Krisengebiet. Russischsprachig. Die US-Armee. Die NATO. Was haben diese vier Elemente innerhalb eines Satzes zu suchen? Nur eines: Die NATO übt Kriegseinsatz da, wo die Sprache der Zivilbevölkerung Russisch ist (Witzeleien über Marzahn-Hellersdorf dürften in dem Zusammenhang wenig komisch klingen). Sie übt — plant sie diese also? Wenn eine Armee auf eine ausländische Zivilbevölkerung trifft — was im Falle der russischsprachigen stark anzunehmen ist —, dann geschieht es meistens infolge einer militärischen Invasion. Denn Dörfer (die Stellenbeschreibung spricht ausdrücklich von „Dorfbewohnern“), in denen Russisch die Hauptsprache ist, sind im NATO-Gebiet schwer zu finden. Im heutigen NATO-Gebiet.
Die Russen im Baltikum sind in der Regel urban – ursprünglich waren es überwiegend Fach- und Arbeitskräfte, die im Zuge der sowjetischen Industrialisierung der früheren Agrarländer nach Estland, Lettland und Litauen abkommandiert wurden.
Das dürfte auch der NATO hinreichend bekannt sein. Hat sich diese doch in den „Frontstaaten“ sowohl physisch mit ihren Schnelleingreiftruppen, als auch virtuell mit „Kommunikationsspezialisten“ — ein Schelm, wer dabei an Propaganda denkt — und Cyberkriegern ausgebreitet. Wer achtet dabei auf solche Feinheiten wie die NATO-Russland-Grundakte, wenn „die Balten“ Angst vor „russischer Aggression“ haben.
Öffentliche versus veröffentlichte Meinung
Belastbare Belege dafür, etwa repräsentative, unabhängige Meinungsumfragen, bleiben dabei meistens aus. Die Suchmaschine, gefüttert mit den Begriffen „Baltikum, Umfragen, Bedrohung“, spült zahlreiche Mainstream-Artikel über die gefühlte russische Gefahr zutage. Diese schildern sehr wohl die Wahrnehmung der deutschen Leitmedien, die erstaunlich deckungsgleich mit der der NATO ist, aber nicht zwingend mit der der Bevölkerung vor Ort. Die konkreten Zahlen sind nicht so einfach zu finden. Die Ergebnisse meiner eigenen Recherchen über die baltischen existentiellen Ängste stammen aus dem Jahr 2016 und sind in diesem Video-Kommentar zusammengetragen.
Und diese wirken ernüchternd:
- Bei den Esten rangiert die russische Bedrohung mit 24 Prozent weit hinter der Flüchtlingskrise (64 Prozent) auf der Skala der Ängste (Quelle: Turu-uuringute AS).
- Die Finnen sehen den östlichen Nachbarn noch entspannter – 1 Prozent und Platz 7 belegt der Russe, während sich Arbeitslosigkeit mit 35 Prozent, unkontrollierte Zuwanderung mit 30 Prozent und Inkompetenz der eigenen Regierung mit 14 Prozent das Medaillen-Treppchen teilen (Quelle: YLE).
- Bei den Letten kommt die russische Gefahr gar nicht unter den genannten Bedrohungen vor, dafür sehr wohl Armut und soziale Ungerechtigkeit (53 Prozent), Wirtschaftskrise (44 Prozent), politische Instabilität (33 Prozent) und Terrorismus (23 Prozent) (Quelle: SKDS).
Wenn die NATO sich die Sorgen und Nöte „der Balten“ so zu Herzen nimmt, sollten sich deren prominenteste Mitglieder demnach, anstatt Panzer an die russische Grenze zu verlegen, mit dem Polit-Engineering – auch bekannt als Regime Change –, welches betroffene Länder und Regionen ins Chaos stürzt und Flüchtlingswellen auslöst, zurückhalten. Aber Ironie beiseite.
Russia sells!
Die propagierte Angst vor dem Russen ist eine unfehlbare Marketingstrategie, mit der sich die baltischen Regierungen den privilegierten Frontstaatstatus in der NATO sichern. Dem Brüsseler globalen Kriegskonzern und dem angegliederten Geflecht aus Rüstungsunternehmen, deren Lobbyverbänden, Einflussgruppen, Think Tanks und politischen Netzwerken kommt das neue alte Feindbild Russland auch zupass wie vorgezogene Weihnachten: Es kreiert Umsätze wie kein „internationaler Terrorismus“, kein IS, keine Taliban, nicht Al-Kaida und Dschihadisten aller Couleur zusammen. Zwei Prozent des jeweiligen nationalen Bruttoinlandsproduktes für die Militarisierung wären mit dem schwammigen „internationalen Krisenmanagement“ (im Klartext: kleineren Kolonialkriegen à la Libyen) nicht zu haben.
