des „sozialistischen Lagers“, wie es damals und im Kontext des Kalten Kriegs hieß, brach am 17. Juni 1953 in der DDR aus. Auch hier waren es vor allem Arbeiter, die aufbegehrten. Da der Sieg über das faschistische Deutschland nur acht Jahre zurücklag, Deutschland gespalten war und unter Besatzungsrecht stand, wurde dieser Aufstand von sowjetischen Truppen niedergeschlagen und als „faschistischer Putsch“ bezeichnet.
Im Juni 1956 gab es Streiks und Proteste im polnischen Poznań, woraufhin die polnische Partei ihre Politik änderte. In Ungarn brach Ende Oktober 1956 ein Volksaufstand aus, der Anfang November wiederum von sowjetischen Truppen unterdrückt wurde. Im Jahre 1968 machte die Führung der Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei den Versuch, die Gesellschaft demokratisch zu öffnen, der wiederum durch die Moskauer Führung mit dem Einmarsch sowjetischer und anderer Truppen des Warschauer Vertrages beantwortet wurde.
Als Anfang der 1980er Jahre Streiks und Unruhen in ganz Polen begannen, getraute sich die sowjetische Führung nicht mehr, militärisch zu intervenieren. Sie hatte international bereits genug Probleme mit dem kurz zuvor erfolgten Einmarsch in Afghanistan und konnte sich nicht sicher sein, wie die Lage in Polen eskalieren würde. Die polnische Regierung versuchte dann, durch Verhängung des Ausnahmezustandes die Lage wieder unter Kontrolle zu bekommen, scheiterte damit jedoch letztlich. Starke Organisationen der Opposition in Polen, die von der katholischen Kirche unterstützt wurden, standen der Partei und dem Staat gegenüber. Die einen konnten die Macht nicht übernehmen, weil die anderen über das Militär und die Waffen verfügten; diese wiederum konnten ihre Macht nicht in der früheren Weise wiederherstellen, weil die Unterstützung in der Bevölkerung dafür fehlte. In dieser Situation einigten sich die Führer beider Seiten darauf, einen Kompromiss zu schließen. Im Sommer 1989 war der „Runde Tisch“ Synonym für das Abgeben der Macht der Staatspartei kommunistischen Typs an eine gewählte Regierung, erst in Polen, dann auch in anderen Ländern, darunter schließlich der DDR.
Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion hatten keine Verbesserung der Lage in der Sowjetunion, aber eine veränderte Politik der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow mit sich gebracht. Sowjetische Truppen standen zur Erhaltung der Macht der „Bruderparteien“ nicht mehr zur Verfügung. Die Entwicklung in Polen hatte die Machtgrundlagen auch der anderen kommunistischen Staatsparteien im Osten Europas erschüttert. Die seit 1988 in Ungarn regierende Reformergruppe wollte die Bewegungsmöglichkeiten des Landes in der europäischen Politik vergrößern und ging davon aus, dass eine deutsche Vereinigung dazu führen werde, dass „die Russen“ sich auch aus Ungarn verabschieden müssen.
Die Perle in der Krone
Die DDR war „die Perle in der Krone“ (3) des sowjetischen Herrschaftsgefüges in Europa. Insofern war es kein Zufall, dass die Mauer in Berlin fiel, nachdem sich die Umbrüche in Polen und Ungarn vollzogen hatten. Deren „Weg nach Europa“, das heißt, weg von der sowjetischen Dominanz, aber war tatsächlich frei, nachdem diese Mauer gefallen war. Insofern kam den Entwicklungen in der DDR im Herbst 1989 eine Schlüsselfunktion für die weitere Entwicklung in Europa zu.
War Partei- und Staatschef Erich Honecker nach dem 1. Mai 1989 noch der Auffassung, die massenhafte Teilnahme an der Maidemonstration in Berlin sei Zustimmung zu seiner Politik, so sollte sich die Lage rasch ändern. Bereits am 7. Mai 1989 fanden Kommunalwahlen statt, die dann als gefälschte ausgemacht werden konnten. Dies blieb eine offene Wunde des Herrschaftssystems der SED, die sich bis zur „Wende“ nicht schließen ließ.
Die sich beschleunigende Ausreisewelle aus der DDR im Sommer 1989 über Ungarn und verschiedene Botschaften der Bundesrepublik wurde von Honecker persönlich mit dem in einen Kommentar der Parteizeitung Neues Deutschland vom 2. Oktober hineinredigierten Satz versehen, man werde den Flüchtlingen „keine Träne nachweinen“. Die Antwort waren Rufe auf der Leipziger Montagsdemonstration am Abend des 2. Oktober: „Wir bleiben hier“, die mit Forderungen nach Meinungsfreiheit und Reformen verbunden wurden. Fortan äußerten sich die öffentlichen Willensbekundungen immer stärker in Demonstrationen. War es am 4. Oktober noch zu massiver Gewaltanwendung gegen Demonstranten am Dresdner Hauptbahnhof gekommen und am 7. Oktober, dem Staatsfeiertag, in der Hauptstadt Berlin, so lastete ein gewaltiger Druck auf der erwarteten Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig. Trotz der verbreiteten Angst vor einem Gewalteinsatz der Polizei nahmen etwa 75.000 Menschen an der Demonstration teil, und es wurde erreicht, dass keine Gewalt angewendet wurde. Damit war das Demonstrieren zu einem faktischen Recht der Bürger geworden.
An der friedlichen Demonstration und der Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 nahmen dann etwa 700.000 Menschen teil. Die Berliner Theater hatten die Veranstaltung nach Recht und Gesetz angemeldet, der Anwalt Gregor Gysi hatte dabei geholfen.
Die Risse, die durch die Gesellschaft gingen, waren auch Risse durch die SED und die anderen Parteien in der DDR. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass auch die aus der DDR kommenden Linken in Deutschland sich heute auf diese Ereignisse berufen. Sie waren Teil jener Auseinandersetzungen. Die Schauspielerin Steffie Spira hatte den Schlusspunkt gesetzt auf der Kundgebung mit den berühmten Sätzen aus Brechts „Lob der Dialektik“, aus denen sie dialektisch gefolgert hatte, Fahnenappell und Staatsbürgerkunde sollten der Vergangenheit angehören und das Politbüro sollte abtreten. In ihren Tagebuchaufzeichnungen über jene Tage ist über die Vorbereitung der öffentlichen Bekundung zu lesen: „Man nimmt mich als Abgesang“, aber mit dem Nachsatz: „weil ich auch mit ein wenig Humor und Schlagfertigkeit spreche. Ich habe eben Einfälle.“ Sie war 1931 in die KPD eingetreten und blieb auch nach der „Wende“ in der PDS. Ihr Standpunkt der Kritik war nicht die Ablehnung des kommunistischen Ideals, sondern dass die SED-Führung dieses verraten hatte, und sie sprach dort nicht obwohl, sondern weil sie sich als Kommunistin verstand. Der Höhepunkt der Demonstrationen war erreicht.
