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Die Mythen des Systems

Die Mythen des Systems

Die Realität der Welt und des menschlichen Bewusstseins wie sie wirklich ist. Exklusivabdruck aus „Die 33 Mythen des Systems“, Teil 2/8.

von Darren Allen

Kurzer geschichtlicher Abriss des Systems I

„Unsere Gesellschaft ähnelt dem ausgefallenen Gerät, das ich einmal in einem New Yorker Spielwarengeschäft gesehen habe. Es handelte sich um eine Metallkassette, die sich öffnete und eine mechanische Hand freigab, sobald man einen Schalter betätigte. Finger aus Chrom griffen nach dem Deckel, zogen ihn nach unten und verschlossen ihn von innen. Es war ein Kästchen. Man hat erwartet, etwas herausnehmen zu können. Aber das Kästchen enthielt nur einen Mechanismus, um den Deckel zu schließen“ — Ivan Illich.

Seit hunderttausenden von Jahren lebten Menschen in friedvollen, egalitären, gesunden Gesellschaften, zumindest im Vergleich zu dem, was folgte. Wir arbeiteten nicht sonderlich hart und die Arbeit an sich — falls es überhaupt Arbeit genannt werden konnte; präzivilisatorische Gesellschaften unterscheiden nicht zwischen Arbeit und Spiel — war angenehm, sinnvoll und nicht entfremdend.

Aktivität ist entfremdend, wenn sie dazu führt, dass Sie sich wie ein Fremder oder Feind fühlen — ganz gegen Ihre eigene bessere Natur; wenn Sie zum Beispiel gezwungen werden, für den Profit eines anderen zu arbeiten oder ohne guten Grund, oder wenn sich die Ergebnisse nicht gut anfühlen. Für den größten Teil der Menschheitsgeschichte (eigentlich Vorgeschichte — genau genommen fängt Geschichte mit der Zivilisation und der Schrift an) waren Entfremdung von Arbeits- und Lebensweise unbekannt; Zwang und Nutzlosigkeit waren genauso unvorstellbar wie Eigentum, Religion, Gesetzgebung, Kriegsführung, großer Aberglaube und das, was wir „Geisteskrankheit“ nennen.

Die Angst vor der Unmittelbarkeit, wenn sich die Sinne schärfen, um mit Gefahren in der Gegenwart umzugehen, war Teil des Lebens — weil die Gefahr allgegenwärtig war — aber die Angst vor morgen, diese tiefe und weitverbreitete Ungewissheit, Angst und Sorge, mit der die modernen Männer und Frauen belastet sind, waren unbekannt.

Objektiv gesehen ist es unmöglich, all das genau zu wissen — aber es ist auch unmöglich, aus Studien irgendetwas direkt zu wissen. Dennoch können wir einigermaßen verlässliche Rückschlüsse über unsere prähistorische Vergangenheit ziehen, ebenso wie über die Oberfläche der Sonne oder die Folgen des Klimawandels. Anthropologen können objektiv beurteilen, wie die Urmenschen lebten, indem sie Erdproben, Knochen, Werkzeuge und andere archäologische Funde studieren. All diese zeigen, wie die frühen Menschen gelebt haben, wie gewaltbereit sie waren, wie gesund, wie sozial strukturiert — ja sogar wie sie das Universum um sich herum wahrgenommen haben (1).

Anthropologen können objektiv — wenn auch nur ungefähr — den frühesten Entwicklungsgrad der Menschheit bestimmen, in dem sie sich anschauen, wie die Jäger und Sammler heute leben. Niemand denkt, dass die Sammler von heute die gleichen sind wie die, die vor 20.000 Jahren lebten. Gruppen, die nie Kontakt mit der modernen industriellen Welt oder mit der vormodernen Landwirtschaft hatten, gibt es nicht mehr und können nicht mehr erforscht werden. Aber diejenigen, die — zumindest bis vor Kurzem — relativ autark überlebt haben, verfügten über all die oben genannten Eigenschaften. Natürlich gibt es eine enorme Vielfalt bei den Gemeinschaften der Jäger und Sammler — weit mehr als in jeder anderen Gesellschaftsform. Aber im Allgemeinen gilt: je weiter die zeitliche oder räumliche Entfernung von der Zivilisation, desto mehr Gleichheit, Freiheit und Wohlbefinden — sowohl psychologisch als auch sozial (2).

