Hubertus Heil, amtierender Arbeits- und Sozialminister, hat einen Vorschlag für eine Grundrente zur Diskussion gestellt, der helle Aufregung erzeugt. Sein Vorschlag geht in der Systematik und in der Rentenhöhe über die bisherigen Vorschläge der großen Koalition hinaus. In Heils Konzept sollen die Renten von Geringverdienern maximal verdoppelt werden, wenn sie 35 Jahre Beiträge zur Rentenversicherung erbracht haben. Teilzeitarbeit, Kindererziehungs- und Pflegezeiten zählen in dem Vorschlag zu den Beitragsjahren.
In dem Konzept gibt es allerdings eine Obergrenze, die nicht überschritten werden darf. Sie besteht in 80 Prozent der Durchschnittsrente bei 35 Beitragsjahren. 2019 sind das 896,84 Euro brutto. Dieser Betrag ergibt sich aus dem Rentenwert von 2019 in Höhe von 32,03 mal 0.8 Entgeltpunkte mal 35 Beitragsjahre.
Davon gehen 10,8 Prozent für die Kranken- und Pflegeversicherung ab, so dass sich eine Nettogrenze von circa 800 Euro ergibt. Heils Grundrente, GSR, hat also als Basis die durchschnittliche Grundsicherung Hartz IV und geht deswegen nur bis zur Obergrenze von 896,84 Euro.
Schematisch lassen sich die Leistungen aus der Grundsicherungsrente (GSR) so darstellen:
Es ist also falsch zu behaupten, dass alle Renten, die unterhalb der Grundsicherung liegen, verdoppelt werden. Die Verdoppelung trifft nur für eine Rente von 448,42 Euro zu.
Laut Heil kommt eine Friseurin, die immer Mindestlohn verdient hat, auf 960,90 Euro Bruttorente. Sein Beispiel, vorgestellt zuerst in der Bildzeitung am 2. Februar 2019, ist insofern verwirrend, weil hier plötzlich 40 Arbeitsjahre unterstellt werden. Daraus folgt, dass die Renten aus Beitragsjahren über 35 hinaus dem Grundbetrag von 896,84 zugerechnet werden. Je mehr Beitragsjahre über 35, desto höher die persönlich erworbene Rente und damit die Grundrente.
Erstes Beispiel: Frau Müller hat mit 35 Beitragsjahren eine persönliche Rente von 650 Euro brutto. Das entspricht einem Entgeltpunkt von 0,58 beziehungsweise einem Rentenanspruch von 18,26 Euro pro Jahr. Nach Heils Plan werden die 5 Jahre oberhalb der Obergrenze von 35 Jahren dem Grundbetrag von 896,84 zugerechnet. Dadurch beträgt die neue persönliche Grundrente 988,14 Euro brutto oder 881,42 Euro netto. Die Grundrente erhöht in diesem Fall die Bruttorente um 247,74 Euro.
Zweites Beispiel: Herr Meier hat nach 35 Beitragsjahren eine persönliche Rente von 750 Euro. Sein durchschnittlicher Entgeltpunkt ist 0,67 Prozent. Das entspricht einer Rente von 21,46 pro Jahr. Wurden aber 41 Beitragsjahre erbracht, beträgt die neue persönliche Grundrente 1.025,50 Euro brutto oder 914,75 Euro netto. Die Grundrente erhöht in diesem Fall die Bruttorente um 146,74 Euro gegenüber dem jetzigen Stand.
Das dritte Beispiel beschreibt den höchsten Betrag, der mit Heils Grundrente erreicht werden kann. Die Rente kann maximal bis zu einem Entgeltpunkt von 80 Prozent des Rentenwerts aufgestockt werden. 0,8 durchschnittliche Entgeltpunkte ergeben in 35 Beitragsjahren genau 896,84 Euro. Angenommen, jemand arbeitet nun 45 Jahre zu diesem Wert beitragspflichtig, so erhält er 1.153 Rente brutto. Er erhält keine Förderung mehr durch die neue Grundrente. Die maximale Nettorente, die erreicht werden kann, liegt nach 45 Beitragsjahren bei 1.028,48 Euro. Alle Zahlen basieren auf: „Zahlen und Tabellen der gesetzlichen Rentenversicherung-Werte West 1.1 – 30. 6. 2019“.
Die Erhöhung der Renten nach dem Modell von Heil ist, wie die Beispiele zeigen, signifikant und deutlich über dem bisherigen Modell der großen Koalition, das nur eine Erhöhung um 10 Prozent oberhalb der Grundsicherung, also um maximal 80 Euro, vorsah. Heils Modell bringt im Durchschnitt ungefähr eine Erhöhung von 150 bis 200 Euro, allerdings nur für Rentner, die deutlich mehr als 35 Jahre gearbeitet haben.
