Die Zeit der (Kritik der politischen) Ökonomie ist zu Ende: Marx‘ Vorhersagen erfüllen sich, was die Entfaltung der Herrschaft der Ökonomie über alle Lebensbereiche, die grundlegende Verkehrung der Lebensverhältnisse durch das Kapital anlangt.
Die – nicht zu übersehenden – Unterschiede zur Zeit der Analysen von Marx: Die Globalisierung der mehrwertschaffenden Arbeit sowie die Verlagerung des schweißtreibenden Teils der Arbeit an die Peripherie betreffen vor allem das Bewusstsein, die Wahrnehmung der Verhältnisse. Die „Theorien“ vom „Verschwinden des Proletariats“ und damit vom Verlust seiner revolutionären Bedeutung sind Ausdruck dieses Verlusts der Sichtbarkeit von Ausbeutung und Proletariat, sowie der „Psychologie“ der „Selbstverwirklichung“ in der entfremdeten Arbeit – im Zentrum, in den Metropolen.
Bedeutet der Zusammenbruch der „sozialistischen“ Welt den „Sieg“ des Kapitalismus? Beweist dies: Der Kapitalismus produziert unvorstellbares Elend – und die Mehrheit der Bevölkerung rührt sich nicht? Allerdings: die Mehrheit welcher Bevölkerung? Die Mehrheit der Bevölkerung in den „Metropolen“ kennt das Elend ja nur, wenn sie sich dafür interessierte: Ihre Informationsmedien zeigen es ja kaum, stattdessen zeigen sie die Hochglanz-Seite des Kapitalismus.
Der Untergang der „sozialistischen“ Länder: ein Sieg der Ökonomie? Dann wären die Marxisten die schlechteren Ökonomen?
Nein, es ist die Psychologie, mit der die Kapitalisten gesiegt haben: die Verführung des Scheins – die Psychologie der „geheimen Verführer“ – gegen die Tristesse der Reduzierung auf das Nötigste; noch heute erkennen die wenigsten Marxisten die Bedeutung von Psychologie.
Auch die Analyse von Vladimiro Giacché (1) kann in dieser Richtung diskutiert werden. Er zeigt, dass die Krise von 2008 und die Versuche, diese zu bewältigen – beziehungsweise deren Scheitern – auf einen „Systemfehler“ verweisen. Er stellt fest, dass alle Versuche, diesen Fehler zu „beheben“ keine Erholung bringen und damit dass diese Krise nach einem „neuen Betriebssystem“ verlangt, also die „Eigentumsfrage ins Zentrum stellen muss, wenn man nicht im Krieg die Lösung zu sehen bereit ist (siehe auch Grundrisse, 642)“.
Was die Marxisten – im Unterschied zu Marx – nicht zur Kenntnis nehmen wollten und immer noch nicht wollen: die Bedeutung der „Psychologie“, die Bedeutung der Erzählungen, des Diskurses. Die Diskurse und die darin transportierten Erzählungen sind es, die den Kapitalismus aufrechterhalten – entgegen seinen verheerenden Folgen, Krisen und Kriegen.
Ich verstehe den „Niedergang der Erzählungen“, von dem Jean-Francois Lyotard (2) spricht, „wörtlich“: Sie werden nicht mehr nacherzählt – und deshalb nicht mehr „geglaubt“, wie man vorschnell oder oberflächlicherweise sagt. Zutreffend ist: Sie haben keine „Anhänger“ mehr. Die ehemaligen Anhänger sind zu anderen Diskursen (über)gelaufen, erzählen die dort verbreiteten und gehörten Geschichten nach.
Interessant ist doch, dass der „postmoderne“ Diskurs kleinlaut geworden ist. Entstanden war er in der Situation des „historischen Kompromisses“ – nicht nur in Italien, sondern weltweit: Die zur „neuen Klasse“ parvenue-erten Bürokraten des Staatskapitalismus, der sich als Sozialismus verstand und verkaufte, lösten diesen selbst auf und mauserten sich zu Oligarchen. Denn mit einem Mal wird klar, dass der Privatkapitalismus, der den Staatskapitalismus „beerbte“, unvergleichlich größere Schrecken, Elend und Korruption verbreitet, als jenem vorgeworfen werden konnte. Nicht zuletzt die vielbeschworene „Freiheit“ und „Demokratie“ zeigt frech ihr verludertes Gesicht. – Also, als unverbesserlicher Dogmatist könnte ich sagen: Marx hat Recht behalten – in seiner Analyse dieses Kapitalismus.