Die Grenzflutung
Die SED-Führung unter Egon Krenz versuchte, die Verhältnisse zu stabilisieren, aber der politische Druck im Lande verstärkte sich. Vom 8. bis 10. November 1989 tagte das Zentralkomitee der SED, um über die Lage zu diskutieren. Zum neuen Stil gehörte, dass Politbüromitglied Günter Schabowski auf abendlicher Pressekonferenz über die Ergebnisse der ZK-Tagung berichtete und Fragen von Journalisten beantwortete. So kam es zu der berühmten Pressekonferenz am 9. November 1989, die vom DDR-Fernsehen live übertragen wurde. Hier machte Schabowski um 18.53 Uhr „nebenbei“ die Mitteilung, dass die SED-Spitze beschlossen habe, eine Regelung zu treffen, die „die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik“. Dann verlas er die neue Reiseregelung. Ab wann die gelte? „Sofort, unverzüglich.“
Die Nachrichtensendungen des westdeutschen Fernsehens, das von den meisten DDR-Bürgern gesehen werden konnte, brachten ihrerseits diese Mitteilung, die Nachrichtensendung „Tagesschau“ um 20 Uhr als Spitzenmeldung. Um 20.15 begannen sich die ersten Berliner an den Grenzübergängen zu sammeln, acht bis zehn Menschen Sonnenallee, zwanzig Invalidenstraße, etwa fünfzig Bornholmer Straße. Dort war es gegen 21 Uhr bereits eine Menschenmenge; die ersten wurden dann 21.20 Uhr „kontrolliert" nach Westberlin gelassen. Gegen 22.30 Uhr waren wegen des Ansturms Kontrollen nicht mehr möglich. „Wir fluten jetzt“, meldete der zuständige Kommandeur des Übergangs Bornholmer Straße seinen Vorgesetzten.
Die zuständigen Politbüromitglieder, Minister und Generäle, die auch an der ZK-Tagung teilgenommen hatten, waren nicht etwa alarmiert und beunruhigt in ihren Stäben, wie beim Bau der Mauer 1961, sondern ruhten sich zu Hause von der anstrengenden Sitzung aus. Die Offiziere vor Ort hatten keine Befehle und entschieden sich, keine Gewalt anzuwenden, wie auch gegen alle Demonstranten seit dem 9. Oktober Gewalt nicht angewendet worden war. Es bedurfte nicht nur derer, die gegen die Tore drücken, sondern es musste sie auch jemand öffnen. Die Berliner hatten die Mauer aufgedrückt, ohne auf Genehmigungen der Behörden zu warten. In der Folgezeit wurde aus „Wir sind das Volk“ dann „Wir sind ein Volk“. Am 9. November 1989 fiel kein Schuss. Die europäische Nachkriegsordnung, die so fest gefügt schien, brach zusammen. Der Sozialismus, wie er sich seit 1917 in Europa entwickelt hatte, war am Ende. Er war die falsche Antwort auf die Fragen, die der real existierende Kapitalismus aufwirft. Damit aber sind diese Fragen nicht erledigt, sondern im 21. Jahrhundert auf neue Weise offen.
Der sowjetische Faktor
Zwischen der DDR und der Sowjetunion existierte ein Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand, der auf „ewigen“ Bestand zielte (4). Abgesehen davon, dass die regierenden Kommunisten beider Länder (der Breshnew- beziehungsweise Honecker-Generation) hier ein quasi-religiöses, transzendentales Verhältnis zur Geschichte festzuschreiben versuchten, das auf der Grundauffassung der Unumkehrbarkeit einer Entwicklung vom „Kapitalismus“ zum „Sozialismus“ beruhte, hätte dieser Vertrag eigentlich auch eine rechtliche Bindekraft haben müssen, wenn Rechtsförmigkeit von Politik je zum Kalkül kommunistischer Herrschaft (5) gehört hätte.
Darum hat sich in den bewegten Monaten des Jahres 1989/1990 jedoch weder in der Sowjetunion noch in der DDR jemand geschert. Das unernste Verhältnis zum Recht im Allgemeinen, das im „sozialistischen Völkerrecht“ ebenfalls stets prägend war und die Geschichte der völkerrechtlichen Beziehungen innerhalb des „sozialistischen Lagers“ seit Anbeginn prägte, bestimmte auch das Herangehen der politischen Akteure in der Wendezeit. Das gilt ausdrücklich für die Vertreter der kommunistischen Nomenklatura, zumal die der Sowjetunion. Dass die Systemopposition der umbrechenden DDR beziehungsweise die der „führenden Rolle“ der kommunistischen Staatspartei entschlüpften Politiker der anderen Parteien, die nach den Märzwahlen 1990 das Land zu regieren versuchten, um es in die deutsche Einheit zu bringen, das von den Kommunisten gesetzte „Recht“ nicht akzeptierten, versteht sich von selbst (6).
Das Ende der DDR ist nicht zu thematisieren, ohne die Kontextbedingungen ihres Entstehens und die Eigenheiten ihrer Existenzweise in den Blick zu nehmen, und ohne es unter der Perspektive sowjetischer Hegemonialpolitik zu debattieren.
Ungeachtet der Ewigkeitsklausel im Bündnisvertrag wurde in Moskau – glaubt man den nachträglichen autobiografischen Bekundungen der einschlägig bekannten Beteiligten – bereits 1987 oder 1988 ziemlich konkret über eine deutsche Vereinigung nachgedacht – ohne die DDR-Führung zu konsultieren. Nun mag man einwenden, dass es sich um den historischen Gezeitenwechsel von der Behauptung besonderer internationaler und völkerrechtlicher Beziehungen zwischen den realsozialistischen Ländern, die der Kontrolle des sowjetischen Imperiums durch Moskau dienten, hin zur Anerkennung allgemeiner Normen des internationalen Rechts handelte, die auf Menschenrechte, bürgerliche Freiheit, liberale Demokratie und kapitalistische Marktwirtschaft hinauslief – was vonseiten der Akteure als ein zivilisatorischer Fortschritt angesehen wurde.
