Christa Schaffmann: Vor mehr als 45 Jahren ist der Bericht des Club of Rome unter der Überschrift „Grenzen des Wachstums“ erschienen. Seitdem hat sich an dem Streben nach hohen Wachstumsraten in der Wirtschaft wenig geändert. Haben sich die Verfasser des neuen Berichts („Wir sind dran“) deshalb für einen Titel ohne eine messbare Größe wie Wachstum entschieden?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Der Titel ist bewusst doppeldeutig gewählt: zum einen als klare Ansage, dass wir etwas tun müssen, zum anderen als ernste Warnung davor, dass unser Planet massiv beschädigt würde, wenn wir nicht das Richtige tun. Was die Wachstumsideologie betrifft, so haben Sie Recht. Aber genau dieses beschleunigte Wachstum und die Verdoppelung der Erdbevölkerung brachten uns zu der Erkenntnis, dass wir mitten in einer philosophischen Krise stecken, ohne uns dieser bewusst zu sein. In seiner großartigen Enzyklika Laudato Si schreibt Papst Franziskus dazu:
„Wenn die Produktion steigt, kümmert es wenig, dass man auf Kosten der zukünftigen Ressourcen oder der Gesundheit der Umwelt produziert. Wenn die Abholzung eines Waldes die Produktion erhöht, wägt niemand in diesem Kalkül den Verlust ab, der in der Verwüstung eines Territoriums, in der Beschädigung der biologischen Vielfalt oder in der Erhöhung der Umweltverschmutzung liegt. Das bedeutet, dass die Unternehmen Gewinne machen, indem sie einen verschwindend kleinen Teil der Kosten einkalkulieren und tragen.“
Mit anderen Worten: Für ihn besteht das zentrale Problem in einer kurzfristigen Wirtschaftslogik, die die wahren Kosten ihrer langfristigen Schäden für Natur und Gesellschaft ignoriert.
Das ist richtig, aber – wenn ich das sagen darf – auch nicht so neu.
Wir haben uns gefragt, warum das irgendwann zum Problem wurde, nachdem es in der Geschichte der Menschheit lange gut funktioniert hat. Dabei sind wir auf Herman Daly und den von ihm geprägten Begriff der „Leeren Welt“ gestoßen – einen Gegenpol zu unserer heutigen „Vollen Welt“. In der „Leeren Welt“ waren Jagd, Fischfang, Waldrodung, Bergwerke noch das Normalste von der Welt. Heute besteht die nachhaltige ökonomische Optimierung in der Hauptsache darin, solche Tätigkeiten scharf zu kontrollieren und zu begrenzen.
Wir konstatieren auch, dass die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts in der „Leeren Welt“ stattfand und dass die Aussagen eines Adam Smith und eines David Ricardo für diese Welt sehr vernünftig und glaubwürdig waren. Die Reichweite des Marktes war identisch mit der Reichweite des Staates, des Rechts und der Moral. Für Ricardo blieb das Kapital – damals hauptsächlich Produktionskapital – selbstverständlich ortsfest …
… während der Markt, vor allem der Finanzmarkt, heute global ist und der Produktionsfaktor Kapital mit Abstand der mobilste Faktor und immer auf der Suche nach der höchsten Kapitalrendite. Und zu welcher Schlussfolgerung hat diese Erkenntnis die Autoren des Berichts geführt?
Zu der umstürzlerisch anmutenden Auffassung, dass unsere Welt eine neue Aufklärung benötigt. Die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts war eine philosophische Befreiung von den erstickenden und autoritären Strukturen des Mittelalters. Sie leitete auch eine wissenschaftliche Blüte und im Gefolge die Industrielle Revolution ein. Aber sie hatte auch Schwächen, die man gerne verdrängt: Sie führte zu einer Überheblichkeit Europas und wurde zu einer Legitimationsgrundlage für die Kolonisierung, das heißt Eroberung des größten Teils der Welt durch europäische Armeen. Sie enthielt als Kernstück die Lobpreisung von Individualismus, Egoismus, Utilitarismus, Fortschritt und freien Märkten. Und später, hauptsächlich im späten 19. und im 20. Jahrhundert, wurde sie zu einer Legitimationsgrundlage für eine Ökonomie des gnadenlosen Wettbewerbs.
Die „alte“ Aufklärung enthält aber auch starke Komponenten der Rechthaberei: Wahrheitssuche besteht oft darin, dass einer, der Recht zu haben glaubt, die Aussage seines Gegners, dem er Unrecht unterstellt, zu zertrümmern sucht. Das ist in der Mathematik und der analytischen Naturwissenschaft in den meisten Fällen legitim. Bei den großen politischen und zivilisatorischen Streitfragen ebenso zu verfahren, kann jedoch total in die Irre führen. Stattdessen brauchen wir einen Sinn für Balance. Das ist der positive Kern unserer Forderung nach einer neuen Aufklärung.