So sieht Lucien Sève (3) den Charakter unserer Epoche von zwei „Grundfragen“ bestimmt, der ökologischen und der anthropologischen. Letztere fasst er unter drei Gesichtspunkten: der in der universellen Warenherrschaft gründenden „Vermarktung des Menschlichen“, der aus der universalen Herrschaft des Tauschwerts („Geldwerts“) folgenden „Entwertung aller Werte“ und dem „unkontrollierbaren Sinnverlust“. „Die finanzgetriebene Globalisierung“, folgert er, „wird zum konvulsischen Durchbruch einer ,Un-Welt‘, in der das Absurde zusammen mit seinem Geistesverwandten, dem religiösen Fanatismus, alles mehr und mehr durchdringt.“ Und er fährt fort: „Die Kommerzialisierung des Menschlichen, die Entwertung der Werte, der Sinnverlust: Was da stattfindet, ist (…) eine Entzivilisierung“.
Statt der versprochenen friedlichen Demokratie, deren Zeit mit dem totalen Sieg des „freien Unternehmertums“ angeblich gekommen war, erleben wir eine Ausweitung der Diktatur der Gewalt. Zu sprechen sei von der „Barbarei der globalisierten Un-Welt“: „ethnische Säuberungen, bewaffnete Ausplünderung armer Länder, Terrorismus, Folter als offiziell anerkannte Methode. Hinzu kommen die verschiedenen Formen von „sauberer Gewalt“: wirtschaftlicher Verdrängungswettbewerb, Massenentlassungen für kurzfristige Börsengewinne, ausgefeilte Überwachungsmethoden in Betrieben und im öffentlichen Raum der Städte. Zur „sauberen Gewalt“ gehört auch symbolische: die missbrauchte Gutgläubigkeit, die schleichende Ausbreitung der Angst vor dem anderen, die Auszehrung der zivilen Tugenden durch den Zynismus“ (4).
Und zugleich: Der Widerstand dagegen ist weit entfernt von effektiv oder selbstbewusst zu sein. Kann man überhaupt von Widerstand reden? Ist es nicht bloßes Stammtischrumoren?
Die „geheimen Verführer“ können wir nicht durch Ignoranz besiegen – vor allem nicht durch Ignorierung der Psychologie –, aber auch nicht dadurch, dass wir selbst uns solcher Verführer bedienen: der Verführung durch einen „linken Populismus“. Bernd Stegemann plädierte 2017 (5) für eine solche Perspektive. „Das Gespenst des Populismus geht um“.
Mit diesem Plagiat mischt er sich in die Diskussion über die Möglichkeiten, dem Wachsen der Rechten etwas entgegenzusetzen oder gar Einhalt zu gebieten. Er sieht im sogenannten Populismus nicht primär eine Gefahr für die Demokratie als vielmehr ein Symptom dafür, was in ihr falsch läuft. Seine Analyse der „Dramaturgie des politischen Sprechens“ lege die Vermutung nahe, dass „die eingespielten Regeln des politischen Sprechens über Alternativlosigkeiten“ eine große Abwehr provoziert haben und lasse den sogenannten Populismus als einen „Versuch der Mitsprache“ derjenigen erkennen, „die sonst über keine Stimme verfügen“. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit für die Linke, sich selbst „populistischer Rede“ zu bedienen.
Von der anderen Seite des Rheins kommen ganz andere Schlussfolgerungen. So propagiert Didier Eribon 2018 die Rückkehr zum kritischen Denken der 68er Jahre (6). Das schließt für ihn die Kritik auch der Psychologie ein. Wie Brückner, Deleuze & Guattari und andere (7) bereits 1972 kritisiert er die psychoanalytische Selbstbeschränkung auf Individuum und Familie. Dadurch verführe sie zu einer „Entgesellschaftlichung, Entgeschichtlichung und Entpolitisierung“ ihrer Erkenntnisse, die „allein dem Narzissmus der Intellektuellen“ schmeichle (8).
Statt auf psychoanalytische Subjektivierungskategorien zu rekurrieren, plädiert er für eine Reflexion der sozialen Urteile, die die eigene Geschichte als eine politische Geschichte entlang sozialer Konzepte von Class Gender Race und Ethnicity sichtbar machen. „Alles, was ich bin, lässt sich aus meiner Herkunft erklären.“ Oder ins Theoretische übersetzt: Unsere individuelle und kollektive Existenz wird von „historischen und sozialen Determinismen“ bestimmt. Wer kritisch zu denken beansprucht, muss sich auf die Kraft dieser Einflüsse konzentrieren.