Natürlich bleibt eine riesige, unergründliche Lücke im Herzen unseres objektiven Wissens über die ferne Vergangenheit. Wir werden objektiv nie erfahren, wie die Menschen lebten, fühlten und wahrnahmen in den unzähligen dunklen Jahrtausenden, bevor die Zivilisation blendend überbelichtet erschien. Selbst wenn objektives Wissen in Belangen, die die menschliche Natur berühren, notorisch begrenzt und unzuverlässig ist, woher sonst sollten wir Erkenntnisse gewinnen? Subjektives Wissen ist noch unzuverlässiger — schlicht und einfach trügerisch; oft läuft es auf bloßes Wunschdenken und emotionales Raten hinaus.

Dass es noch eine andere Art der Erfahrung, ein Lebensbewusstsein, das weder objektiv — basierend auf Dingen „da draußen“ — noch subjektiv — basierend auf Ideen und Emotionen „hier drinnen“ — geben könnte, wird von der Wissenschaft, Psychologie, Geschichte, Religion und Kunst des Systems ausgeschlossen und ist mit einer Sprache, die unweigerlich seine und unsere Anliegen widerspiegelt, kaum in gewöhnlichen Worten auszudrücken. Die panjektive Art (panjektiv: weder objektiv noch subjektiv; Anmerkung des Übersetzers) der Erfahrung untersuche ich in dem Begleitband „Self & Unself“ (Selbst & Unselbst).

Hier genügt die Anmerkung, dass es eine Möglichkeit gibt, in die menschliche Natur einzudringen, ohne dabei auf rationale Analysen oder auf Mutmaßungen zurückzugreifen, aber diese Art des Bewusstseins ist weder den Wunschdenkenden noch den Hyperrationalen zugänglich.

Die Freiheit und das Wohlergehen der frühzeitlichen Gesellschaft sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch dort Probleme gab — Schmerz, Frustration, Not, Gefahr und (zunehmend) Gewalt. Das bedeutet nicht, dass wir Stöcke schwingen und auf die Bäume klettern sollten. Es bedeutet, dass das, was wir „Fortschritt“ nennen, ein tausendjähriger Niedergang hinsichtlich Lebensqualität, Seelenfrieden, kollektiver Freude und so weiter war.

Einige wenige Dinge haben sich sicherlich verbessert — vor allem im technischen Bereich —, aber das sind dann fast ausschließlich Lösungen zu Problemen, die durch den „Fortschritt“ erst verursacht werden.

Dieser „Fortschritt“ begann vor etwa 12.000 Jahren, als es zu einer Katastrophe im menschlichen Bewusstsein und — folglich — in der menschlichen Gesellschaft kam.

Auch die Art dieser Katastrophe, oder des Niedergangs, wird in „Self & Unself“ beschrieben; hier beschränken wir uns mit den belegbaren Auswirkungen: soziale Strukturierung, Gewalt gegen Frauen und Kinder, extreme Naturfeindlichkeit, Kriegstreiberei, Angst vor dem Tod, Aberglaube, Scham, sexuelle Unterdrückung und eine äußerst mittelmäßige Kultur. All das fing erstmals zur selben Zeit (etwa 10.000 vor unserer Zeit) und am selben Ort (Mittlerer Osten/Westasien) mit dem Prozess an, den wir Geschichte, Zivilisation oder System nennen.

Das zivilisierte System begann mit einem intensiven Aberglauben, dem Glauben, dass Ideen — vor allem Götter und Vorfahren — realer waren als die Wirklichkeit. Vor der abergläubischen Weltanschauung wurde das Universum als gütig, lebendig und geheimnisvoll wahrgenommen. Das Leben war in bestimmten Dingen verankert — Bäumen, Wolken, Flüssen, Tieren und so weiter — als Eigenschaften und Besonderheiten, die dann in Mythen einflossen. Diese Geschichten reflektierten die psychologische Erfahrung der Menschen oder einer Gruppe von Menschen auf ähnliche Weise wie es Träume tun; indirekt, bildhaft und verfremdet.

Mit Beginn der abergläubischen Ära wurden diese Lebensqualitäten und die über sie verbreiteten Mythen objektiviert; das heißt, abgeschnitten von fließenden, kontextuellen Erfahrungen, und integriert in ein abstrakt mystisches System oder eine (Proto-)Religion. Sie wurden mit äußerst vulgären Emotionen gesättigt, die sich um Sex, Gewalt und — das Fundament von Aberglauben — Existenzangst drehten. Männer und Frauen hatten schon immer Angst vor gefährlichen Dingen, die existierten; jetzt aber bekamen sie Angst vor der Existenz an sich, die sich in zwei Sphären aufteilte: das beruhigende und kontrollierbare Bekannte (die Vorstellungen und Gefühle des Selbst — „mich und mein“) sowie das Gegenteil davon: ein verstörend erschreckendes Spektrum, das vom Unbekannten (Fremde, neue Situationen und so weiter) bis zu Unerkannten (Tod, Bewusstlosigkeit, Natur und so weiter) reichte.