Bitte erklären Sie das an einem Beispiel.
Fangen wir mit der Dogmatik der Geschwindigkeit an. Die wirtschaftspolitische Anbetung der „Innovation“ verlangt, dass in der Welt des Wettbewerbs eine hohe Prämie auf Geschwindigkeit gezahlt wird. Für die Mehrheit der Menschen ist diese permanente und sich sogar beschleunigende Innovation Quelle der großen Verunsicherung. Aus Bequemlichkeit lädt man die Verzweiflung über diese Verunsicherung gerne bei den Politikern ab. Bestünde hingegen ein zivilisatorisches Verständnis für die Tugend der Balance, könnte diese Art der „Übertragung“ stark abgemildert werden.
Balance auch zwischen Arm und Reich? Wollen Sie die Widersprüche der Klassengesellschaft philosophisch aufheben?
Im politischen Raum gibt es den dauernden Streit zwischen der Priorisierung der Gerechtigkeit und der Priorisierung der Leistungsanreize. Aber heißt das, dass eine Seite Recht hat und die andere Unrecht? Kaum. Gute Politik muss eine Balance finden zwischen Gerechtigkeit und Leistungsanreiz. Dann wird die Betrachtung der Politiker der „linken“ und der „rechten“ Seite nicht mehr mit Zorn im Bauch vollzogen, sondern mit der – individuell verschiedenen – Abwägung, ob einem in der gegenwärtigen Lage die Gerechtigkeit („links“) oder der vermehrte Leistungsanreiz („rechts“) wichtiger ist.
In der Realität wird der Leistungsanreiz allerdings stärker belohnt als die Gerechtigkeit. Man sieht es daran, dass in fast allen Ländern der Welt der Abstand zwischen Arm und Reich in den letzten 25 Jahren zugenommen hat.
Deshalb kommt es weltpolitisch nun darauf an, auch hier wieder mehr Balance zu schaffen, also denjenigen, die durch Innovation und Leistung „unanständig“ reich geworden sind, Akte der Gerechtigkeit aufzuzwingen. Solange man aber – wie im angelsächsischen Kulturraum üblich – den gnadenlosen Wettbewerb als naturgesetzlich, also unvermeidbar ansieht, wird jeder übernationale Eingriff in die Ungerechtigkeit als ungerecht, zerstörerisch oder zumindest fortschrittshemmend angesehen und scharf abgelehnt.
Sprechen Sie von einem Kulturkampf zwischen alter sozialdarwinistischer Aufklärung und neuer balanceorientierter Aufklärung?
Der Club of Rome spielt sich nicht als politischer Schiedsrichter auf, sondern nähert sich der Aufgabe friedensstiftender Balance eher von der philosophischen Seite. Wir konstatieren, dass es – für die Physik seinerzeit höchst überraschend – in der Quantentheorie selber bereits Phänomene der Balance gibt, oder genauer der Komplementarität.
Wir vermuten, dass eine neue Aufklärung gut daran tut, sich mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft „auf gleicher Augenhöhe“ auseinanderzusetzen. Erst dann haben wir unseres Erachtens eine echte Chance, auf dem Weg über die Philosophie eine gute Grundlage auch für die große zivilisatorische und politische Auseinandersetzung zu schaffen.
Unser Buch bleibt jedoch nicht bei dieser eher abstrakten philosophischen Erörterung stehen, sondern geht in dem quantitativ längsten Teil auf die pragmatische Politik der Nachhaltigkeit ein. Da kommen konkrete Vorschläge zu einer Re-Regulierung der Finanzmärkte, zum Klimaschutz, zur ökologisch tragfähigen Landwirtschaft, zur Dezentralisierung der Energieerzeugung sowie zur Kreislaufwirtschaft vor.
Die Arroganz des Kapitals müsse wieder in die Schranken gewiesen werden, haben Sie an anderer Stelle gesagt. Durch wen? Haben Staaten heute überhaupt noch die Macht, diesem Wachstumswahn Einhalt zu gebieten? Können sie noch umdenken und umlenken, oder ist die Macht der Konzerne nicht schon viel zu groß, als dass sie aufgrund staatlicher Appelle allein ihren Kurs ändern werden? Brauchen wir andere Gesetze oder andere Anreize, die stärker wirken als die Aussicht auf Profit?
Es gibt da erstens das Phänomen, dass Wachstumsanbeter heute hauptsächlich die Staaten sind. Ich kenne keinen einzigen Staat, der der Wirtschaft widersprechen würde, wenn diese Wachstum will.