Die Fiktion der Möglichkeit eines linken Populismus verleugnet dessen Klasseninteresse – auch wenn Stegemann den gegenteiligen Eindruck erweckt: In seinem letzten Buch „Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik“ (9) kritisiert er am Beispiel der Debatte über Einwanderung, Asyl und Migration die Forderung nach offenen Grenzen. Sie blende die sozialen Folgen aus – die Verschärfung des Kampfes um Arbeitsplätze und bezahlbare Wohnungen –, vertrete also die Interessen des Kapitals.
Dass er mit diesen Argumenten die Parolen der Rechten für die Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik unterstützt, ist ihm keine Silbe wert. Die „Dramaturgie des politischen Sprechens“ ist eben nicht vom Klasseninteresse der Sprecher zu trennen. Wenn ich das trotzdem versuche und die Sprache des politischen Gegners übernehme, transportiere ich damit zugleich dessen Inhalte. Es wird suggeriert, die Oberfläche des Diskurses sei von seinem zugrundeliegenden Zweck und Subjekt zu trennen und deshalb in der Hand eines anderen Subjekts einem anderen Zweck dienstbar zu machen.
Diese Trennung von Form und Inhalt finden wir auch in der sich kritisch verstehenden psychologischen „Politikberatung“. Dort dient sie zur Verkehrung von Ursache und Wirkung: Die Antwort der Subjekte auf die ihnen vorliegenden gesellschaftlichen Bedingungen wird zur Ursache derselben verkehrt – verdreht –, „vergessend“, dass die Menschen ihre eigene Geschichte machen, aber dass sie sie „nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ machen. (10). Diese Umstände gälte es zur Kenntnis zu nehmen, und zwar nicht als unveränderbare, sondern als zu verändernde, solange der Mensch in ihnen „ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (11).
Die Verkehrung von Ursache und Wirkung, von „Mensch“ und Verhältnissen, dient der Vermeidung dieser Konsequenz. Die Psychologie als Antwort der – entfremdeten – Subjekte auf die entfremdende Organisation der Gesellschaft, wird, weil zur Ursache erklärt, auch von der Politikberatung als Lösung des Problems angeboten: Sie geht nicht an den Grund, die Wurzel, die gesellschaftlichen Verhältnisse. Und das ist ja der Grund, die Intention der Verkehrung: diese Verhältnisse so zu belassen, wie sie sind.
Die Verkehrung von Schein und Sein, der Schein, die Oberfläche, wird zum Grund gemacht, die Signifikanten der Entfremdung werden zu Signifikaten erklärt. Diese Umkehrung der Relationen ist ohnehin das Prinzip der Warenproduktion; der Fetischcharakter der Ware blendet die gesellschaftlichen Zusammenhänge aus: die Grundlage von deren „Psychologisierung“. Auch diese verleugnet die gesellschaftliche Formbestimmtheit psychologischer Prozesse und Mechanismen. Das tatsächliche Subjekt des Diskurses wird ausgeblendet. Die Psychologie der geheimen Verführer: die Verführung durch den Schein, die Blendung.
Den „geheimen Verführern“ – der Psychologisierung – kann nur mit einer Kritik „aller Verhältnisse“ begegnet werden, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (11).
Kritik also auch der politischen Psychologie
„Politisch“ ist die(se) Psychologie, weil und indem sie sich als „unpolitisch“ darstellt und zu verstehen gibt, als „allgemein gültig“, als unabhängig von Geschichte und Gesellschaft, von Produktionsweisen und Klassen. Dass alles Denken und Verhalten politisch ist, und deshalb auch die Psychologie, wussten die griechischen Philosophen, die den Menschen als zoon politikon definierten. Sie macht Politik, indem sie das Ergebnis ihrer Untersuchungen als unabhängig von den Bedingungen, unter denen sie ihre Untersuchungen durchgeführt hat, behauptet: „Verhalten ist die Funktion der Bedingungen von Verhalten“. Es ist der Behaviorismus, der diesen richtigen Satz aufgestellt hat, denn: „die Industrie ist das aufgeschlagene Buch der Psychologie“.
Die Bedingungen sind zunächst die des Experiments. Aber auch diese finden statt unter den Bedingungen der Gesellschaft, in der die Untersuchung stattfindet. Unter kapitalistischen Bedingungen zeigen sich dem Untersucher „kapitalistische“ Individuen mit kapitalistischem Denken und Verhalten. Das Kapital strebt nach Vermehrung seines Werts, verwandelt dazu alle Dinge in Werte oder Wertausdrücke und schließlich auch die Menschen selbst. Die Menschen werden un-menschlich: Sie lassen andere ertrinken, statt sie zu retten – Mittelmeer, Flüchtende, töten andere, die ihnen nichts angetan. Das ist nicht „ihre Natur“, das ist „zweite Natur“, von (unmenschlichen) Verhältnissen gemachte Natur“.