Die Existenzangst des Aberglaubens führte über die Zwangsabsurditäten des abergläubischen Schamanismus zur intensiven Abstrahierung von Priestern und frühen (Proto-)Wissenschaftlern. Noch 12.000 vor unserer Zeit hatte der Mensch nachgedacht und argumentiert; jetzt aber fingen seine Gedanken ein Eigenleben an, schienen realer und wichtiger als die Realität, die nun von der Struktur des Denkens geformt wurde. Ungefähr zu dieser Zeit kam es zu mehreren zusammenhängenden Entwicklungen, die die Zukunft der Welt bestimmen sollten:

  1. Getreide wurde kultiviert und in neue Agrargesellschaften (in Vorderasien) eingebracht (3).
  2. Im Zusammenhang mit der Kultivierung des Getreides, das in einzigartiger Weise leicht zu besteuern ist — sichtbar, teilbar, schätzbar, lagerbar, transportierbar und leicht rationierbar —, entwickelten sich kleine, hierarchische und zentral verwaltete Staaten in Vorderasien, die Bevölkerungsexplosionen erlebten (4).
  3. Größere städtische Siedlungsgebiete und zunehmend intensivere Landwirtschaft gingen einher mit einer verheerenden Entwaldung und einer noch verheerenderen Bodenerosion, was zum sukzessiven Niedergang zahlreicher Staaten der antiken Zivilisation und zu einem trockneren, menschenfeindlicheren Klima des Nahen Ostens führte (5).
  4. Die Schrift wurde erfunden in Sumer und Ägypten, gefolgt vom phönizischen Alphabet, deren Hauptverwendung seit Tausenden von Jahren die Buchhaltung war; das Erfassen von Steuern und Schulden.
  5. Arbeit wurde weitestgehend unangenehm — intensiv spezialisiert, monoton und verwaltet. Krankheiten — wie Grippe, Tuberkulose, Diphtherie, Pocken, Pest und Typhus — breiteten sich durch Kontakt zu domestizierten Tieren aus (6). Die Lebenserwartung verringerte sich drastisch (7), wie auch Körpergröße und allgemeine Gesundheit.
  6. Schließlich — und vielleicht am signifikantesten — tauchten in den Pantheons des Nahen Ostens (in Ägypten und später Judäa) zunehmend aggressive männliche „Sonnengötter“ auf, die als die Herren oder Könige der anderen Götter verehrt wurden.

Diese Ereignisse brauchten Jahrtausende, um sich zu entfalten, weiterzuverbreiten und gegenseitig zu integrieren. Aber etwa ab dem 3. Jahrtausend vor unserer Zeit ähnelte der bronzezeitliche Nahe Osten in jeder entscheidenden Hinsicht der heutigen modernen Welt.

Mesopotamien war zum Beispiel ein Ort von weitverbreitetem Elend, ständigen Kriegen, lächerlichem Aberglauben, mittelmäßiger Kunst, nützlicher Wissenschaft, verschwenderischer Überproduktion, künstlicher Knappheit, massiver Ungleichheit (die „ursprünglichen 1 Prozent“), Ausbeutung der Gesellschaft und Natur, Überbevölkerung, Zwangsrituale, Kapitalinvestment, Standardisierung, Arbeitsteilung, Zeitdruck, Wucher und Schuldenerlass, Steuern, Prostitution, Krankheit, mühsamer Plackerei, korrupter Hierarchien, Entfremdung, spezialisierter Fachleute, Sklaverei, zerstörerischer Abholzung, Bodenerosion, Unterdrückung von Minderheiten, gewaltsamer Unterwerfung von Frauen, Kindern und Außenseitern und Hierarchie-Wahnsinn. Das nennen wir „Geburtsstunde der Zivilisation“: äußerst unangenehme Verhältnisse, die alle anderen auf Erden — die als Barbaren bezeichneten Menschen — verzweifelt versuchten zu vermeiden.