Baltic Angst
Diese stark mythologisierte „Baltic Angst“ wird mit einer Schwarz-Weiß-, Täter-Opfer-Ausgabe der Geschichte belegt und als etwas Immanentes, historisch Geprägtes und in der baltischen DNA Verwurzeltes dargestellt.
Eine kleine Anekdote über meinen persönlichen Einblick in die angebliche baltische Russland-Aversion: Im Sommer 2010 besuchte ich mit einer fünfköpfigen Journalistengruppe leitender russischer TV- und Printmedien auf Einladung der lettischen Regierung die Hauptstadt Riga. Lettland litt damals schwer an den unmittelbaren Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise. Innerhalb von zwei Tagen absolvierten wir ein recht einmaliges informelles Gesprächsprogramm in den höchsten Korridoren der lettischen Macht: Staatspräsident Valdis Zatlers, Ministerpräsident Valdis Dombrovskis, Außenminister Aivis Ronis und Oberbürgermeister Nil Uschakow nahmen sich großzügig Zeit, um uns in aufeinander folgenden Audienzen persönlich von der Russlandfreundlichkeit Lettlands zu überzeugen.
Alle betonten die kulturelle Nähe, die traditionelle wirtschaftliche Verflechtung und insbesondere die gemeinsame Geschichte, die uns einander näher bringt. Der Russe sei in Lettland willkommen. Als Urlauber, als Nostalgietourist, als Geschäftsreisender, als Investor, als Wohnungskäufer. Als Nachbar. Und sie taten es im besten Russisch. Ohne Übersetzer. Keine Sprachbarriere durfte uns trennen. Auch wenn es manchen Gastgeber sichtliche Anstrengung kostete, sein Schul- und Studienrussisch zu reaktivieren. Der Tenor: Wir stammen aus ein und demselben Land. Geschichte und Nachbarschaft seien der besondere Bonus.
Sieben Jahre später soll uns ausgerechnet die gemeinsame Geschichte und die gemeinsame Grenze trennen. Andere Zeiten, andere Lieder, wie die Russen sagen.
Wer bedroht hier wen?
Eine besonders bedenkliche jüngste Entwicklung: Die US-Armee verlegt immer mehr Spezialkräfte in die unmittelbare Nähe Russlands. 2017 übten die sogenannten Special Operation Forces, im Militärjargon SOFs, Einsätze in Estland, Litauen, Lettland, Rumänien, Polen sowie außerhalb des NATO-Gebietes in Finnland, der Ukraine und Georgien. Die geographische Streuung zusammen mit den Erkenntnissen über die Aufgabenstellung der Spezialkräfte (präventive Schläge gegen neuralgische Punkte im feindlichen Hinterland) und der Ausrichtung der Manöver (gegen den „Feind im Osten“) ergibt ein aus russischer Sicht sehr beunruhigendes Gesamtbild.
Ehemaliger Befehlshaber des US Army Special Operations Command, Lt. Gen. Charles Cleveland, spricht von „nicht deklarierten” („undeclared“) oder „heimlichen“ Einsätzen, in denen die amerikanischen SOFs heute im Baltikum, in Polen und der Ukraine involviert sind. Im Oktober 2016 hielt die amerikanische National Defense University (NDU) ein Seminar mit dem Titel „Russische Aktivitäten in der Grauzone“ ab. Die eingeladenen Experten aus Militär, Politik und Forschung hielten fest, dass für Russland der Kriegszustand „natürlich“ und „fortwährend“ sei („Russia is always at a natural state of war“), und priesen die Taktik der tschetschenischen „Rebellen“ („radikale islamische Separatisten“ dürfte eine genauere Definition sein) im Kampf gegen Russland:
„Die Rebellen nutzten dezentralisierte Taktik und bauten Widerstandsnester auf, einschließlich einzelner Dschihadisten. Die Rebellen nutzten kreativ die sozialen Medien und kommunizierten mit den Unterstützern, diese sollten sich nicht den Kämpfern anschließen, sondern sich stattdessen unter die Zivilbevölkerung mischen und über die Aktivitäten der Russen berichten. Sie beeinflussten die Russen mit ihrer Desinformation und steuerten sie gegen die rivalisierenden Gruppen, welche durch die Russen ausgehoben wurden. Die Rebellen haben erkannt, wie dieses russische Vorgehen die Bevölkerung antagonisiert, und haben davon profitiert“ (3).