Die Grundrente sollen alle RentnerInnen erhalten, nicht nur NeurentnerInnen. Ferner soll es keine Einkommensprüfung geben. Die Grundrente ist also keine Sozialhilfeleistung, sondern eine echte persönliche Rente. Dadurch wird eine relativ große Personengruppe erfasst. Weil auch Vermögen nicht angerechnet werden soll, und somit Riesterrenten und Betriebsrenten zusätzliches Einkommen bilden, hat eine ziemlich große Rentnergruppe im Alter durchaus Vorteile.
Heils Vorschlag – Teufelswerk?
Heils Vorschlag traf gleich nach Bekanntgabe auf harsche Kritik. Vertreter von Wirtschaftsverbänden, Sozialpolitiker von CDU, FDP und AfD, konservative Wirtschaftsprofessoren und der größte Teil der Presse erhoben ein lautes Geschrei. Als Beispiel für viele Kritiker und die Heftigkeit der Kritik zitiere ich den bekannten Renten- und Demografieexperten Bernd Raffelhüschen:
„Das Konzept ist an Absurdität nicht zu überbieten. Alles, was man falsch machen kann, hat Herr Heil falsch gemacht. Er bricht mit jedem Fundamentalprinzip der sozialen Sicherung. Nichts bleibt mehr übrig“ (Focus Online, 5. Februar 2019).
Den Kritikern ist besonders ein Dorn im Auge, dass keine Bedürftigkeitsprüfung stattfinden soll.
„Es ist gerecht, wenn ich den Armen helfe“, argumentiert Raffelhüschen. „Aber es ist genauso gerecht, dass der Arme mir sagen muss, dass er arm ist. Warum soll ich denn die Gattin eines Einkommensmillionärs, die selbst nur wenig verdient hat, als Arme mit 200, 300 oder 400 Euro beglücken? Das würde Herr Heil machen und damit komplett das Gerechtigkeitsprinzip der sozialen Sicherung brechen.“ Raffelhüschen folgert im selben Focusbericht: „Alles ist völlig unausgegoren, kompletter Populismus.“
Klassischer Populismus ist aber das Beispiel der Millionärsgattin, das Raffelhüschen konstruiert. Heils Konzept gilt für ArbeitnehmerInnen, die langjährig zu niedrigen Löhnen gearbeitet haben. Als langjährig versichert gilt, wer mehr als 35 Jahre bis zu 45 Jahren beitragspflichtig gearbeitet hat. Es dürfte kaum eine Millionärsgattin oder als MTA beschäftigte Zahnarztgattin geben, die diesem Personenkreis angehört.
Raffelhüschen und andere Kritiker wollen aber in Wirklichkeit verhindern, dass viele Familien im Alter der Armut entkommen. Dafür noch einmal das zweite Beispiel:
Eine Rentnerin hat als langjährig Versicherte 650 Euro netto an Rente. Sie ist mit einem Rentner verheiratet, der selbst 900 Euro netto an Rente erhält. Damit liegt ihr Paareinkommen über der Grundsicherung. Sie müssen zusammen von 1.550 Euro in sehr bescheidenen Verhältnissen leben. Wird die niedrige Rente auf 914,75 Euro aufgestockt, steigt das Paareinkommen auf 1.814,75 Euro. Das wäre sehr zu begrüßen und dieser Fall dürfte auch sehr viel verbreiteter sein als Raffelhüschens demagogische Konstruktionen. Und gerade weil Heils Vorschlag Geld kostet, wird das Geschrei erhoben.
Kritiker wie Raffelhüschen lamentieren über Gerechtigkeit und die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes. Ohne mit der Wimper zu zucken, akzeptieren solche Leute aber, dass der scheidende Chef von Daimler, Zetsche, laut Spiegel Online vom 27. Januar 2019 ein tägliches Ruhestandsgeld von 4.250 Euro erhält. Sie selbst füllen sich mit allerhand Tricks ebenfalls die Taschen, ohne jemals in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen. Sie halten Armut im Alter für gerecht, weil ja angeblich persönlich wenig geleistet wurde, während sie selbst vor Leistung platzen. Ihnen ist nur daran gelegen, die Ausgaben der Rentenkassen und des Staates niedrig zu halten und Forderungen der unteren sozialen Schichten abzuwehren. Ihre Kritik ist im Kern unseriös.
Die Kritik des Bündnis „Rente – zum – Leben“ an Heils Grundrente
1.) „Jemand, der über Jahrzehnte etwas geleistet hat, hat das Recht, deutlich mehr Rente zu bekommen als jemand, der nicht gearbeitet hat“, begründet Hubertus Heil in der Rheinischen Post vom 7. Februar 2019 seine Grundrente. Er argumentiert damit selbst demagogisch. Sein Kriterium für Leistung sind 35 Beitragsjahre. Die stellt er Personen gegenüber, die nicht gearbeitet haben. Aber was ist mit denen, die bis 34 Jahre Beiträge erbracht haben? Haben die nichts geleistet? Es sind im Rentenbestand immerhin circa dreimal so viel RentnerInnen, die weniger als 35 Beitragsjahre haben, als langjährig Versicherte, für die allein sich Heil mit seiner Grundrente einsetzt. Diese 7,7 Millionen RentnerInnen, mit weniger als 35 Beitragsjahren, erhielten 2017 eine Durchschnittsrente von 620 Euro (Rentenversicherung in Zeitreihen, Oktober 2018, Ss. 189 und 201). Sie bleiben vielfach auf die bestehende Grundsicherung angewiesen.