Man könnte auch hinzufügen, dass nicht zu erwarten war, dass die einen Kommunisten – hier die sowjetischen unter Gorbatschow – die anderen – hier die deutschen um Honecker – besonders zuvorkommend behandeln, nachdem man wusste, wie Stalin Leo Trotzki und Nikolai Bucharin verfolgt hatte, oder Walter Ulbricht in der DDR Paul Merker – zumal es hier nicht um Mord und Gefängnis, sondern, im Gegenteil, um den Abbau der Berliner Mauer ging, Gorbatschow Honecker nicht erschießen lassen, sondern lediglich aus dem Amt gedrängt sehen wollte. Der vielzitierte Satz Gorbatschows in Berlin: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, drückte das prägnant aus. Dennoch hatte die Abwicklung des sowjetischen Imperiums machtpolitische Komponenten, die sich von denen seiner Errichtung nicht qualitativ unterschieden: Das Imperium hat Interessen, nicht aber Freunde.
Bis Mitte der 1980er Jahre – der Amtsantritt Gorbatschows und der Beginn der Perestroika in der Sowjetunion sollen hier als Zäsur gelten – war ein vielgestaltiges Beziehungsgefüge zwischen den Staaten des sowjetischen Machtbereichs entstanden. Multilateral hielten die Organisation des Warschauer Vertrages und der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe das Gefüge zusammen. Es gab ein Geflecht bilateraler „Freundschaftsverträge“, die auch Bündnisklauseln enthielten. Treffen der Generalsekretäre, verschiedener Ressortsekretäre der Zentralkomitees, der Ministerpräsidenten, der Außenminister und verschiedener Fachminister schienen ein dichtes Netz der Abstimmung und politischen Koordinierung zu bilden. Dennoch waren die Beziehungen weit davon entfernt, einen „neuen Typus“ zu verkörpern oder „neue Formen“ zu schaffen.
Seit den 1950er Jahren hatte sich, zunächst unmerklich, ein Prozess vollzogen, in dem die Durchgriffsmöglichkeiten Moskaus als Hegemonialmacht in die Länder hinein zurückgingen und die Handlungsspielräume der herrschenden „neuen Klassen“ (7) der Länder wuchsen. Trotz der ungleich größeren wirtschaftlichen, militärischen und anderen Ressourcen der Sowjetunion hatte die KPdSU-Führung schrittweise die qualitative Gleichberechtigung der anderen Parteiführungen akzeptieren müssen – mit dem gleichen ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Machtanspruch bezogen auf den jeweiligen Staat und seine internationalen Beziehungen. Insbesondere vier Momente sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben:
Erstens war Moskau der ideologischen Deutungsmacht verlustig gegangen; daran waren nicht nur die Auseinandersetzungen mit Josip Broz Tito und Mao Zedong sowie die inneren Entwicklungen in der „sozialistischen Gemeinschaft“ beteiligt, sondern auch die innerhalb der kommunistischen Weltbewegung. So verglich der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei Spaniens, Santiago Carrillo, in seiner Rede auf der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas in Berlin 1976 die kommunistische Bewegung mit dem Frühchristentum und seinen Leiden. Diese „ließen in unseren Reihen eine Verbindung zwischen wissenschaftlichem Kommunismus und einer Art Mystik des Opfertums und der Vorbestimmung entstehen. Wir wurden eine Art neue Kirche mit unseren Märtyrern und Propheten. Jahrelang war Moskau, wo unsere Träume begannen, Wirklichkeit zu werden, unser Rom. Wir sprachen von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, als wäre sie unsere Weihnacht. Das war unsere Kinderzeit. Heute sind wir erwachsen.“ Ausdrücklich unterstrich er, „dass wir Kommunisten heute kein Führungszentrum haben, an keine internationale Disziplin gebunden sind“ (8). Und Erich Honecker ließ diese Rede in der DDR im Wortlaut abdrucken, weil er in dem Bestreben, dass die SED die „zweite Partei“ – als die Partei im Lande von Marx und Engels – sein sollte, den westeuropäischen Eurokommunisten dies zugesagt hatte.
Zweitens zeitigte die Verknüpfung von politischer Macht, ideologischer Deutungsmacht und Eigentum an den Produktionsmitteln in der Hand der Parteien in den einzelnen Ländern Folgen. Es unterschieden sich nicht nur die Institutionen des politischen Systems, sondern auch die – angesichts der Einführung der Planwirtschaft und der Abschaffung echter Marktbeziehungen – erforderlichen Surrogat-Institutionen, die die Planwirtschaftssysteme ausfüllen sollten. In allen osteuropäischen Ländern blieb die Defizitwirtschaft die natürliche Daseinsweise sozialistischen Wirtschaftens, was die RGW-Zusammenarbeit zu einem regelmäßigen Feilschen um Mangelwaren machte. Eine tatsächliche Integration mit multilateraler Verrechnung konnte nie erreicht werden.
Der Mangel, die Verfügungsgewalt über das Eigentum im nationalen Rahmen, unterschiedliche konzeptionelle Positionen zur Planwirtschaft und nicht-marktliche, das heißt, vertraglich festgelegte Währungsparitäten verhinderten dies. Mitte der 1980er-Jahre war für alle Länder des sowjetischen Herrschaftsbereiches, einschließlich die Vormacht selbst, die Zusammenarbeit mit dem Westen lukrativer als mit den „Bruderländern“. „Es gibt eine größere Kraft als den Wunsch, den Willen und den Beschluss beliebiger feindlicher Regierungen oder Klassen; diese Kraft sind die allgemeinen Verhältnisse der Weltwirtschaft, die sie zwingen, mit uns Beziehungen aufzunehmen“ (9). Das hatte Lenin 1921 mit Blick auf die Blockadepolitik des Westens gegenüber Sowjetrussland gesagt. 1985 war klar: Es galt umgekehrt ebenso.
Drittens waren die sowjetischen Positionen in der Außen- und Verteidigungspolitik ebenfalls immer weniger durchsetzbar. War das Dogma vom internationalen Klassenkampf ursprünglich ein wesentliches Moment der Selbstlegitimation der kommunistischen Parteiführungen, so hatte dies im Zeitalter der Entspannung längst seine Bindewirkung verloren. Auch im Bereich der Außenpolitik artikulierten sich die anderen Länder verstärkt eigenständig – das galt ebenfalls für die DDR, seit den 1980er-Jahren insbesondere in den Beziehungen zur BRD.