Der Kapitalismus selbst ist keine „menschliche Produktionsweise“, im Gegenteil. „Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert“, dann erst wäre meine Arbeit „freie Lebensäußerung, daher Genuss des Lebens. Unter der Voraussetzung des Privateigentums ist sie Lebensentäußerung, denn ich arbeite, um zu leben, um mir ein Mittel des Lebens zu verschaffen. Mein Arbeiten ist nicht Leben“.
„Zweitens: In der Arbeit wäre daher die Eigentümlichkeit meiner Individualität, weil mein individuelles Leben bejaht. Die Arbeit wäre also wahres, tätiges Eigentum. Unter der Voraussetzung des Privateigentums ist meine Individualität bis zu dem Punkte entäußert, dass diese Tätigkeit mir verhaßt, eine Qual und vielmehr nur der Schein einer Tätigkeit, darum auch eine nur erzwungene Tätigkeit und nur durch eine äußerliche zufällige Not, nicht durch eine innere notwendige Not mir auferlegt ist“.
„Nur als das, was meine Arbeit ist, kann sie in meinem Gegenstand erscheinen. Sie kann nicht als das erscheinen, was sie dem Wesen nach nicht ist. Daher erscheint sie nur noch als der gegenständliche, sinnliche, angeschaute und darum über allen Zweifel erhabene Ausdruck meines Selbstverlustes und meiner Ohnmacht“ (12).
Der Behaviorismus unterschlägt aber, dass die Bedingungen nicht nur die des Experiments sind – sondern die der Gesellschaft –, er reduziert auf die „Reflex“-Beziehung zwischen „S“ und „R“ (Stimulus und Response, Reiz und Reaktion). „Psychologie“ spielt hier ihre Rolle. Diese Rolle wird verdeckt durch die „politische“ – oder besser: entpolitisierende – Psychologie, die von diesen – gesellschaftlichen, politischen – Zusammenhängen abstrahiert und nur die „Reflex“-Beziehung zwischen „S“ und „R“ (Behaviorismus) oder die (Dreiecks-)Beziehung zwischen „Papa-Mama-Kind“ (Psychoanalyse) gelten lässt. Auch dadurch macht sie – die politische Psychologie – Politik. Damit tritt sie normierend auf in der praktischen Psychologie, Pädagogik und Psychotherapie.
Sie versteckt damit zugleich, dass das normierte – herrschende – Denken das Denken der Herrschenden ist, derer, die die Norm setzen. „Normierung“ ist eine der wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben der Psychotherapie. Psychotherapie ergänzt damit die Arbeit der vorausgehenden normierenden Institutionen: Familie, Schule, Berufsausbildung und Beruf, soweit diese ihre Arbeit nicht befriedigend erledigt hatten – dass sie Menschen Hilfe anbieten und zuweilen auch geben, ist der Speck, mit dem die Mäuse gefangen werden (13).
„Verhalten ist die Funktion der Bedingungen von Verhalten“ heißt zugleich: Es ist durch die „objektiven Verhältnisse bestimmt“, aber nicht „determiniert“, sondern antwortet auf diese. Die „objektiven Verhältnisse“ sind selbst von Menschen gemacht – aber nicht mit Bewusstsein –, also Ergebnis ihres Verhaltens. Hier ist die wichtige Rolle von Kritik situiert, um zwischen Freiheit und Notwendigkeit zu unterscheiden (Christoph Menke).
Die gesellschaftlichen Bedingungen sind nicht nur „horizontal“ unterschiedliche – unterschiedlich zwischen den verschiedenen Produktionsweisen –, sondern auch „vertikal“, sie unterscheiden sich ja nach den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Deshalb ist in der Antwort auf die – „objektiven“ – Verhältnisse die unterschiedliche (Klassen-)Herkunft enthalten und zugleich die Versuche, diese zu „überwinden“, die Seite zu wechseln.
Da das herrschende Bewusstsein das Bewusstsein der Herrschenden ist, ist auch das Bewusstsein nicht unbedingt der Ausdruck der jeweiligen Klassenlage – vermittelt durch Bewusstsein (ver-)bildende Anstrengungen der „ideologischen“ Apparate –, den Diskurs der Macht: dasjenige, was zwischen der Objektivität der Verhältnisse und der Subjektivität der Individuen „vermittelt“. Deshalb wird der Ort, wo die geheimen Verführer sitzen, „Medien“ genannt. Ihre Psychologie sind die Versprechen des Diskurses der Macht.