Einspruch: Positive Wachstumsprognosen euphorisieren Aktienmärkte und Konzerne.
Ja, auch dort sitzen Wachstumsanbeter. Ich sehe aber die Möglichkeit einer Art von Konsens darüber, dass das, was man heute Bruttoinlandsprodukt (BIP) nennt, in Wirklichkeit gar kein Wohlergehens-Maßstab ist, weil BIP eben auch Verkehrsunfälle enthält, die ja nun wirklich die Lebensqualität nicht steigern. Aber: Das BIP ist dennoch ein recht zuverlässiger Gradmesser für zwei Heiligtümer der Politik – Arbeitsplätze und Steueraufkommen. Beides geht stramm mit dem BIP zusammen. Wehe dem Politiker, der auch nur die Andeutung von weniger Beschäftigung machen würde! Er wäre sofort politisch tot. Auch Politiker, die öffentlich erklärten, auch weniger Steuereinnahmen wären akzeptabel, bekämen Probleme.
Das heißt: Es geht nicht um die Aufklärung, dass das BIP kein Wohlergehens-Maßstab ist, sondern um die Frage, wie man aus der festen Kopplung zwischen BIP und Beschäftigung und zwischen BIP und Steueraufkommen herauskommt. Solange wir dies nicht entflechten, haben wir politisch kaum eine Chance gegen das BIP. Auch ein Verkehrsunfall schafft Beschäftigung. Und dieses ist von berühmten Vertretern der ökologischen Ökonomie wie Robert Constanza, Herman Daly und anderen, die die Fehlleitung durch das BIP kritisieren, nie wirklich respektiert worden. Sie tun so, als ginge es nur darum, so etwas wie Verkehrsunfälle aus der Berechnung des Wohlstandindexes herauszunehmen. Das allein ist nicht zielführend. Was jetzt dran ist, wäre eine Entkoppelung des Bruttoumsatzes von Beschäftigung und Steueraufkommen.
Ist die Demokratie, wie wir sie kennen und schätzen, noch geeignet für die anstehenden Aufgaben? Lässt sie uns die nötige Zeit, um Mehrheiten für einen Kurswechsel zusammenzubekommen? Ich denke an China, wo durch eine andere staatliche Ordnung Entscheidungen rasch gefällt, auch Um-Orientierungen sehr zügig stattfinden können, sobald die Führung Handlungsbedarf erkannt hat. Sie haben selbst gesagt, wir können nicht warten, bis siebeneinhalb Milliarden Menschen den Weg der Einsicht gegangen sind.
Die Demokratien der Industrieländer waren in den 1970er Jahren sehr wohl in der Lage, Gesetze für Umweltschutz durchzusetzen. Aber das waren Gesetze gegen lokale Verschmutzungen von Luft und Wasser und Böden. Die Chinesen haben – wie wir – jahrzehntelang nur Wirtschaftswachstum im Auge gehabt und die Umwelt vernachlässigt. Jetzt sind sie aufgewacht und reagieren auf die Empörung der Bevölkerung über die schrecklich schlechte Luft in Peking und den anderen Großstädten.
Sie machen mit ihrem totalitären System jetzt das, was Demokratien vor ihnen auch schon gemacht haben. Es sieht nur oberflächlich betrachtet so aus, als seien die Chinesen schneller als wir. Immerhin haben sie die Instrumente in der Hand, ohne Rebellion im Volk auch unbequeme Umweltmaßnahmen durchzusetzen. Aber ich sehe latent auch in China eine Auflehnung gegen den allmächtigen Staat aufkommen.
Wenn die eigene Betroffenheit die Voraussetzung für Einsicht beziehungsweise Empörung und schließlich für politisches Handelns ist, wie kann es dann dort, wo der Klimawandel am wenigsten zu spüren ist, zugleich aber der größte Anteil an Klimaschäden verursacht wird – und seit Beginn der Industrialisierung wurde! – zu einem radikalen Umdenken kommen?
2018 könnte eine Wende in Sachen Klimaschutz sein, weil sich jetzt das Volk geschädigt fühlt und nicht nur die edlen Menschen, die an Schicksale der Enkelgeneration denken, denn die sind immer in der Minderheit.
Gern würde ich Ihren Optimismus teilen, aber sein wir ehrlich: Trotz sehr positiver Reaktionen auf den 2017 erschienenen Bericht des Club of Rom erkenne ich noch kein Umdenken in relevantem Umfang. Deutschland verfehlt seine Klimaziele, im Weißen Haus sitzt ein Klimawandel-Leugner, in Brasilien hat ein ebensolcher die jüngste Wahl gewonnen, die EU ist sich immer weniger einig und damit auch weniger handlungsfähig. Wir beobachten einen zunehmenden Nationalismus. Sind das alles nicht Faktoren, die eher auf eine gegenteilige Entwicklung hinweisen als in Richtung einer neuen Aufklärung?
