Immer wieder hat sich mir der Eindruck vermittelt, dass der Frühling für viele Menschen in der westlichen Welt eine Herausforderung und zugleich Überforderung darstellt. Das hört sich eigenartig, vielleicht befremdlich an. Worum geht es?
Zunächst bleibt festzustellen, dass der sogenannte moderne Mensch zwar hin und wieder angerührt wird von der Erhabenheit und Schönheit der Natur und diese ja auch sucht, um dem Alltag zu entgehen, aber nicht wirklich aus dem Korsett seiner Rationalität und Nüchternheit ausbrechen kann — und meist auch will —, sich insofern quasi in Sicherheit bringt vor allzu starken, ihn möglicherweise tiefer anrührenden, ja überwältigenden Eindrücken.
Wenn man sich dem, was im Frühling geschieht, wirklich stellt, wenn man das allenthalben zu beobachtende Hervorbrechen, Sprießen und Sich-Manifestieren in überwältigender Fülle und Pracht tief in sich aufnimmt, nicht nur staunend und erfreut, sondern auch geistig-seelisch angerührt, geschieht eine Verwandlung, eine Transformation.
Warum? Weil sich das Wachsen und Werden schlechthin bekundet. Und zwar aus dem Unsichtbaren heraus ins Sichtbare. In die Gestalt. Ursprung und Gestalt: Ein großer und tiefer Zusammenhang, den man nicht ausloten oder zu Ende sinnen kann.
Viele macht das verlegen. Sie fürchten, sich lächerlich zu machen oder in Gefühlskitsch abzugleiten, wenn sie offen bekunden, dass sich ihre Seele gleichsam schönheitstrunken weitet. Nebenbei bemerkt: Wo mit der Blütenpracht des Frühlings geworben wird, etwa für ein Kosmetikprodukt oder für einen Urlaubsort, wird oft gnadenlos appelliert an genau diesen Gefühlskitsch, und dies aus dem Wissen heraus, dass dieser mühelos und schnell abgerufen werden kann.
Der Frühling ist in unseren Breiten immer der große Verwandler und Hervorbringer, der jäh und wie durch Zauberhand alles winterlich Erstarrte und Verborgene aufbricht und in die überwältigende Sichtbarkeit rückt, der das Ruhend-Verpuppte in die blendende Lichtfülle holt. Aus dem Quasi-Nichts treten Formen hervor, zunehmend üppiger und zahlreicher, wenn man sie lässt und nicht gleich im Lärm und Staub städtischer Ödnis erstickt und nur als modisches und schnell zu konsumierendes Flickwerk missbraucht.
Hoffnung auf eine Wende
„Nun muss sich alles, alles wenden“, heißt es in einem Gedicht von Ludwig Uhland, das Schubert eindringlich vertont hat. „Die Welt wird schöner mit jedem Tag,/man weiß nicht, was noch werden mag,/ Das Blühen will nicht enden.“ So lauten die Textzeilen. Eine Art Utopie wird offenbar, eine Verheißung, die auch immer mit Hoffnung zu tun hat. Mit Hoffnung auf die Wende, die große, befreiende Wende, die uns dem Licht verbindet und Wege aus der Ödnis weist, aus der Gewalt und dem tief innen nagenden Gefühl der Sinnlosigkeit.
So wirkt der Frühling, Naturschönheit überhaupt, geradezu sinnstiftend, und wenn nicht dies, dann doch steigernd, erhebend, ermutigend. Vielleicht gibt es doch den Sinn hinter und in allem. Vielleicht ist doch nicht alles vergeblich. Vielleicht sind wir doch nicht verloren. Vielleicht ist der von uns produzierte oder geduldete Irrsinn doch nicht das letzte Wort.
Alles, alles könnte sich wenden. Und das signalisiert das Frühlingsgeschehen. Das schwingt in ihm mit, auch wenn es oft missachtet oder als trügerisch und falsch abgewertet wird. Dann wird die Schönheit geradezu der Lüge verdächtigt, auch wenn dies eigentlich absurd erscheint.
Was den Menschen am Frühling erfreut, ist nicht nur das, was er sinnlich berückend zeigt, sondern was er über all das hinaus verkündet. Dass das Dunkel überwunden wird und das Licht siegt. Dass alles sich wenden kann und wird — was ja schon anklang —, dass die Luft voller Verheißung ist, Verheißung eines anderen, tieferen Frühlings.
Ich scheue mich nicht, geradezu von der metaphysischen Dimension des Frühlings zu sprechen. Der Frühling beweist, sozusagen grundsätzlich, dass ein schöpferisches Potenzial, auch als große Veränderung, keine Phantasmagorie ist, sondern Wirklichkeit. Dass sich Erstarrtes zu lösen vermag. Dass wir in einen großen Kreislauf integriert sind, der uns wieder ans Licht bringt. Das Licht siegt, die Fülle siegt, die Schönheit siegt. Diese Siege beglücken uns und helfen uns. Alles wird leichter, durchlässiger, offener. Der Anfang schlechthin wird spürbar. Auch das ist es.
Natürlich ist der Frühling in den Bergen ein anderer als der im flachen Norden. Und: Es gibt den eher südlichen und den eher nördlichen Frühling. Das anzuführen, erscheint fast trivial, ist es aber nicht. Eines ist der Frühling nie: eben trivial, belanglos, langweilig. Denn in ihm wird ein machtvoller Bogen gespannt. Insofern liegt eine große Spannung in der Luft. Eine große, rätselhafte Bewegung zum Anderen, Höheren, Weiteren...
Eine große Herausforderung
Im Italienischen heißt der Frühling Primavera. Man denke an das berühmte Gemälde von Botticelli. Vielleicht meint dies so etwas wie „Das erste Wahre“? Ist es das? Ist die Schönheit wahr? Was verkündet sie? Ist diese Schönheit gut? Diesen Fragen liegt die neuplatonische Gleichsetzung des Guten mit dem Schönen und Wahren zugrunde, über die jahrhundertelang hinweg gestritten wurde. Ist diese Gleichsetzung nicht doch „irgendwie“ in uns verankert, egal, was nun Wissenschaftler und Intellektuelle und Skeptiker aller Couleur dazu sagen? Ich will es zu bedenken geben.
Der Frühling im Mai 1945 soll besonders eindrucksvoll und schön gewesen sein.
Die Niederlegung der Waffen nach Jahren des mörderischen Krieges fiel mit dieser Frühlingspracht zusammen. Erschütternd und emotional kaum auszuhalten, wie aus vielen Zeugnissen ablesbar ist. Frühling und Frieden. Hölderlins großes Gedicht „Friedensfeier“ scheint auf. Was fangen wir damit an, jenseits von Sentimentalität, Kitsch und verlogenen Gefühlen?
Der Frühling ist und bleibt eine große Herausforderung. Werden wir sie bestehen?
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