Noch zurückhaltender war viertens die Unterstützung für die Dritte-Welt-Politik der Sowjetunion. Versuchte die DDR noch, eigene Akzente zur Unterstützung des „antiimperialistischen Kampfes“ in Kuba, Nicaragua oder Äthiopien zu setzen, lehnten Länder wie Polen oder Ungarn die sowjetische Politik in diesem Bereich, die zudem mit militärischen Konflikten in verschiedenen Weltteilen verbunden war, zunehmend offener ab.
Das Imperium zieht sich zurück
Gleichsam wie eine russische Matrjoschka-Puppe hatte das sowjetische Imperium mehrere Gestalten. Im Innern befand sich Russland, das von der Moskauer Führung immer als Hausmacht behandelt wurde – als KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow die Idee hatte, der russischen KP-Organisation ein eigenes Zentralkomitee zu geben, wie es auch die Ukrainische KP und andere hatten, war dies einer der Punkte, die 1964 zu seiner Ablösung führten; für bestimmte politische Kräfte in Moskau ist dies heute Argument, Russland von der Verantwortung für die Vergangenheit in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken freizusprechen und zum gleichsam ersten Opfer des Bolschewismus zu erklären. Die zweite Figur ist die Sowjetunion in ihrer territorial-politischen Gestalt bis zu ihrem Zerfall, das in der Literatur sogenannte „innere Imperium“.
Hier hatte die Moskauer Führung den direkten Zugriff auf alle Ressourcen und Entscheidungen. Die dritte Figur war das „äußere Imperium“ in Osteuropa, also die mit der Sowjetunion verbundene, von ihr beherrschte Gruppe von Staaten, die im oben beschriebenen Sinne selbständig waren. Über deren Ressourcen konnte die Moskauer Führung über den Kopf der dortigen „neuen Klassen“ hinweg nur bedingt verfügen. Hinzu kam für Moskau das Problem, dass es nicht den erhofften wirtschaftlichen Nutzen aus diesen, ökonomisch oft höher entwickelten Ländern ziehen konnte. War es auch im Einzelfall möglich, bestimmte Preise zugunsten der Sowjetunion durchzusetzen, so überstiegen insgesamt die Subsidien beziehungsweise Kosten, um die Länder im sowjetischen Herrschaftsbereich zu halten, zunehmend die Einnahmen (10).
Die vierte, äußere Gestalt war der Versuch, sowjetische Macht und sowjetischen Einfluss in die Dritte Welt zu projizieren, nach dem Zerfall der imperialistischen Kolonialsysteme die befreiten Länder als Ressource in der Blockkonfrontation mit dem Westen zu nutzen. Hier war die wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnung für die Sowjetunion noch problematischer als in Osteuropa: Am Ende war sie in eine Vielzahl regionaler Kriege verstrickt. Der Krieg beziehungsweise die Niederlage in Afghanistan markiert den Anfang vom Ende der sowjetischen Weltmachtambitionen (11).
Waren für die sowjetische Außenpolitik nach 1917 für kurze Zeit weltrevolutionäre Ansätze bestimmend – noch in den 1970er Jahren übliches weltrevolutionäres Denken ist nicht mit einer weltrevolutionären Außenpolitik zu verwechseln– , so wurde die UdSSR nach 1945 allmählich zu einer eher klassischen Großmacht mit globalen Ambitionen, die in der Tradition des zaristischen Russlands stand. Der mit ungeheuren Opfern errungene Sieg über Hitlers Deutschland im Zweiten Weltkrieg brachte einen beträchtlichen Prestige- und Machtgewinn und Russland – in Gestalt der Sowjetunion – die politisch und militärisch stärksten Positionen seiner Geschichte, territorial bis zur Elbe erstreckt. Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Basis ließ sich die UdSSR anschließend in einen globalen Zweikampf mit den USA verstricken, die im Bündnis mit allen anderen Mächten des Westens standen, den Kalten Krieg.
Das Ergebnis der Weltmachtambitionen der sowjetischen Führer war ein globales Überengagement, das in keinem Verhältnis mehr zu den wirtschaftlichen Voraussetzungen stand. Das Imperium war überdehnt (12).
Als Gorbatschow 1985 sein Amt antrat, war dies die Schlussbilanz der alten, stalinistisch geprägten Machthaber – von Stalin über Chruschtschow und Breshnew bis Tschernenko – der Ausgangspunkt seiner Umgestaltungspolitik. Dabei jedoch scheint er ein eher pragmatisches Verhältnis zu den ideologischen Chiffren des Realsozialismus hergestellt zu haben. Er beherrschte wie kein anderer die ideologischen Figuren des sowjetischen Kommunismus; deshalb gelang es ihm, von 1985 bis 1990 alle Versuche der Orthodoxen, seine Ablösung herbeizuführen, zu vereiteln. Aber das bedeutet nicht, dass er ein wirkliches Verständnis für das Ausmaß und die Tiefe der Probleme hatte, vor denen die Sowjetunion stand.
Der „Verrats“-Vorwurf, der innerhalb und außerhalb Russlands heute vielfach erhoben wird, trifft die Sache nicht. Es war die Sozialisation in den stalinistischen Wandelgängen der Macht, die ihn geprägt hatte. Er war gebildeter, eloquenter als alle anderen sowjetischen Parteiführer, wahrscheinlich seit Trotzki. Und er war gewillt, nicht nur den Kalten Krieg, sondern auch das Diktatorische in der kommunistischen Machtausübung zu beenden. Darin lag seine historische Neuartigkeit. Aber er kannte die Macht offenbar nur in zweierlei Formen: als Gewaltausübung und als Hofintrige, nicht als Moment von Herrschaft an sich. Das trug offensichtlich dazu bei, dass die Perestroika in Verbindung mit Glasnost nicht zu einer Konsolidierung, wie ursprünglich beabsichtigt, sondern zum Zerfall nicht nur der kommunistischen Herrschaft, sondern auch des Imperiums geriet.
Die Beendigung des Kalten Krieges dürfte die große historische Leistung Gorbatschows sein, die von Dauer ist. Anfang der 1980er Jahre hatte der westdeutsche Politikwissenschaftler Ernst-Otto Czempiel ein Schichtenmodell des Ost-West-Konflikts entwickelt. Danach unterschied er vier Ebenen des Konflikts: Auf der untersten der originäre Konflikt, die Positionsdifferenzen über die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Ordnung; darüber das Sicherheitsdilemma, die Unsicherheit darüber, ob die andere Seite den Angriff wagen würde; darüber wiederum der sekundäre Konflikt, die Machtkonkurrenz in der Dritten Welt; und auf der vierten Ebene schließlich der abgeleitete Konflikt in Gestalt der Rüstungsdynamik. Czempiels zunächst scheinbar überraschender Befund war, dass die Spannungsgrade – sicher entgegen den ideologischen Erwartungen – genau umgekehrt zur Schichtenfolge standen: die höchste Spannung auf der Ebene des Wettrüstens, eine hohe auf der Ebene der Dritte-Welt-Konkurrenz, eine noch beträchtliche auf der Ebene des Sicherheitsdilemmas und die niedrigste auf der originären Systemebene (13).
