Artikel 20, Absatz 3 des Grundgesetzes hat folgenden Wortlaut:
„Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“
Das ist das in der deutschen Verfassung festgeschriebene und nach Artikel 79, Absatz 3 nicht verhandelbare Rechtsstaatsprinzip.
Die deutsche Verfassungswirklichkeit hat sich davon jedoch in den vergangenen Jahren in zentralen Politikbereichen deutlich entfernt. Viele Stimmen haben immer wieder darauf aufmerksam gemacht, insbesondere mit Blick auf die Kriegseinsätze der deutschen Bundeswehr im Ausland und derzeit auch zunehmend mit Blick auf die Grundsätze der Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit nach Artikel 5 des Grundgesetzes.
Keine „Verschwörungstheorien“
Dass es sich hierbei nicht um „Verschwörungstheorien“ und „Verschwörungstheoretiker“ handelt, zeigt ein Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 22. November 2018, auf den der Verfasser dieser Zeilen vor ein paar Tagen aufmerksam gemacht wurde. Autor des Artikels war Dr. Dieter Weingärtner, von 2002 bis Ende September 2018 Leiter der Rechtsabteilung im deutschen Bundesministerium der Verteidigung. Der Artikel hat den Titel „Zur Verteidigung?“, und schon im Vorspann heißt es: „Wie sich die Bundesregierung bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr das Grundgesetz zurechtbiegt.“
„Die deutsche Sicherheitspolitik tendiert (…) dazu, die Verfassungslage zu ignorieren“.
Auch wenn der Autor selbst mit einer gewagten Gedankenakrobatik — und vielleicht seinen Dienstherren verpflichtet — am Ende seines Textes für „eine Neuinterpretation der Verfassung“ plädierte und Auslandseinsätzen der Bundeswehr politisch positiv gegenüberstand, war seine juristische Bestandsaufnahme doch recht eindeutig: „Die deutsche Sicherheitspolitik tendiert (…) dazu, die Verfassungslage zu ignorieren.“ „Dass das Grundgesetz nach seinem Wortlaut und nach seiner Auslegung durch Bundesregierung und Bundestag keine Basis für bilaterale bewaffnete Einsätze der Bundewehr oder für eine Beteiligung an einer ‘Koalition der Willigen‘ bietet, wird (…) ausgeblendet.“ „Notfalls biegt die Bundesregierung die verfassungsrechtlichen Grundlagen eines Einsatzes zurecht — und erhält auch noch die Zustimmung des Bundestages.“
Dass diese Verfassungsbrüche keine rechtlichen und politischen Kleinigkeiten sind, wird ebenfalls herausgestellt:
„Die Verfassung ist die rechtliche Grundordnung eines Gemeinwesens. Sie trifft die grundlegenden Entscheidungen der Staatsordnung. Dazu gehört die Ausübung staatlicher Hoheit, insbesondere in ihrer stärksten Form, der militärischen Gewalt.“
Der Verfassungstext ist eindeutig
Der Leiter der Rechtsabteilung im deutschen Verteidigungsministerium hätte diese Analyse schon viel früher vortragen können (und müssen); denn bei der Teilnahme der Bundeswehr am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Jahr 1999 traf dies alles auch schon zu. Aber hier soll es nicht um den Autor des Artikels, sondern um die Sache gehen. Und darum: Jeder eigenständig denkende Mensch wird zu denselben Schlüssen kommen. Der Verfassungstext ist nämlich eindeutig und für jeden ohne Mühe verstehbar.
Aber warum gibt es dann keinen die Regierung ablösenden gewaltlosen Widerstand einer großen Mehrheit der deutschen Bürgerinnen und Bürger? Warum beschränkt sich der Protest auf nur wenige? Warum konnte sich die Perversion zivilisatorischer Errungenschaften, nämlich dass jetzt Macht vor Recht gelten soll, mit all der dazugehörigen Skrupellosigkeit, bislang Schritt für Schritt durchsetzen?
Ist es nur ein Mangel an Aufklärung und Information? Oder gibt es weitere Gründe dafür?