„Der Kapitalismus organisiert sich heute zunehmend von Versprechen auf Versprechen, die wiederum von neuen Versprechen abgelöst werden“ (14).
Zugleich ist nicht zu vergessen: Verführung ist immer begleitet von Zwang beziehungsweise geht Zwang der Verführung voraus, ist immer im Hintergrund. Am Beispiel des ersten Weltkriegs schildet Alfred Adler diese Vorbereitung sehr plastisch: Das Volk wurde nicht nur brutal gezwungen, sondern bereits lange vorher auch erniedrigt, „verhetzt, versklavt“. Es war bereits Jahre zuvor die stetige, umfassende „Dressur des Volkes“, die es zur Selbstunsicherheit und zum Gehorsam gegen die Oberen“ erzog, schrieb Adler 1919 (15). Der Diskurs der Macht findet willige Aspiranten eher bei denen, die der Dressur zur Selbstunsicherheit unterlegen sind.
Kritik der politischen Psychologie heute ist Kritik des Diskurses der Macht.
Der Diskurs der Macht (16) ist kein psychologisches Konzept, sondern das, was der Psychologie vorausgesetzt ist, dasjenige, worauf das Denken und Handeln der Subjekte antwortet. Das Hin und Her von Rede und Antwort findet bereits in der Dyade statt, als Austausch zwischen zweien, Ausdruck des emotionalen Bandes, das durch diesen Austausch aufrechterhalten wird. Ein Diskurs ist aber mehr als das Reden zwischen Zweien. Er übersteigt die Situation der Dyade, ist nicht gebunden an die Anwesenheit der Teilnehmer, verselbständigt sich sozusagen gegenüber den Teilnehmenden. Insofern können Diskurse als Ensembles definiert werden, die festlegen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt, von einer bestimmten Gruppe und/oder für eine bestimmte Gruppe, über einen Gegenstand gesagt werden kann, so Michel Foucault (17). Dadurch üben sie bereits Macht aus.
Der Diskurs der Macht ist aber darüber hinaus Medium nicht nur zwischen den vergesellschafteten Individuen, sondern zwischen den 99 Prozent der Bevölkerung und dem herrschenden Rest. Damit sind wir bei den „Medien“. „Dank der Vermittlung der Medien werden die unterschiedlichen Diskurse der politischen Klasse, der massenmedialen Kultur, und der akademischen Kultur miteinander verschmolzen“. „Sie kommunizieren und zielen in jedem Augenblick auf den Punkt der größten Kraft hin, um die politisch-ökonomische Hegemonie und den Imperialismus zu sichern“ schrieb Jacques Derrida 1995. Er nennt diesen Diskurs einen „herrschsüchtigen“: Er „organisiert und beherrscht überall die öffentliche Kundgebung, die Zeugenschaft im öffentlichen Raum“ (18).
Dieselben Medien bieten sich als Vermittler aller Informationen an, die wir brauchen, um uns im Alltag zu orientieren: Sie geben uns Ratschläge über das „richtige“ Verhalten, Denken, Anleitungen für die Wahrnehmung unserer Umwelt und unserer Stellung in ihr, in der Welt, dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dadurch wirken sie normativ, aber im Modus des Nahelegens, Verführens, Drängens (19).
Deshalb spielt hier das „Versprechen“ eine derartige große Rolle: Die in jedem Diskurs, ja bereits im Gespräch zwischen zweien mögliche Differenz, Diskrepanz zwischen Versprechen und Erfüllung, Realität, steigert sich im Diskurs der Macht zum Gegensatz, zur Verkehrung ins Gegenteil: Verkehrung von Krieg und Frieden, Verkehrung von Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion. Beispiele sind bereits die Bezeichnungen „Sicherheits-Konferenz“, „Verteidigungs-Ministerium“, „Innere Sicherheit“, „Verantwortung für Deutschland“ und so weiter.
Die Sprachregelungen, Bewertungen, Ratschläge, Behauptungen, Parolen dieses Diskurses der Macht entfalten ihre normative Wirkung, indem das Individuum sie übernimmt, sie weiterträgt in den Alltag seines Lebensraumes. Sie diffundieren in die Kommunikation der vergesellschafteten Individuen: In unseren Gesprächen mit den unterschiedlichen Gesprächspartnern geht es um die Vergewisserung der eigenen Position innerhalb des Diskurses der Macht, unserer „korrekten“ Haltung zu den Parolen des Diskurses der Macht; der liturgische Wechselgesang „Putin – Erdogan – Trump“ beschwört diese, oder das Echo auf Assad muss „Fassbomben und Giftgas“ lauten.