Diese perfide Taktik tschetschenischer Separatisten, die den Kollateralschaden bei der Zivilbevölkerung nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern diesen auch für ihre Zwecke provoziert haben sollen, soll die Blaupause für die amerikanischen SOFs im Kampf gegen Russland werden. Oder, wie das Geständnis des Lt. Gen. Charles Cleveland zu verstehen ist, ist sie dies bereits.
Säbelrasseln und Kriegsgeheul
Und das vor dem Hintergrund der anhaltenden massiven Verlegung von US-Truppen nach Europa. Deutschland ist dabei — geostrategisch gesehen — das Aufmarschgebiet schlechthin. Eine neue Kommando- und Logistikzentrale soll es ermöglichen, noch mehr, schneller und massiver Militärgerät und -material nach Osten zu schaffen. Dazu soll das deutsche und das osteuropäische Straßennetz entsprechend fit gemacht werden: panzerfest nämlich.
Denn die aktuelle Lage sei katastrophal, Deutschlands Infrastruktur sei kaum noch kriegstüchtig, schreibt der Spiegel besorgt:
„Es fehlt an fast allem: an Tiefladern für Panzer, Bahnwaggons für schweres Gerät, modernen Brücken, die einen 64-Tonnen-Koloss wie den Kampfpanzer „Leopard 2“ problemlos tragen könnten. Was nützen die teuersten Waffensysteme, wenn sie nicht dorthin verlegt werden können, wo sie benötigt werden?“
Das gehe aus einem NATO-Geheimbericht hervor, der dem Spiegel vorliege. Denselben thematisieren FAZ und Focus. Ein Schelm, wer dabei „lanciert“ denkt oder gar psychologische Kriegsführung wittert. Denn groß sei laut Spiegel die Gefahr und ernst die Lage:
„Im Klartext: Die Nato bereitet sich auf einen möglichen Krieg mit Russland vor.“
Ein schwer übersehbarer Widerspruch bei dieser Alarmstufe: das militärische Kräfteverhältnis zwischen NATO und Russland, das im gleichen Artikel anhand einer Grafik illustriert wird. Danach hat der Militärblock eine sehr komfortable drei- bis vierfache Überlegenheit in allen Komponenten.
Quelle: Der Spiegel 43/2017
Noch größer ist das Gefälle bei den Wehretats, wo Russland laut dem Rüstungs-Branchenmagazin Jane's Defence Weekly im Jahr 2017 mit 47 Milliarden Dollar auf den weltweiten Platz 6 im globalen Rating abgerutscht ist.
Die USA gaben demnach in diesem Jahr knapp 643 Milliarden für ihr Militär aus und im nächsten sollen es fast 700 Milliarden sein.
Das Fazit: Der Hype um eine russische Aggression gegen die NATO tut sich schwer mit den Fakten. Hinweise auf eine russische Angriffsvorbereitung fehlen schlichtweg. Und wer weiß besser als die NATO, wie intensiv „Interventionen“ vorbereitet werden müssen. Seine eigene Planung für den Jugoslawienkrieg begann der Block etwa ein Jahr vor den Rambouillet-Verhandlungen, deren Abbruch als Causa Belli herhalten sollte. Die russisch-weißrussischen gemeinsamen Manöver Sapad 2017 wurden lange als schleichende Kriegsvorbereitung verdächtigt. Bis sie eher unspektakulär in Anwesenheit westlicher Beobachter vonstattengegangen sind. Nun ist auch das Geschichte.
Und wenn die Krimabspaltung von der Ukraine infolge des Umsturzes in Kiew als Ultima Ratio bemüht werden muss, um Russland als bellizistischen Aggressor darzustellen, dann ist die Beweislage extrem dünn. Auf der Krim ist kein einziger Schuss gefallen. Trotz des Schießbefehls aus Kiew an die ukrainischen Truppen. Stärker könnte der Kontrast zu dem eigenen Krisenmanagement der NATO kaum sein.
Die Kirche soll am liebsten im Dorf gelassen werden. Und sei es meinetwegen auch ein russischsprachiges.
Anmerkungen und Quellen:
(1) https://www.berlin.de/special/jobs-und-ausbildung/stellenangebote/
(2) https://deutsch.rt.com/inland/48352-nato-spielt-proben-fur-besetzung/
(3) Symposium ‘Russian Engagement in the Gray Zone’, Fort McNair, Washington, D.C. on October. 19-20, 2016. Executive Summary. http://www.soc.mil/swcs/ProjectGray/Russian_Symposium_EXSUM.pdf