Bemerkenswert ist nun, dass Gorbatschow genau in der Spannungsfolge vorging: Zunächst brachte er durch weitgehendes Entgegenkommen die Sowjetunion in den Abrüstungsverhandlungen mit den USA und den NATO-Staaten in eine offensive außenpolitische Position und trug so zu einer Öffnung der Verhandlungen bei. Die Reduzierung der Rüstungslasten sollte die erste Richtung sein, die imperiale Überdehnung zurückzuführen. Die zweite war das Herausziehen der Sowjetunion aus den Konflikten in der Dritten Welt. Mit den USA und den jeweils anderen beteiligten Konfliktparteien wurden Vereinbarungen zur Regelung in Afrika, Mittelamerika, Kambodscha, schließlich Afghanistan getroffen. Beides trug sichtlich zur Verringerung des Sicherheitsdilemmas bei.
Mittlerweile hatte Gorbatschow nicht nur bezüglich der Verbündeten in der Dritten Welt, sondern auch gegenüber denen im osteuropäischen „äußeren Imperium“ die „freie Wahl des Entwicklungsweges“ verkündet, mit anderen Worten: Die Parteiführungen in Osteuropa sollte sich ihre Legitimierung bei ihrer respektiven Bevölkerung selbst verschaffen, jedenfalls sowjetische Truppen zur Machtsicherung nicht mehr zur Verfügung stehen. Inwieweit seine Versicherungen, die historische Entscheidung „für den Sozialismus“ sei unwiderruflich, Ausdruck einer eklatanten Fehleinschätzung war oder aber „Pfeifen im Walde“, lässt sich heute nicht mehr sagen. Das Imperium im Osten zerfiel. Mit der „Charta von Paris“ wurde 1990 auch der originäre Konflikt beigelegt: Menschenrechte, liberale Demokratie und kapitalistische Marktwirtschaft wurden als gemeinsam verbindende Werte Europas völkerrechtlich fixiert.
Illusionen und harte Tatsachen
In einem systemischen Sinne war die Auflösung des sowjetischen Imperiums die zweite Dimension des Fiaskos des Realsozialismus. Die Globalisierung der Welt und die Verallgemeinerung der Menschenrechte und demokratischen Grundwerte besiegelten das Schicksal des kommunistischen Projekts auch in den internationalen Beziehungen. Die Separierung in einer eigens geschaffenen „neuen Welt“ hatte sich als unrealisierbar erwiesen. Was es am Ende für die Menschen in den betreffenden Ländern bedeutet, ist bis heute noch nicht ausgemacht. Die anhaltende Peripherisierung Ostmittel- und Südosteuropas innerhalb der Europäischen Union ist Ausdruck dessen, dass die Entwicklungsdifferenz nicht Ergebnis des kommunistischen Systems war, sondern tiefere Wurzeln hat. Der Realsozialismus war eher ein gescheiterter Versuch, den historischen Rückstand aufzuholen.
Zwei Momente in der Gorbatschowschen Strategie der 1980er Jahre haben besonders weitreichende Folgen gezeitigt. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Losung vom „proletarischen Internationalismus“ das Banner, unter dem die Bolschewiki die russische Erde wieder einsammelten. Deshalb zerfiel das russische Reich unter dem Ansturm des Nationalismus nicht analog dem Habsburger und Osmanischen Reich dauerhaft bereits damals. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der „Internationalismus“ die ideologische Begründung für die Errichtung des äußeren Imperiums wie für die Ausdehnung in die Dritte Welt.
Der dezidierte Verzicht auf den „Internationalismus“ zugunsten der allgemein-menschlichen Werte entzog dem sowjetischen Herrschaftsbereich jedoch nicht nur in den äußeren Gestalten der „Matrjoschka“ die gewohnte Grundlage, sondern auch in den inneren. Bereits 1989 signalisierte das Unabhängigkeitsstreben Litauens und Georgiens den Zerfall der UdSSR; in Gestalt des Tschetschenien-Krieges der 1990er Jahre wurde deutlich, dass dieser Prozess auch vor der Russischen Föderation nicht haltmacht. Gewiss, auch eine demokratische Neubegründung einer um Russland gruppierten Großföderation wäre denkbar gewesen. Doch dafür bestanden offenbar weder die historischen und konstitutionellen Voraussetzungen noch der politische Wille der nationalen Eliten.
Das andere Moment war das der Gewaltlosigkeit. Das übergeordnete Ziel, den Kalten Krieg und das Wettrüsten zu beenden sowie das Sicherheitsdilemma zu beseitigen, schloss den Einsatz von Gewalt gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen aus. Ein Einsatz militärischer Kräfte, etwa in der DDR die Grenze gewaltsam wieder zu schließen, oder gegen das litauische Parlament vorzugehen, hätte nach Gorbatschows Einschätzung nicht nur das Ende der Perestroika bedeutet, sondern alle Resultate der seit 1985 erreichten Entspannung auf einen Schlag wieder zunichtegemacht. Im Gegenzug sagte der Westen Zurückhaltung zu. Während des Gipfels in Malta 1989 versprach US-Präsident George Bush senior, dass der Westen die geschwächte Situation der Sowjetunion nicht ausnutzen werde. Im Februar 1990 versicherte der damalige amerikanische Außenminister James Baker gegenüber Gorbatschow, dass im Gegenzug zu einer sowjetischen Zustimmung zu einer NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands „gewährleistet ist, dass die NATO ihr Territorium um keinen Zentimeter in Richtung Osten ausweitet“ (14). Es ist dies jene Zusage, die Moskau heute mit der NATO-Osterweiterung zurecht gebrochen sieht.
So verband sich die Politik Gorbatschows mit zwei Prämissen: dass sich der Rückzug des Imperiums an einem bestimmten Punkt begrenzen ließe und dass die Sowjetunion nach dem Rückzug ebenso supermächtig behandelt würde wie zuvor. Beides erwies sich als Illusion.
Das war den Moskauer Akteuren 1989 jedoch nicht bewusst, und sie machten frohgemut ihre Außenpolitik des „Neuen Denkens“, die eine Politik des strategischen Rückzugs wurde. Im Westen fehlt es nach wie vor an Bereitschaft, Russland als gleichrangige Macht anzuerkennen.