Es ist möglich, den Weg der Zivilisation nachzuvollziehen, indem man der gleichzeitigen Verbreitung der Mythen folgt, die diese neuen Verhältnisse beschreiben oder rechtfertigen (8). Diese zeigen den Fall aus einem präagraren Gartenparadies — oder Goldenen Zeitalter — in ein entweihtes, sündiges Universum ständiger Mühsal, über dem ein männlicher Sonnengott (Zeus, Jehova, Indra, Marduk und so weiter) thront, der eine dunkle und mysteriöse Frau oder einen weiblichen „Teufel“ — meist als Schlange symbolisiert (Typhon, Satan, Vritra, Tiamat und so weiter) — bezwingt. Dieser Big Boss im Himmel eroberte den Mythos Erde als zivilisierter Krieger (9); Priester eroberten und unterwarfen die freieren und weitaus friedlicheren Völker in Afrika, Asien und Europa.

Die nächste Epoche der Verelendung der Menschheit umfasst zwei komplementäre, noch nicht antagonistische Entwicklungsprozesse: der Aufstieg Judäas — die erste Gesellschaft, die einen einzigen „wahren“ Gott anerkannte — sowie der Aufstieg Griechenlands — die erste rationale Gesellschaft und eine der ersten, in der Skepsis gegenüber dem Göttlichen aufkam. Diese beiden Entwicklungen scheinen auf den ersten Blick ziemlich gegensätzlich (10), aber die Mythen und Philosophien der antiken griechischen Denker und die des psychopathischen alten Mannes, der über Judäa herrschte, waren — in allen wichtigen Punkten — identisch.

Jehova und seine Patriarchen, Plato, Aristoteles und die meisten von der klassischen griechischen und jüdischen Gesellschaft gefeierten Schriftsteller hassten Frauen, Natur, Fremde und das einfache Volk; und erklärten, die reale Welt — also die Erde — frei von lebenden Mysterien sei, die früher von „rückständigen“ Leuten verehrt worden waren. Sowohl griechische wie auch jüdische Mythen bestehen aus psychotischen Kind-Männern, die auf der ganzen Welt herumtobten, unter den fadenscheinigsten Vorwänden vergewaltigten und mordeten. Wir nennen diese Geschichten „Klassiker“.

Griechische und jüdische Gesellschaften waren auch zutiefst besessen vom Gesetz, das die königliche — und meist despotische — Laune übernahm, mit dem die Gesellschaft und im weiteren das ganze wissenschaftliche Universum regiert werden sollte. Durch diese tief abstrahierte Realität der Griechen und der Juden — ein abstraktes rationales System, eine abstrakte Gottheit in einem weit entfernten abstrakten Himmel und ein abstraktes, völlig unpersönliches Recht, dem alle gleichermaßen unterworfen sind — konnte das, was wir als „Wissenschaft“ verstehen, den Aberglauben überwinden und verspotten; und das, was wir „Demokratie“ nennen, verdrängte die Monarchie (11). Dass ein Albtraum durch einen anderen — im Wesentlichen identischen Albtraum ersetzt worden ist, war damals ebenso schwer zu verstehen wie heute (vergleiche Mythos 22)

Das düstere Universum der Griechen und Juden, in beiden Fällen konzipiert als eines von trostloser Arbeit und ohne Zugang zum Paradies, gründete sich auf der Fähigkeit, die Realität von der primären Technik der systemischen Abstraktion zu trennen. Dies ging Hand in Hand mit der Schaffung oder Entwicklung von drei sekundären Techniken der Kontrolle, Austausch und Kommunikation, die die Art, wie Menschen zueinander und zum Universum in Beziehung stehen, von Grund auf veränderten.

Die erste Technik: Wucherschuld — zuerst erfunden von den mesopotamischen Königen und Priestern in 3. Jahrtausend vor unserer Zeit, um ihr Volk zu verarmen und zu versklaven — aber begeistert übernommen von fast jeder nachfolgenden „Zivilisation“. Die Verschuldung war so tief in der gesellschaftlichen Struktur verwurzelt, dass die Religionen des Nahen Ostens anfingen, die Wirklichkeit selbst in eine Schuldner-Gläubiger-Beziehung zu definieren, wobei wir die Schuldner — oder Sünder — sind und der Gläubiger die Bank Gottes ist, verwaltet hier auf Erden von seinen professionellen Dienern, Buchhaltern, Managern und Priestern.

Die zweite von den Griechen erfundene Kontrolltechnik, war Geld — ein unpersönliches, unzerstörbares Abstraktum, das Menschen, Objekte und letztendlich das ganze Universum zu einer Sammlung homogener Mengen machte; Dinge, die gekauft und verkauft werden konnten.

Dank der Denkweise, die das Geld bewirkte, begannen die griechischen Philosophen das ganze Universum als eine Sammlung von einzelnen, rational erfassten Teilchen (auch Atome genannt) und Ideen (oder „platonische Körper“) zu betrachten, allen voran das tragische Atom — abgeschnitten, isoliert, allein — das wir „Mensch“ nennen.