Indem wir auf diese Weise in den Chor des ceterum censeo eingestimmt haben, tragen wir wiederum bei zu seiner Aufrechterhaltung, indem wir uns an diesem Diskurs beteiligen, in ihn eintreten. Der Diskurs der Macht ist eine, wenn nicht die wichtigste, Bedingung für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der psychologischen Mechanismen der Herrschaftsstabilisierung von Seiten der Beherrschten – „kulturelle Hegemonie“ –, der invisible immaterielle Link, zwischen dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse und den vergesellschafteten Individuen.
Der Diskurs der Macht setzt die Spaltung der Gesellschaft in Klassen voraus, in Klassen mit unterschiedlicher Macht, ihre Interessen gegen die der anderen durchzusetzen, und über andere bestimmen zu können. Die Psychologie hilft, diese Spaltung hinnehmbar erscheinen zu lassen, die „99 Prozent“ zu beruhigen und Teile an sich zu binden: diejenigen, die bereit (gemacht worden) sind, die eigene Ausbeutung in die eigene Regie zu nehmen. Die anderen Teile, die davon ausgeschlossen sind, dazu zu bringen, ihre Erfahrung der Überflüssigkeit an Sündenböcken abzureagieren und so weiter. Hier also ist der Neoliberalismus zu verorten: als Diskurs des Marktes als autonomem Subjekt, mit dem versucht wird, die Subjekte aus Fleisch und Blut einzuseifen und die Praxis des Krieges gegen die Mehrheit der Bevölkerung zu verdecken – aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verdrängen.
Dabei müssen wir von den Äußerungsformen – Beschwichtigungsformen – des Neoliberalismus in den Metropolen, der Insel der glückseligen Unbedarften, die Verlagerung der kriegstreibenden Implikationen des Neoliberalismus an die Peripherie unterscheiden – Schwellenländer und Failed States, das heißt durch die Politik der Metropolen zerstörte Staaten. In Chile, dem ersten Experimentierfeld des Neoliberalismus, wurde diese Praxis nicht versteckt, im Gegenteil als Terror zur Einschüchterung inszeniert, mit über 40.000 Opfern und Tausenden von Toten (20) – der Krieg nach Innen sans phrase.
Wir sind dem Diskurs der Macht nicht ausgeliefert
Wir sind dem Diskurs der Macht nicht ausgeliefert, auch dem neoliberalen nicht: Auch das ist die „Psychologie“. Das Individuum nimmt vielmehr einen – seinen – Platz im Diskurs ein, ergreift die Parolen, versucht sie zu seinen eigenen zu machen, beziehungsweise dann als eigene auszugeben – oder widerspricht, verweigert sich diesen. Jeder Diskurs lässt immer auch die Möglichkeit zu, gegen die Regeln zu verstoßen, ihm nicht zu folgen. Bei Jean-François Lyotard (21) ruft der Hauptmann „Avanti! Und springt aus dem Schützengraben – die Soldaten rufen „Bravo!“: Auch dem Befehl des Hauptmanns mussten die Soldaten nicht folgen; darin besteht die Möglichkeit der Weigerung.
Die Perspektive der „Großen Weigerung“ nach Herbert Marcuse 1968 (22) wird hier sichtbar: als Weigerung, die Regeln des Diskurses der Macht zu befolgen. Allerdings hat die Weigerung Konsequenzen: Wie wir an der Geschichte von „Radikalen“-Erlass und Berufsverboten, Suspendierung demokratischer Rechte – Demonstrationsrecht, „Vermummungsverbot“ – seit den 68er Jahren sehen können (23), bis hin zu gleichzeitiger Militarisierung der Polizei, Krieg gegen den Terror und hin zu bürgerkriegsähnlichen Demonstrationen der Staatsgewalt bei G7 oder G20. Immer wird die Weigerung, die Regeln des Diskurses der Macht zu befolgen, staatlicherseits mit Gewalt beantwortet. Die Gewalt zeigt sich, tritt in Erscheinung – sie war nur versteckt hinter der Fassade der Regeln des Diskurses.
Aus diesem Dilemma, dass die Verweigerung nicht ohne Konsequenzen zu haben ist, bietet sich die Möglichkeit der Verleugnung an: Verleugnung der Möglichkeiten der Weigerung, des Ungehorsams, der Möglichkeit, gegen die Regeln des Diskurses zu verstoßen Es resultiert die Rechtfertigung der Anpassung, des Mitlaufens, der Anerkennung, des Dienstwagens, der Beförderung, der Erhöhung der Boni oder was es so an Handsalben gibt.