Die deutsche Dimension der europäischen Wende
Deutschland ist wieder ein erstrangiger politischer Einflussfaktor in Europa und in der Welt (15). Grundlage dieser gewandelten geopolitischen Position ist Deutschlands Wirtschaftskraft, die sich in einem hohen technologischen Niveau wichtiger Exportgüter in Bereichen wie Fahrzeugbau, Maschinenbau und Chemieindustrie sowie in einem traditionell hohen Exportüberschuss ausdrückt. Im Jahre 2017 waren es wieder 244,5 Milliarden Euro, darunter betrug allein der Überschuss im Handel mit den USA über 50 Milliarden Euro.
Als die Mauer fiel und die deutsche Vereinigung vollzogen wurde, hofften viele Menschen in den beiden Deutschländern auf eine gute und vor allem friedliche Zukunft. Heute stehen deutsche Truppen am Hindukusch, an der türkischen Grenze und in Afrika, versehen Aufgaben einer „Schutztruppe“ in verschiedenen Provinzen Südosteuropas, die von der NATO beziehungsweise der EU kontrolliert werden, und deutsche Kriegsschiffe sind auf den Weltmeeren unterwegs.
Deutschland ist wieder die Zentralmacht Europas, dominiert die Europäische Union und wurde – gestützt auf die EU – wieder zu einer geo-ökonomischen Macht mit globalen Interessen. Die Hoffnungen auf ein dauerhaft verfriedlichtes Deutschland wurden getäuscht. Die Redereien des früheren Bundespräsidenten, verschiedener Außenminister und der derzeit für das Kriegswesen zuständigen Ministerin von „mehr Verantwortung“ für dieses Deutschland zielen darauf, die Kriegsbereitschaft der hiesigen Bevölkerung weiter zu befördern. Der antirussischen Kampagne seit 2014 ist dabei eine herausragende Rolle zugewiesen.
Es ist reine Propaganda, wenn westliche Politiker und Journalisten heute behaupten, der Westen würde lediglich „seine Werte“ ausdehnen, während der russische Präsident Wladimir Putin in einer Manier des 19. Jahrhunderts lediglich seinen Einfluss territorial ausdehnen wolle.
Selbstverständlich stellen die NATO und die Europäische Union Raumordnungen dar. Erstere wird von den USA, die zweite von Deutschland dominiert. Beide wurden nach Osten, schließlich bis an die Grenze Russlands ausgedehnt. – Insofern hätte dieser Abschnitt auch überschrieben sein können: Das andere Imperium dehnt sich wieder aus. – Dabei gibt es Kooperation und Konkurrenz. Aus Sicht der USA ist angesichts des Zerfalls der Sowjetunion eine unabhängige Ukraine Kernpunkt einer geopolitischen Neuordnung im Osten Europas. Zbigniew Brzeziński, jahrzehntelang prominenter Vordenker US-amerikanischer Globalstrategie, hob schon bald nach dem Kollaps der Sowjetunion hervor, eine unabhängige Ukraine sei „geopolitischer Dreh- und Angelpunkt“, damit Russland in einer geschwächten Position verbleibt. Das müsse fester Bestandteil einer umfassenden Strategie der USA und des Westens in Eurasien sein (16).
Geopolitisch wird die Ukraine allerdings an die EU gebunden. Der „politische“ Teil des Assoziierungsabkommens, um das es in den Auseinandersetzungen um die und in der Ukraine spätestens seit November 2013 ging, wurde am 21. März 2014 in Brüssel unterzeichnet, der „wirtschaftliche“ Teil am 27. Juni 2014. Vergleichbare Abkommen wurden mit Georgien und der Republik Moldau unterzeichnet. Die Anbindung dieser Länder an die EU ist nunmehr vertraglich vollzogen. Eine feste Zusicherung auf spätere EU-Mitgliedschaft haben sie nicht. Damit gehören sie zur äußeren Peripherie des imperialen Zentrums EU nach Osten und sind gegen Russland in Stellung gebracht. War der Osten Europas, zwischen der Ostgrenze Deutschlands und der Westgrenze der Sowjetunion beziehungsweise Russlands und darüber hinaus zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer nach dem ersten Weltkrieg der „Cordon sanitaire“ des Westens gegen die Sowjetunion und nach dem zweiten Weltkrieg der der Sowjetunion gegen den Westen, so sind diese Länder heute wieder das Vorfeld des Westens gegen Russland. Die ausgeweiteten NATO-Manöver im Baltikum, in Polen und im Schwarzen Meer sind deutlicher Ausdruck dessen und eine Gefahr für den Frieden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat stets die „Freundschaft“ mit den USA beschworen, zugleich aber die Spielräume deutscher Außenpolitik insbesondere gegenüber den USA vergrößert. Programmatisch hat sie betont, Deutschland solle gestärkt aus der Finanz- und Euro-Krise des Jahres 2008 und den folgenden hervorgehen. Heute ist es in einer dominierenden, hegemonialen Position innerhalb der EU. Gegenüber Russland hat sie stets die Menschenrechtskarte gespielt, bisher aber auch die strategische Zusammenarbeit gepflegt. 2014 wurde unter Nutzung der Politik der damaligen US-Regierung – die NATO stellt gewissermaßen den harten militärischen Unterbau zur Verfügung – die Ukraine aus dem Einflussfeld Russlands gelöst und in das der EU, das heißt Deutschlands, eingeordnet. Russland hat sich im Gegenzug die Krim genommen, was vom Westen mit Protesten quittiert wurde, aber am Ende geht man davon aus, dass Russland froh sein könne, die Beziehungen mit dem Westen, sprich Deutschland, weiter aufrechtzuerhalten. Das nachfolgende Pochen der Kanzlerin auf Sanktionen gegen Russland zielt symbolisch darauf ab, dass Russland in Sachen Übergang der Ukraine in den Machtbereich der EU endlich klein beigeben soll.