Die dritte revolutionäre Zwangstechnik der Zivilisation war die Alphabetisierung, von den Phöniziern zuerst entwickelt, dann perfektioniert und hoch geehrt von den Griechen und Juden. Diese Technik — trotz all ihrer Möglichkeiten und Schönheit — erzeugte einen verheerenden Bewusstseinswandel bei denen, die Zugang zu ihr hatten; die anfingen, Inspiration nicht als eine direkte Erfahrung oder etwas geheimnisvoll Fließendes anzusehen, sondern als eine Funktion des Gedächtnisses; Wille nicht als eine angeborene Eigenschaft, sondern als eine Anzahl von Worten; und Gesellschaft nicht als etwas, zudem der Mensch einen direkten, im Zusammenhang stehenden Zugang hat, sondern etwas, das sich ihm durch Lesen erschließt.

Und wieder — wie bei jeder weiteren epochalen Technik, die folgte — sah fast niemand, dass der Zugewinn an Macht zulasten schwindender Fähigkeiten erfolgte, in diesem Fall zulasten der sinnlichen Inspiration, der sich aus dem Zusammenhang ergebenden Klarheit und der unbeschreiblichen Musik der Sprache.

Diese drei Techniken hatten drei kombinierte Effekte. Erstens vergrößerten sie radikal den Abstand des Individuums von seinem Umfeld, da die Macht des Geldes die Aufrechterhaltung von Beziehungen nicht braucht. Zweitens, sie verstärkten die isolierte und isolierende Macht des individuellen Besitzes; da mein Besitz nicht mehr länger an Tradition oder Gegenseitigkeit an andere gebunden ist. Und drittens, erschufen bei allen, die in den Griff von Schulden, Schrifttum und Geld gerieten, den Glauben, dass Realität letztendlich eine Sache ist, die man mit dem Verstand erkennen und besitzen kann.

Und so waren zu der Zeit, als Griechenland Macht an Rom verlor (das dann mit Annahme des Christentums den griechisch-judaistischen Glauben in einem Imperium verschmolz), alle grundlegenden Komponenten für eine brutal unterdrückende, mechanische Zivilisation vorhanden: eine deutliche soziale Schichtung, Feindseligkeit gegenüber dem Unbekannten, ein abstraktes Bild des Universums, das als real angenommen wurde, und das Bewusstsein, dass Geld, Verstand, Sprache und Kosmos ähnlich strukturierte — und gleichermaßen bedeutende — Entitäten sind.

Alle Folgen einer solchen Grundeinstellung waren ebenfalls vorhanden: nämlich Gesetz und Verbrechen, bewaffnete Armeen und Krieg, Schauspiel und Langeweile, Religion und Wissenschaftlichkeit, weitverbreitetes Leiden, Einsamkeit, Entfremdung, Wahnsinn und ökologischer Ruin. Diese Bestandteile — in unterschiedlichen Varianten und Kombinationen — bestimmten in den nächsten Tausend Jahren weiterhin die Angelegenheiten von Männern und Frauen in Europa, Asien, großen Teilen Afrikas und schließlich in Südamerika.

Manchmal gingen Zivilisationen unter wie beispielsweise Rom; ein Ereignis, das mit Erleichterung begrüßt wurde und die Lebensqualität des einfachen Volkes verbesserte (12).

Manchmal konnten sie auch im Zaum gehalten werden, wie beispielsweise Japans lange Geschichte einer erfolgreichen Unabhängigkeit, und weniger zivilisierte soziale Systeme konnten sich dann weiter behaupten. Diese Systeme, die normalerweise feudal bezeichnet werden, obwohl sie Ausbeutung — manchmal extremes Leid — begünstigen, stellten insgesamt eine Verbesserung der Lebensbedingungen der einfachen Menschen dar. Der europäische Bauer im Mittelalter zum Beispiel war selbstversorgend, hatte reichlichen Zugang zu Gemeindeland, ging einer nicht-entfremdenden Arbeit auf hohem Niveau nach, und das meist in einem äußerst angenehmen Tempo, hatte eine hohe Zahl an freien Tagen (13) und pflegte gesunde soziale Kontakte mit seinen Mitmenschen, sogar zu denen außerhalb seiner Klasse.