Alfred Adler und der Erste Weltkrieg
Hier soll ein Erklärungsversuch des Wiener Individualpsychologen Alfred Adler zur Diskussion gestellt werden. Adler hat seine Gedanken vor 100 Jahren formuliert, im Jahr 1919, ein Jahr nach dem Waffenstillstand im Ersten Weltkrieg und im Jahr des Versailler Vertrages. Dieser hatte festgelegt, dass die Mittelmächte, vor allem Deutschland und Österreich-Ungarn, die alleinige Schuld am Krieg hätten. Es ist es wert, diesen Text in Anbetracht der heutigen Lage und nach 100 Jahren erneut hinzuzuziehen und seine Bedeutung für unsere Gegenwart zu durchdenken.
Adler hat diesen Text verfasst, um die schon damals verbreitete These, die Massen seien begeistert in den Krieg gezogen, zu relativieren. Adlers Zeitgenosse Sigmund Freud betrachtete den Ersten Weltkrieg als Beleg für seine These vom Aggressionstrieb des Menschen, der sich im Krieg Bahn gebrochen hätte. Adler widersprach dieser These. Er gab seiner Abhandlung den Titel „Die andere Seite. Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes“ (1).
„Erziehung“ zur Selbstunsicherheit
Eingangs deutet Adler die Bewunderung des Volkes für das Militärische in der Habsburger Monarchie vor dem Kriegsbeginn:
„Täglich war diesem Volke in den Schulen die Verehrung der Herrscherhäuser ins Gehirn gehämmert worden. (…) Gefälschte Geschichtswerke prahlten mit dem kriegerischen Ruhm des Gesamtvaterlandes (…) und verführten die Seelen der Knaben, im Kriegsmord und in den Schlachten mystische Wonne zu suchen. Von den Kanzeln predigten unablässig Tausende von beredten Zungen Knechtseligkeit und Sklavengehorsam. Jeder Lehrstuhl weihte den gelehrigen Schüler in die Kunst des Bücklings ein. In den Friedensgesellschaften gähnte die Langeweile, kein volkstümlicher Hauch fachte eine gegensätzliche Bewegung an. Zeitungen und Zeitschriften, Politiker und Parteien buhlten um die Gunst der Herrschenden.“
Sein erstes Fazit lautet: „Jahrzehntelang währte die Dressur eines weichen Volkes und erzog es zur Selbstunsicherheit und zum Gehorsam gegen die Oberen.“
Hieran schließt Adler eine Schilderung der Methoden der Herrschenden an, das Volk nach Beginn des Krieges mit allen Mitteln gefügig zu halten. Trotzdem gab es zahlreiche Versuche, nicht in den Krieg ziehen zu müssen. Offener Widerstand aber blieb weitgehend aus. Warum? Adler schreibt:
„Zu allen offenen Leistungen des Widerstands fehlte diesem Volk, dem eine Decke übers Haupt gezogen war, das einigende Band des gegenseitigen Vertrauens, ein starkes, geschultes Gemeinschaftsgefühl.“
Das ist der Mangel.
Warum Menschen nach den Losungen ihrer Unterdrücker greifen
Auf der anderen Seite steht die seelische Reaktion in diesem Mangel:
„Die meisten von ihnen (den Soldaten im Krieg) aber (…) waren nichts anderes als Opfer einer falschen Scham. (…) Eingepfercht, die Decke über dem Kopf — so hörten wir alle die unerbittlichen Rufe zum Sterben. Nirgends war ein Ausweg (…). Da taten sie, was in solcher Lage wenigstens die bedrückte Seele erleichtert: Sie machten aus der Not eine Tugend! In dem Chaos, das sich vor ihnen auftat, griffen sie nach dem Ruf, der vom Generalstab ausging, und noch widerstrebend taumelten sie bereits in die Richtung, wohin der Befehl sie wies.