Diese Neuordnung Europas ist ein weitreichender historischer Vorgang. Hier wird etwas realisiert, woran Deutschland in zwei Weltkriegen scheiterte. Am 11. August 1914, kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges, hatte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg zu den deutschen Kriegszielen im Osten geschrieben: „Insurgierung nicht nur Polens, auch der Ukraine erscheint uns sehr wichtig; 1. als Kampfmittel gegen Russland; 2. weil im Falle glücklichen Kriegsausganges die Bildung mehrerer Pufferstaaten zwischen Russland und Deutschland beziehungsweise Österreich-Ungarn zweckmäßig würde, um den Druck des russischen Kolosses auf Westeuropa zu erleichtern und Russland möglichst nach Osten zurückzudrängen (…)“ (17). Allein auf sich gestellt, ist das Deutschland in zwei Weltkriegen nicht gelungen; gestützt auf EU und USA/NATO soll es nun realisiert werden. Da gewinnt denn Ursula von der Leyens, vormals für das Kriegswesen zuständige Ministerin, im Umfeld der Ukraine-Krise benutzter Satz eine ganz eigene Symbolik, im Grundsatz gelte: „Immer im Bündnis mit unseren Partnern. Es wird nie einen deutschen Alleingang geben“ (18). Demgemäß reicht es, wenn die NATO im Hintergrund steht. Die Ukraine muss nicht schon Mitglied der NATO sein, um diese Neuordnung unter Dach und Fach zu bringen.
Der Politikwissenschaftler Christian Hacke, ein Fossil des Kalten Krieges, meldete kurz nach der Wahl von Donald Trump zum USA-Präsidenten an, Deutschland brauche für einen Konflikt mit Russland eine eigene Fähigkeit zur „Eskalationsdominanz“; man wisse ja nicht, ob die USA unter Trump die gemachte deutsche Außenpolitik weiter abstützen. Was heißt „Eskalationsdominanz“? Hier liegen überkommene Denkschablonen des Kalten Krieges zugrunde: Es gibt einen Konflikt, die eine Seite erhöht den Druck, die andere folgt, die erste verschärft erneut und so weiter. Das kann man sich mit nichtmilitärischen Mitteln denken, wie es beide Seiten mit den Wirtschafts- und Handelssanktionen seit 2014 vorführen, oder die USA und die EU, China und andere derzeit mit eskalierenden „Strafzöllen“ praktizieren. Das kann aber auch militärisch gedacht werden: Die NATO stationiert 5.000 Mann in Nähe der russischen Grenze, als Antwort verlegt Russland an seine Westgrenze drei Divisionen zusätzlich, der Westen installiert im Osten „Raketenabwehrsysteme“, die angeblich der Verteidigung dienen, in der Tat jedoch Teil eines offensiven atomaren Kriegsführungskonzepts sind, worauf Russland im Gebiet Kaliningrad Raketen stationiert, die mit Nuklearsprengköpfen bestückt werden können und in wenigen Minuten Warschau oder Berlin erreichen.
Henry Kissinger – Sicherheitsberater und Außenminister des US-Präsidenten Richard Nixon, der für die USA in den 1970er Jahren den Friedensschluss mit Vietnam verhandelte und mit der Sowjetunion die ersten Verträge über die Begrenzung der nuklear-strategischen Waffensysteme – sagte dazu, wer eskaliert, muss auch wissen, wie er da wieder herauskommt und deeskaliert (19). Das wissen die Strategen im US-Senat und bei der NATO in Brüssel im Verhältnis zu Russland gegenwärtig nicht.
Die Dominanz in der Eskalation hat derjenige, der eine Lage verschärfen kann, ohne dass die Gegenseite wirksam etwas dagegen zu tun vermag. Der Westen hatte sie in seinem Libyen-Krieg: Russland und China mussten zuschauen und konnten gegen den Bruch des Völkerrechts und die Verletzung des Beschlusses des UNO-Sicherheitsrates nur politisch-diplomatisch protestieren.
Ein militärisches Eingreifen aufseiten der Gaddafi-Regierung hätte eine Konfrontation mit den USA und der NATO und – die Eskalation zu Ende gedacht – die Gefahr eines Atomkrieges heraufbeschworen. Umgekehrt hat Russland eine Eskalationsdominanz im Syrien-Krieg: Der Westen kann die Einsätze der syrischen Regierungstruppen und Russlands nicht verhindern, ohne seinerseits eine offene militärische Konfrontation heraufzubeschwören, deren Konsequenz der Atomkrieg wäre.
Was aber will nun Hacke? Welche Eskalationsdominanz Deutschlands gegen die Atommacht Russland meint er? Das hatte er nicht gesagt. Berthold Kohler, einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ließ dann im November 2016 die Katze aus dem Sack: Wenn Trump bei seiner Linie bleibe, werden die USA die „Verteidigung Europas“ (gemeint ist EU-Europa) in einem Maße „den Europäern“ überlassen, das sie seit 1945 nicht mehr kennen.
Abgesehen davon, dass Kohler hier den Krieg Nazi-Deutschlands gegen die Sowjetunion in die Tradition der „Verteidigung Europas“ stellte, die 1945 die USA übernommen hätten, kam er zu der Folgerung, nun stünden nicht nur höhere Ausgaben für Verteidigung und die „Wiederbelebung der Wehrpflicht“ auf der Tagesordnung, sondern auch „das für deutsche Hirne ganz und gar Undenkbare, die Frage einer eigenen nuklearen Abschreckungsfähigkeit“ gegen Moskau. Die französischen und britischen Arsenale seien dafür zu schwach (20). Das meinte die deutsche Atombombe. Dass das 2016 kein Ausrutscher war, sondern das Denken eines Teils der politisch Einflussreichen in Deutschland, wurde spätestens deutlich, als die Zeitung Die Welt im Juli 2018 Christian Hacke diese Forderung wiederholen ließ.
Im Artikel 3 des „Zwei-plus-Vier-Vertrages“ von 1990 hatten die Regierungen der BRD und der DDR den Verzicht auf die Herstellung und den Besitz von und die Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen bekräftigt und erklärt, dass auch das vereinigte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten werde. Frankreich, Großbritannien, die UdSSR und die USA erklärten im Gegenzug in Artikel 7 die Beendigung ihrer „Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes“, mit der Folge: „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.“ Demgemäß heißt: unter diesen Bedingungen. Damit wurden die deutschen Angelegenheiten, wie sie Teil des Kalten Krieges und der internationalen Auseinandersetzungen seit 1945 waren, in der Sache abschließend geregelt. Die deutsche Souveränität ist jedoch an den Verzicht auf Atomwaffen gebunden und in diesem Sinne fortdauernd konditioniert.
Offenbar fühlen sich Teile der politischen Kaste in Deutschland inzwischen wieder so stark, dass sie meinen, das alles sei Makulatur und sie könnten sich über den „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ hinwegsetzen. Da ist sie wieder, die deutsche Überhebung, die die Welt in zwei verheerende Weltkriege geführt hat! Allerdings ist auch dies wieder eine Fehlperzeption. Wenn es um die Verhinderung einer Atommacht Deutschland geht, sitzen die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges wieder in einem Boot. Alle vier.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Nikolai Bucharin, Jewgeni Preobraschensky: Das ABC des Kommunismus. Populäre Erläuterung des Programms der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki), Hamburg: Verlag der Kommunistischen Internationale 1921, Seiten 103, 105, 127. Hervorhebungen im Original.