Die Unterwerfung unter die Uhr war außerhalb von Klöstern unbekannt; der Tod war eher ein lebenslanger Begleiter als ein zeitvernarrter „Sensenmann“; Verrücktheit war kaum ein Vorwand für Ausgrenzung und sogar die Geschlechterbeziehungen waren — trotz vieler schrecklicher Ausnahmen — einigermaßen egalitär. Männer und Frauen des Mittelalters waren auch, insbesondere im späten Mittelalter, ein inspirierender, ketzerischer und anarchischer Stachel im Fleisch des Feudaladels (14).

Natürlich gab es Krankheiten, Kriege und die seelische Misere der Religion, besonders gegen Ende der Epoche, als so etwas wie Hölle über die feudale Welt in Westeuropa hereinbrach. Aber Ausbeutung wie sie vor, sagen wir im Kaiserlichen Rom, oder danach im Viktorianischen England praktiziert wurde, war relativ gering; Armut von der Art, wie wir sie beispielsweise bei heutigen Indigenen erleben, war relativ selten, und radikale Rebellionen, von der Art die spanischen Anarchisten des 20. Jahrhunderts und europäische Hippies nur träumen konnten, waren relativ häufig (15).

All das sollte sich ändern. Im 15. und 16. Jahrhundert entstand eine neue Form des Systems: Kapitalismus. In allen wesentlichen Punkten zeigte sich der Kapitalismus als eine Weiterentwicklung und Verfeinerung des Zivilisationsprojekts, das mit Beginn des Aberglaubens konzipiert wurde, sich zuerst in Mesopotamien und Ägypten manifestierte — den ersten Gesellschaften, die so funktionierten, als ob die Menschen, aus denen sie sich zusammensetzten, Bestandteile eines Mechanismus wären — und dann in Judäa, Griechenland, Rom, China, bei den Abbasiden, den Mongolen, den Ottomanen, den Spaniern, den Holländern, den Briten und in den USA weiterentwickelt wurde.

Mit jeder folgenden Zivilisation wurde die Sozialmaschine verfeinert und verbessert. Der Aufbau von klassischen Armeen, das Anwachsen und die regierungsmäßige Verwaltung der Stadtstaaten, die repressive Institutionalisierung und Zeitmessung der mittelalterlichen Klöster, das Bankensystem der Renaissance, jede neue Technik von sozialer Kontrolle trug dazu bei, dass ein autonomes, mechanisches und später digitales Regierungssystem aufgebaut werden konnte.

Ab dem 17. Jahrhundert war jeder Schritt der europäischen Eliten (insbesondere die neue Klasse der Geschäftsleute und Techniker) auf die Errichtung dieses sich selbst regulierenden Systems ausgerichtet.

Die industrielle Revolution, die Steuerung einer „freien“ industriellen Arbeiterschaft, die Hyperrationalisierung von Erfahrung, die Umwandlung von Zeit in Geld, die Ausbreitung und Entwicklung von Schulen, Arbeits- und Krankenhäusern, Fabriken, Banken, Armeen und des modernen Nationalstaats, zusammen mit ihren Zwangstechniken der Überwachung und Kontrolle (durch die Einführung allgemeiner, standardisierter, gleichförmiger Bezeichnungen, Maßeinheiten, Währungen, Religionen, Rechtssystemen, Stadtplänen und so weiter) dienten und dienen dem einen Ziel: der Schaffung einer mechanischen Welt.

Zum Ende des 19. Jahrhunderts war deutlich geworden, dass die Schaffung eines „perfekten“ globalen Systems innerhalb kürzester Zeit zur vollkommenen Vernichtung der Gesellschaft führen würde; und so wurden Maßnahmen ergriffen, um erstens die Arbeiterschaft gegen ihren Angriff zu schützen; und zweitens die vielen revolutionären Bewegungen zu besänftigen, die entstanden waren, um gegen das verheerende Schicksal (der Leute) anzukämpfen.

Die zahlreichen Reformen, die sich über das Jahrhundert zwischen 1860 und 1960 hinzogen, konnten das Leben vieler erfolgreich verbessern; aber weil die tiefen Fundamente des Systems ignoriert und deren Gemeinsamkeiten völlig unbemerkt blieben, rollte der Moloch der Zivilisation unbeirrt und unvermindert weiter — sogar in vieler Weise durch Reform gestärkt (vergleiche Mythos 31) —, bis auch die wenigen Bremsen, die Männer und Frauen zu installieren vermochten, am Ende des 20. Jahrhunderts „zurückgerollt“ waren, sodass das System sein Geschäft beenden konnte: die Verschmelzung von Menschen, Ideen, Emotionen, Techniken, Werkzeugen, Objekten, Verhaltensweisen und „natürlichen Ressourcen“ (das heißt naturnahes Leben), aus denen sich die Zivilisation zusammensetzt, zu einem einzigen, gigantischen und sich völlig selbstregulierenden Mechanismus.