Und mit einem Male war ihnen, als ob sie selbst den Ruf ausgestoßen hätten. Da wurde es ihnen lichter in ihrer Seele. Sie hatten den ersehnten Ausweg gefunden. Nun waren sie nicht mehr gepeitschte Hunde, die man gegen ihren Willen dem Kugelregen preisgab, nein, Helden waren sie, Verteidiger des Vaterlandes und ihrer Ehre! Sie selbst hatten ja den Ruf ausgestoßen, und so zogen sie als Verfechter des Rechts in den heiligen Kampf. Was dem Einzelnen noch immer verhindert hätte, das Blut von Brüdern zu vergießen, die heilige Scheu vor Menschenmord, schwand dahin im Rausche des wiedergefundenen Selbstgefühls und im Gefühl der Unverantwortlichkeit, das sich bei Massenbewegungen einstellt.
In dieser seelischen Befreiung vom Gefühl tiefster menschlicher Erniedrigung und Entwürdigung, in diesem krampfhaften Versuch, sich selbst wieder zu finden, wichen sie scheu der Erkenntnis aus, nur armselige Opfer fremder Machtgelüste zu sein, und träumten lieber von selbst gewollten und selbst gesuchten Heldentaten. (…)
Er hat den Gott des Generalstabs geschluckt, und der spricht nun aus ihm. Nicht aus Sympathie oder aus kriegerischen Gelüsten hat er sich so verwandelt. Sondern als er sich versklavt, besudelt am Boden krümmte und in seiner Herzensnot jede Richtung verloren hatte, als er sich in tiefster Schande aller Freiheit und Menschenrechte beraubt sah, da griff er, um nur irgendeinen Halt zu gewinnen, nach der Losung des übermächtigen Unterdrückers und tat so, als ob er die Parole zum Krieg ausgegeben hätte. Nun hatte er wenigstens einen Halt und war der Schande und des Gefühls seiner Erbärmlichkeit ledig.“
Keine Schuldzuweisung ans Volk, aber Kritik an den Siegermächten
Adler darf nicht missverstanden werden. Seine Analyse ist nicht mit einem Schuldvorwurf verbunden. Im Gegenteil, deutlich schreibt er: „Nein! Wer in seiner Mitte geweilt hat, wird dieses Volk von jeder Schuld am Kriege freisprechen.“ Und auch mit Blick auf die dem Krieg folgende Politik der Siegermächte sind seine Worte klar:
„Jetzt, wo das Volk mündig werden soll, wo nur ein gewaltiger Strom erwachsender Gemeinschaftsgefühle Rettung bringen kann, wo die wieder erweckte Menschenwürde nach Bestrafung der wirklich Schuldigen schreit, um das Vertrauen der Menschheit wieder zu gewinnen, bedroht uns die Regierung der Entente mit neuer Knechtschaft, foltert weiter das eben gefolterte Volk.“
Noch ist präventives Handeln möglich
Alfred Adler hat vor 100 Jahren seine Antwort auf die Frage gegeben, warum schon die ersten Schritte zur Abkehr vom Rechtsstaat und der Hinwendung zum Machtstaat eine fatale Spirale nach unten auslösen können, immer weiter weg von einem würdigen Leben, von gleicher Freiheit für alle, von Rechtsstaat und Demokratie … und schließlich vom Frieden.
Aber auch, dass es einen Schutzfaktor gibt: „(…) das einigende Band des gegenseitigen Vertrauens, ein starkes, geschultes Gemeinschaftsgefühl“.
Alfred Adler erforschte das Seelenleben der Menschen seiner Zeit, einer Zeit extremer psychischer und auch physischer Belastungen. So weit sind wir in Deutschland heute noch nicht. Aber fundamentale Schritte des Abstiegs in den reinen Machtstaat, dessen Prinzipien Lüge, Rechtsbruch und Gewalt sind, wurden in den vergangenen Jahren gemacht. Gerade weil wir noch nicht in Zeiten wie im Ersten Weltkrieg leben, sind die Ausführungen von Alfred Adler besonders überlegenswert. Noch ist präventives Handeln möglich.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Alfred Adler, „Die andere Seite. Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes“; in: Bruder-Bezzel, Almuth (Hrsg.). Alfred Adler. Gesellschaft und Kultur, Band 7 der Alfred Adler Studienausgabe, 2009, Seite 120–135