Gegen die Verleugnung hilft nur der Erfolg – bei der Überwindung der Verleugnung. Jede erfolgreiche Aktion der Befreiung wirkt ansteckend auf die bis dahin abseits Stehenden, die Verleugner. Jede Aktion, die die Verhältnisse „zum Tanzen bringt“, indem sie ihnen ihre eigene Melodie vorspielt, ruft die Begeisterung hervor, die die Bastion der alten Verhältnisse im Subjekt selbst umwirft.
Dagegen arbeiten die heimlichen Verführer auf allen Kanälen des Diskurses der Macht, um die Erfolglosigkeit von Widerstand und Protest, Empörung und Solidarität vorzuführen.
Krieg nach innen Krieg nach außen. Die Intellektuellen als Stützen der Gesellschaft?
Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie
Vom 7. bis 10. März wird in Berlin ein wichtiger Kongress stattfinden, organisiert von unserem Rubikon-Beiratsmitglied Klaus-Jürgen Bruder. Mit Vorträgen u.a. von Ernst Ulrich von Weizsäcker, Norman Paech, Michael Schneider, Arnold Schölzel, Friedrich Voßkühler und Werner Ruf. Darin wird vor allem die Rolle von Intellektuellen bei der Verbreitung von Kriegslügen und der Stabilisierung der herrschenden gesellschaftlichen Schieflage beleuchtet. Wir empfehlen unseren Leserinnen und Lesern die Teilnahme an dieser Veranstaltung wärmstens.
Email-Adresse: kongress-orga@ngfp.de
Weitere Informationen zum Kongress und Programm finden Sie unter:
https://www.ngfp.de/wp-content/uploads/2018/12/NGfP-2019-Programm.pdf
https://www.ngfp.de/kongresse/ngfp-kongress-2019/
Anmeldung: https://www.ngfp.de/veranstaltungen/krieg-nach-innen-krieg-nach-aussen/
Quellen und Anmerkungen:
(1) Vladimiro Giacché (2019). Zeit für den Systemwechsel. 12.01.2019, Rosa Luxemburg Konferenz 2019. https://www.jungewelt.de/blogs/rlk2019/347432?sstr=Giacch%C3%A9
(2) Jean-Francois Lyotard (1983): Der Widerstreit. München: Fink 1987
(3) in Le Monde diplomatique im November 2011
(4) zit.n. Thomas Metscher (2018) Begriffene Zukünftigkeit. Über die Notwendigkeit einer konkreten Utopie als Bestandteil des Marxismus. https://www.jungewelt.de/artikel/324734.begriffene-zuk%C3%BCnftigkeit.html?sstr=Thomas%7CMetscher%7CBegriffene%7CZuk%C3%BCnftigkeit
(5) Bernd Stegemann (2017). Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie. Berlin: Theater der Zeit
(6) Jean-Jacques Abrahams (1969). Der Narr mit dem Tonband oder Die psychoanalysierte Psychoanalyse. (L’Homme au magnétophone. In: "Les temps modernes" 1969) dt.in: Jetzt werden Sie analysiert, Doktor! / Jean-Jacques Abrahams. Mit e. Kommentar von Jean-Paul Sartre. Aus d. Franz. übers. von Hans-Horst Henschen. München : Rogner und Bernhard 1977; neu in: Jean-Paul Sartre. Plädoyer für die Intellektuellen, Reinbek: Rowohlt 1995, S. 259-271 Brückner, Peter (1972): Marx, Freud. [wieder abgedruckt in und zitiert nach: Peter Brückner (1984): Vom unversöhnlichen Frieden. Aufsätze zur politischen Kultur und Moral. Berlin (Wagenbach), S. 65-98]; Deleuze, Gilles & Felix Guattari (1972): L'Anti-OEdipe. Paris: Nouvelle édition augmentée [dt.: Anti-Ödipus. Frankfurt/M. Suhrkamp 1974]; s.a. Bruder, Klaus-Jürgen (1973). Entwurf der Kritik der bürgerlichen Psychologie. In: KJB (Hg.) Zur Theorie des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft. Frankfurt/M.: Fischer, 1973; s.a. Bruder, K.-J. (2006): Die Freudsche Erzählung von Ödipus als Mythos der Macht. In: Klaus-Jürgen Bruder & Almuth Bruder-Bezzel (Hrsg.): Individualpsychologische Psychoanalyse. Frankfurt/New York (Peter Lang), 163-183. http://web.fu-berlin.de/postmoderne-psych/texte/bruder_die_freudsche_erzaehlung.htm Didier Eribon: Der Psychoanalyse entkommen. Turia und Kant Verlag, Wien 2017; Didier Eribon: „Grundlagen eines kritischen Denkens“. Aus dem Französischen von Oliver Precht. Verlag Turia + Kant, Wien 2018
(9) Bernd Stegemann (2018) „Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik“. Berlin: Matthes & Seitz; s.a. Kai Köhler (2019) Politische Tabus. Gegen Identitätspolitik: Bernd Stegemann kritisiert in „Die Moralfalle“ Fehler von Linken. jW 25.01.2019, S, 12; https://www.jungewelt.de/artikel/347892.kritik-des-linken-moralismus-politische-tabus.html
(10) Karl Marx (1852) Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, S. 115)
(11) Marx, Karl (1843/44 a). Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW 1, Berlin: Dietz Verlag 1970, S. 378-391, S. 385
(12) Marx, Karl (1844 b). „Auszüge aus James Mills Buch „Eléments d’économie politique“. Trad. Par J. T.Parisot, Paris 1823, in: MEW Ergänzungsband Erster Teil, Berlin: Dietz Verlag 1968, S. 443 – 463, S. 463
(13) Das alles hält gute Therapeuten nicht davon ab, zu durchschauen und in ihre therapeutische Arbeit hineinnehmen.