Bis zum Ende der kapitalistischen Phase des Zivilisationsprozesses, der ungefähr von 1600 bis 1900 stattfand, waren die einzelnen Bestandteile des Systems noch mehr oder weniger der Natur, der menschlichen Natur und der Kultur unterworfen, die von Menschen in Gruppen auf natürliche Weise schaffen.

Mit dem Aufkommen des Kapitalismus wurden Land, Arbeit, Energie und Zeit zu Waren gemacht und mit allen anderen Komponenten der Zivilisation in einer Vielzahl von rational-wissenschaftlich-technologischen Prozessen assimiliert, deren einziger Zweck die Erwirtschaftung von noch mehr Ertrag (Gewinn, Produktion, Leistungsfähigkeit und so weiter) war. Diese Prozesse verzerrten, degradierten und zerstörten zwangsläufig alles, womit sie in Berührung kamen, indem sie alles, was mit der Sache nichts zu tun hatte, aussortierten oder ignorierten.

Baumwollspinnereien produzierten billigere Baumwolle, während sie ortsansässige Gemeinschaften verwüsteten; die Schulen lieferten konformere Arbeiter, indem sie deren Eigeninitiative und Einfühlungsvermögen endgültig korrumpierten; Bauernhöfe produzierten mehr Nahrung, indem sie dem Boden Nährstoffe entzogen und die Wildnis zerstörten; Maschinen brachten mehr „gesparte Zeit“, während die zu ihrer Herstellung erforderliche Arbeit vervielfacht wurde, und so weiter. Jede technologische Innovation hat eine Reihe von Einzelproblemen gelöst und gleichzeitig mehrere neue Probleme hervorgebracht, für deren Lösung dann weitere technische Verfahren entwickelt werden.

Jede neue Entwicklung — Plastik, Kernspaltung, Hochgeschwindigkeitsverkehr, Genforschung, Internet — oder jede neue zukunftsweisende Lösung — intelligente Drogen, virtuelle Realität, Kybernetik, Nanotechnologie, Kernfusion — wird mit viel Tamtam gefeiert, während die katastrophale Umweltverschmutzung, Langeweile, Krankheit oder der Wahnsinn, die sie verursachen, entschuldigt, ignoriert oder als Möglichkeit für weiteren technischen Fortschritt genutzt werden.

Bis zum Ende der kapitalistischen Ära hatte sich die technische Lebenseinstellung (16) von der menschlichen Kultur abgekoppelt und das materielle Leben auf Erden dominiert. Im Laufe des 20. Jahrhunderts breitete sich diese Dominanz auf alle Aspekte menschlicher und natürlicher Erfahrung aus; denn der technische Lösungsansatz beschränkte sich nicht nur auf die Konstruktion leistungsfähiger Maschinen, die Nutzung neuer Energien, die Verfeinerung von Kontrollmethoden oder die Herstellung von Waren (17), sondern wurde auf das gesamte Spektrum des natürlichen und des menschlichen Lebens angewandt; tatsächlich musste es auf alles übertragen werden, denn alles, was nicht von der rationalen Umstrukturierung abhängt, behindert oder bedroht die Leistungsfähigkeit. Technischer Fortschritt an einer Stelle eines Teils des Systems erfordert die begleitende Entwicklung jener Teile, die zum Input beitragen und den Output fördern.

Eine Hightech-Fabrik kann nur aufgebaut werden, wenn es Hightech-Produkte gibt, die mit Hightech-Geschwindigkeit geliefert und von Hightech-Mitarbeitern weiterverarbeitet werden. Diesen Mitarbeitern ist es nicht mehr erlaubt, ihren eigenen Arbeitsstil zu finden, sich selbst weiterzubilden oder das Leben zu führen, das sie möchten; sondern sie müssen vollständig in wissenschaftlichen Programmierungstechniken integriert sein, die erwiesenermaßen die höchste Geschwindigkeit, Leistung, Effizienz, Genauigkeit — oder was auch immer das gewünschte Ergebnis sein mag — liefern.