Heils Vorschlag spaltet die RentnerInnen objektiv in angeblich “Leistungsbereite“ und “Nichtleistungsbereite“. Und Leistung bemisst sich bei ihm allein an Beitragsjahren. Er nennt die Grundrente auch Respektrente. Das ist grob respektlos gegenüber allen anderen und im Denken ebenso bürgerlich konservativ wie Raffelhüschen.
2.) Maßstab für uns ist nicht irgendein Leistungsbegriff sondern der notwendige Bedarf, das Existenzminimum. Heil geht bei seinem Konzept von Hartz IV/Sozialhife aus. Deswegen beginnt sein Modell mit 800 Euro netto. Das ist für uns kein Maßstab. Alleinstehende erhalten nach Hartz IV 424 Euro Regelsatz. Darin sind 0,96 Euro fürs Frühstück und je 1,95 Euro für Mittag- und Abendessen enthalten, insgesamt 4,86 Euro pro Tag.
Das bedeutet Mangelernährung. Für öffentliche Verkehrsmittel sind pro Tag 73 Cent, für Bildung 3 Cent vorgesehen. Für Café- oder Kneipenbesuche, die Bewirtung von Gästen, ein Fläschchen Bier beziehungsweise eine Packung Zigaretten gibt es kein Geld. Rücklagen für Anschaffungen und Reparaturen zu bilden, ist unmöglich. Das macht gesunde Ernährung und gesellschaftliche Teilhabe unmöglich. (Vgl. dazu: „Eckregelsatz Hartz IV: Mindestens 600 Euro statt 416“, Klartext – info - de. 16.12.2018. Die Daten sind aktualisiert.).
Aufgrund dieser Tatsachen halten wir mindestens 600 Euro Regelsatz für unerlässlich; für Wohnen und Heizenergie muss im Bundesdurchschnitt mindestens 450 Euro berechnet werden. Eine Mindestrente für Alleinstehende muss deswegen als unterste Grenze 1.050 Euro netto betragen.
Ich erinnere daran, dass in Heils Grundrente die maximale Nettoleistung nach 45 Versicherungsjahren 1028,48 Euro ist. Das liegt immer noch unterhalb des von uns geforderten Existenzminimums von 1.050 Euro für alleinstehender RentnerInnen.
3.) Die Mindestrente von 1.050 Euro muss allen Menschen in unserem Land gewährt werden. Es ist kein Arbeitseinkommen und keine Rente. Es ist eine sozialstaatliche Hilfeleistung, die Einkommen und Renten aufstockt. Eine einmalige Prüfung der ständig zufließenden Einkommen ist deswegen notwendig. Nicht erforderlich ist dagegen eine Vermögensanrechnung.
4.) Die Einführung einer Mindestrente von 1.050 Euro ist dringend erforderlich, weil immer mehr Erwerbstätige im Alter nur Renten unterhalb dieses Niveaus erzielen. Es ist anzunehmen, dass 60 Prozent aller RentnerInnen 2040 weniger als 1050 Euro Rente haben werden. Das beweist, dass das Rentensystem in unserem Land kaputt reformiert wurde. Verantwortlich dafür sind solche Politiker wie Heil, Scholz, Nahles und andere.
Auch die Standardrente, die Rente nach 45 Beitragsjahren bei durchschnittlichem Entgelt von 1.285,68 Euro sichert nur ein bescheidenes Leben im Alter. Es beweist, dass die Renten in Deutschland insgesamt viel zu niedrig sind. Da hilft es auch nicht, wenn eine einzelne Gruppe etwas gefördert wird. Das gesamte Rentensystem muss auf eine neue Grundlage gestellt werden. Wir brauchen eine Versicherung, in die alle Bezieher von Erwerbseinkünften, auch Zetsche, Heil und Raffelhüschen, einzahlen. Dazu trägt Heils Vorschlag nichts bei. Bildlich gesprochen: Der verschlissene Armutsrock wird nur an einer Stelle dürftig geflickt.
5.) Die Realisierungschancen von Heils Grundrente für langjährig Versicherte mit geringen Entgeltpunkten sind gering. Durch den Koalitionsvertrag ist Heils Vorschlag nicht gedeckt. Führende PolitikerInnen der CDU haben sich klar dagegen ausgesprochen und die SPD hat nicht vor, die Regierungsbank zu verlassen. Es wird also vorerst nichts werden mit der Grundrente. Herr Heil weiß das sehr wohl. Was also bleibt ist sozialdemokratisches Wahlkampfgetöse.