(14) wie Franz Schandl in einer Rezension der „Kritik des Digitalen Kapitalismus“ von Michael Betancourt in den Streifzügen Nr. 73, Sommer 2018 schreibt. [www.streifzuege.org]; jW vom 12.07.2018, Seite 11 / Feuilleton; https://www.jungewelt.de/artikel/335842.versprechen-auf-versprechen.html; [12.07.2018].
(15) In: Alfred Adler (1919). „Die andere Seite. Eine Studie über die Schuld des Volkes“. In: Werke Bd.7: Gesellschaft und Kultur (1897-1937), hrsg. Von Almuth Bruder-Bezzel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 120 – 130, S. 121.
(16) Bruder, Klaus-Jürgen (2002). http://klaus-juergen-bruder.de/phantasma-der-macht; Bruder, Klaus-Jürgen (2005). Das Unbewusste, der Diskurs der Macht. In: Michael Buchholz und Günter Gödde (hrsg.). "Macht und Dynamik des Unbewußten - Auseinandersetzungen in Philosophie, Medizin und Psychoanalyse", Bd. II, Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 635-668; Bruder, Klaus-Jürgen (2009). Die Lüge: das Kennwort im Diskurs der Macht. In: Klaus-Jürgen Bruder & Friedrich Voßkühler: Lüge und Selbsttäuschung. Göttingen: Vandenhoeck. Reihe Philosophie und Psychologie im Dialog. Jüttemann, Gerd & Christoph Hubig (Hrsg.); Peter Brückner (1978) hatte in diesem Zusammenhang vom „verinnerten Staat“ gesprochen: der - in „Westdeutschland“ - den sozialen Frieden und die kulturelle Hegemonie der herrschenden Klassen gesichert“ habe (S. 149), indem er den Bürger zu „reflexartigem Unterwerfungsverhalten“ (S. 133) gebracht hatte.
(17) Foucault, Michel (1970). L’ordre du discours. Paris: Gallimard 1971. [dt.: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970, Fankfurt/M.: Suhrkamp 1977].
(18) Derrida, Jacques (1993). Spectres de Marx. Paris [dt.: Marx' Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt/M.: Fischer 1995]. Seiten 90ff.
(19) Im Unterschied (Gegensatz) zu dem von Freud analysierten Prozess der Umsetzung von äußerem Zwang in inneren (1915, S. 333) als Verinnerlichung, oder Brückner (1972, S. 26): Übernahme der Herrschaft in eigene Regie.
(20) lt. Angaben einer chilenischen Regierungskommission https://www.handelsblatt.com/politik/international/militaerdiktatur-chile-erhoeht-offizielle-opferzahl-auf-40-000/4512946.html?ticket=ST-890482-Ms2eeQayQCBjLNAbhhQm-ap1 vom 18.08.2011
(21) Lyotard, Jean-François (1983/1987). Le Différend (Collection „Critique“) Paris 1983. Les Editions de minuit, Seite 46. [dt.: Der Widerstreit. München: Fink 1987].
(22) Marcuse, Herbert (1968). Das Ende der Utopie. In Ders., Psychoanalyse und Politik. Frankfurt und Wien: Europäische Verlagsanstalt / Europa Verlag, S. 69 ff..
(23) die Jahre davor nicht zu vergessen: die sogen. „Notstandsgesetze“ sind immer noch in Kraft, das KPD-Verbot ist immer noch nicht aufgehoben!