(2) Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: Diesielbe: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin: Dietz Verlag 1974, Seite 362 und folgende.
(3) Wojciech Jaruzelski: Hinter den Türen der Macht. Der Anfang vom Ende einer Herrschaft, Leipzig: Militzke Verlag 1996, Seite 75.
(4) Im „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ zwischen der DDR und der UdSSR, zu dessen Ausfertigung Honecker mit einer großen Staatsdelegation zum Staatsfeiertag der DDR, dem 7. Oktober 1975, nach Moskau gereist war, hieß es im Artikel 1, dass beide Seiten ihre Beziehungen nicht nur der „unverbrüchlichen“, sondern auch der „ewigen“ Freundschaft und „brüderlichen gegenseitigen Hilfe“ unentwegt entwickeln und festigen würden. Zitiert nach: Neues Deutschland, Berlin, 8. Oktober 1975.
(5) Der Begriff „kommunistisch“ wird hier ausschließlich bezogen auf die Gesellschaftskonzeption und daraus hergeleitet das Herrschaftssystem, also typologisch verwandt. Ich folge hier der theoretischen Unterscheidung von Sozialismus und Kommunismus, wie sie Peter Ruben vor dem Hintergrund der europäischen Geistesgeschichte entwickelt hat: Danach sind Kommunisten jene, die die soziale Frage, die mehr oder weniger drückende Kluft zwischen arm und reich, durch die Enteignung allen wichtigen Produktiveigentums in der Gesellschaft und dessen Vergemeinschaftung lösen wollen; Sozialisten dagegen sind jene, die die soziale Frage lösen wollen, indem sie das Kapital der Kontrolle der Gemeinschaft unterstellen; sie wollen über Gesetz und Staat dafür sorgen, dass das Kapital der Arbeit untersteht, und nicht umgekehrt. Vergleiche Peter Ruben: Die kommunistische Antwort auf die soziale Frage, in: Berliner Debatte Initial, Heft 1/1998, Seiten 5 und folgende.
(6) Das äußerte sich beispielsweise auch in der bewussten Missachtung wichtiger Personen der Lothar de Maizière-Regierung bei Auslandsreisen den DDR-Diplomaten gegenüber (dazu: Birgit Malchow [Herausgeberin]: Der Letzte macht das Licht aus. Wie DDR-Diplomaten das Jahr 1990 im Ausland erlebten, Berlin 1999). Sie war Ausdruck der Distanz des der SED fernen DDR-Bürgers gegenüber deren Funktionselite, gleichzeitig aber auch von Neidgefühlen, Misstrauen und Minderwertigkeitskomplexen. Das fatale politische Ergebnis jener Konstellation war, dass im deutschen Einigungsprozess die de Maizière-Regierung bewusst auf Fachberatung aus den DDR-Institutionen weitgehend verzichtete. Die Unausgewogenheiten der Verträge zur deutschen Einheit, die alle zu Lasten der früheren DDR-Bürger gehen und sich in den Fehlentwicklungen des Einigungsprozesses noch für Jahrzehnte fortzeugen, haben vor allem diesen Hintergrund. Die westdeutsche Hochbürokratie arbeitete ungestört und zugunsten ihrer Auftraggeber die Vertragstexte und ihr „Kleingedrucktes“ aus, und der Verhandlungsführer der BRD, Innenminister Wolfgang Schäuble, schloss die Verträge gleichsam mit sich selbst ab. Im Grunde aber ist die rechtspolitische Ignoranz und Willkür, die die sowjetische Seite wie die bundesdeutsche und die DDR-Wende-Regierung gegenüber dem Rechtssystem der DDR 1990 an den Tag legten, nur die umgekehrte Gestalt des „Primats der Politik“, das die regierenden Kommunisten stets nicht nur gepredigt, sondern auch praktiziert hatten.
(7) Der Terminus wird verwendet in Anlehnung an Milovan Djilas: Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München: Kindler Verlag 1957.
(8) Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas. Dokumente und Reden, Berlin: Dietz Verlag 1976, Seite 120 und folgende.
(9) Wladimir Iljitsch Lenin: Werke, Band 33, Berlin: Dietz Verlag 1971, Seite 138.
(10) Vergleiche Jochen Franzke: Imperium unter dem roten Banner. Überlegungen zum Ende der Sowjetunion, in: WeltTrends, Nummer 6, Berlin, März 1995, Seite 69.
(11) Ebenda, Seite 70.
(12) Der Autor folgt hier dem analytischen Konzept von Paul Kennedy: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt am Main 1989.
(13) Ernst-Otto Czempiel: Nachrüstung und Systemwandel. Ein Beitrag zur Diskussion um den Doppelbeschluss der NATO, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nummer 5 vom 6. Februar 1982, Seite 29.
(14) Michael R. Beschloss/Strobe Talbott: Auf höchster Ebene. Das Ende des Kalten Krieges und die Geheimdiplomatie der Supermächte 1989-1991, Düsseldorf unter anderem1993, Seite 215 und folgende, Seiten 244 und folgende, Zitat Seite 245.
(15) Vergleiche Erhard Crome: Deutschland auf Machtwegen. Moralin als Ressource für weltpolitische Ambitionen, Hamburg: VSA-Verlag 2019.
(16) Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1997, Seiten 74, 216.
(17) Aus dem Erlass des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg an Heinrich von Tschirschky, deutscher Botschafter in Wien, vom 11. August 1914, in: Wolfgang Schumann und Ludwig Nestler unter Mitarbeit von Willibald Gutsche und Wolfgang Ruge (Herausgeber): Weltherrschaft im Visier. Dokumente zu den Europa- und Weltherrschaftsplänen des deutschen Imperialismus von der Jahrhundertwende bis Mai 1945, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1975, Seite 79. „Insurgierung“ meint Anzetteln und Schüren von Aufruhr und bewaffneten Aufständen.
(18) Ministerin von der Leyen im Zeit-Interview: Tabus beiseitelegen und offen diskutieren, in: bmvg.de, 21. August 2014 (gesehen am 11. September 2014).
(19) Vergleiche Erhard Crome: Faktencheck. Trump und die Deutschen, Verlag Das Neue Berlin, 2017.
(20) Berthold Kohler: Nach Trumps Wahlsieg. Das ganz und gar Undenkbare. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. November 2016,