Ihre Beobachtung ist vollständig zutreffend. Wir leben in einem Jahrzehnt, in dem ein Verdruss über idealistische Konzepte, die zeitweise eine Art von Mehrheit hatten, aufgetaucht ist. Das gilt insbesondere für die zweite Hälfte dieses Jahrzehnts. Und es gibt heute in praktisch allen Ländern der Welt eine Art von Jetzt-Egoismus, der sich als Realismus verkleidet. Realismus ist ja tendenziell eine Gewinnstrategie, ist aber in diesem Fall verlogen.
Wie groß schätzen Sie perspektivisch die Bereitschaft einer für den von Ihnen geforderten Wandel notwendigen kritischen Masse von Menschen ein?
Ich halte es für machbar, dass eine Zivilisation sich auf ein neues Denken einstellt, wenn sie klar vor Augen sieht, dass die gegenwärtigen Handlungen der Zivilisation eine massiv zerstörerische Komponente haben. Aber derzeit überwiegt noch die Jetztbesoffenheit – ein Egoismus für heute und bestenfalls morgen, ganz sicher nicht für übermorgen.
Was macht das mit Ihnen? Wie gelingt Selbstermutigung unter diesen Umständen?
Ich unternehme dazu keine Anstrengungen. Ich empfinde es moralisch und von meinem Verständnis von Pflicht her als absolut selbstverständlich, dass man sich dieser momentanen Narretei entgegenstellt, diese Dummheit entlarvt und sagt: Was Ihr da gegenwärtig populistisch betreibt, schadet – uns Menschen, unserer Zukunft, ganz besonders unseren Kindern und Enkeln. Und deswegen stehe ich selbstverständlich auf der anderen Seite.
Krieg nach innen Krieg nach außen. Die Intellektuellen als Stützen der Gesellschaft?
Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie
Vom 7. bis 10. März wird in Berlin ein wichtiger Kongress stattfinden, organisiert von unserem Rubikon-Beiratsmitglied Klaus-Jürgen Bruder. Mit Vorträgen u.a. von Ernst Ulrich von Weizsäcker, Norman Paech, Michael Schneider, Arnold Schölzel, Friedrich Voßkühler und Werner Ruf. Darin wird vor allem die Rolle von Intellektuellen bei der Verbreitung von Kriegslügen und der Stabilisierung der herrschenden gesellschaftlichen Schieflage beleuchtet. Wir empfehlen unseren Leserinnen und Lesern die Teilnahme an dieser Veranstaltung wärmstens.
Email-Adresse: kongress-orga@ngfp.de
Weitere Informationen zum Kongress und Programm finden Sie unter:
https://www.ngfp.de/wp-content/uploads/2018/12/NGfP-2019-Programm.pdf
https://www.ngfp.de/kongresse/ngfp-kongress-2019/
Anmeldung: https://www.ngfp.de/veranstaltungen/krieg-nach-innen-krieg-nach-aussen/
Prof. Dr. Ernst Urich von Weizsäcker, geb. 1939
Ko-Präsident des Club of Rome von 2012 -2018
Abitur 1958 in Göttingen
Studium der Chemie und Physik an der Universität Hamburg (1966 Diplom-Physiker)
Promotion 1968 (Dr. rer. nat.) Universität Heidelberg
1972 Lehrstuhl für Biologie Universität-Gesamthochschule Essen
1975 bis 1980 Präsident Universität Kassel
1981 Direktor am UNO-Zentrum für Wissenschaft und Technologie in New York
1984 bis 1991 Direktor des Instituts für Europäische Umweltpolitik
1991 bis 2000 Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie
Januar 2006 bis Dezember 2008 Dekan der Bren School of Environmental Science and Management University of California, Santa Barbara
seit 2012 Honorarprofessor an der Universität Freiburg
Mitglied der SPD seit 1966
1966 bis 1968 Vorsitzender der Jusos in Freiburg
1968 bis 1972 und 1999 bis 2001 Mitglied des Landesvorstands der SPD Baden-Württemberg
1998 bis 2005 Mitglied des Deutschen Bundestags
Von März 2000 bis Oktober 2002 Vorsitzender der Enquete-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderung und Antworten
Ab November 2002 Vorsitzender des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ernst Ulrich von Weizsäcker, Anders Wijkman u. a.: Wir sind dran. Club of Rome: Der grosse Bericht. Gütersloher Verlagshaus, 2017