Derselbe Druck wird buchstäblich auf jedes menschliche Unterfangen ausgeübt. Ganz gleich, ob Sie Sportler, Töpfer, Programmierer, Sänger, Straßenkehrer oder Polizist sind, es ist Ihnen nicht gestattet, in Ihrem eigenen Tempo zu arbeiten, Ihre eigene Arbeitsweise festzulegen, nach Ihrer eigenen Erfahrung oder Inspiration heraus zu gestalten; zu tun, wie Sie wollen, wann Sie wollen; oder — Gott stehe Ihnen bei — sich zu fragen, warum Sie so arbeiten, wie Sie es tun, und zu welchem Zweck. Unabhängigkeit des Denkens, Handelns oder auch nur des Fühlens ist keine Option; da die entfernten oder langfristigen Auswirkungen Ihrer Aktivität keine Option sind, ist jede Praxis oder Realität, die nicht mit den Techniken maximaler Kontrolle, Produktivität und Effizienz (18) in Einklang gebracht werden kann, keine Option.

Das ist ein Grund dafür, warum es sinnlos ist, einzelne Aspekte des Systems zu reformieren, abzulehnen oder auch nur zu versuchen, sie isoliert vom Ganzen zu verstehen. Politik, Kommunikation, Transport, Medizin, Wirtschaft, die akademische Welt, Wohnungsbau, Ernährung, Unterhaltung, Management und jede Art von Arbeit sind in ein einziges System ineinandergreifender Prozesse integriert.

Es ist genauso sinnlos, darüber zu spekulieren, wie das Internet das Leben der Menschen verändert hat, oder den Einfluss von Big Pharma zu analysieren oder zu versuchen, die Probleme mit „unserem Erziehungssystem“ zu diagnostizieren; so wie es schließlich sinnlos ist, die Gefängnisse zu reformieren oder Plastiktüten zu verbieten oder Petitionen mit zu zeichnen; wie es letztendlich sinnlos ist, sich der Vormachtstellung von Energieunternehmen, Medizinern oder staatlicher Bürokratie über das menschliche Leben entgegenzustellen, indem Sie Ihr Haus mittels Holzofen mit Strom versorgen, sich selbst medizinisch behandeln, oder Ihren Facebook-Account löschen und Ihren Pass zerreißen.

Das bedeutet keineswegs, dass es bedeutungslos, zwecklos und vergebens ist, zu recherchieren oder zu versuchen, diese Probleme zu lösen oder zu umgehen. Schließlich sind wir dabei, uns mit 33 Aspekten des Systems zu befassen, die jeweils einzeln behandelt werden. Sinnlos, zwecklos und vergebens wäre es allerdings, diese Aspekte ohne Bezug auf das Gesamtsystem anzugehen, in dem jedes Element untrennbar integriert ist, und diejenigen, die das System verteidigen, verstehen das.

Sie wissen oder erfassen es intuitiv, dass dem System am besten gedient ist, wenn sie sich auf seine isolierten Elemente konzentrieren; was sie ihr Leben lang tun. Solche Menschen nennen wir normalerweise „Spezialisten“.

Das System zwingt mehr oder weniger jeden, Spezialist zu werden, einzelne Teile des Universums als Objekte für technische Manipulationen zu betrachten. Der Lehrer zum Beispiel muss das Kind von seinem Zuhause, seiner Familie, seinem natürlichen Milieu und der außerordentlichen Komplexität und Subtilität seines eigenen Lebens und Charakters trennen; die Aufmerksamkeit des Kindes mit festen Vorgaben binden (zahlreiche Bücher, Tests und Projekte nach Lehrplan, vervollständigt durch jede Art von Spielen, Schulfahrten und „Erfahrungen“, die die Schule oder der Lehrer offiziell oder als freiwillige Leistung hinzufügen kann), um das gewünschte Ergebnis zu erzielen: die Integration in das System. Ärzte arbeiten auf die gleiche Weise, wie auch die Wissenschaftler, Rechtsanwälte, Sozialarbeiter, Politiker, Manager, Designer, Klempner, Bauern, Küchenhilfen … jeder.

Eine Welt mit ausschließlich solchen rationalen Spezialisten hat unweigerlich zur Folge, dass niemand weiß, wie sich sein Handeln auswirkt oder Verantwortung für sie übernimmt (vergleiche Mythos 16). Sie sind dafür nicht ausgebildet, und wenn sie einmal über ihre zugewiesenen Rollen hinausgehen, treten sie unausweichlich jemandem (anderen) auf die Füße, dessen ganzes Leben von der Macht abhängt, die sie über ihre spezialisierte Aufgabe ausüben. Das führt zur Erzeugung einer schier endlosen Menge stumpfsinniger Jobs, die geschaffen werden, um mikroskopische Details zu verwalten oder spezialisierte Macht zu schützen, ohne die Einmischung von jemandem, der vielleicht weiß, was er tut.

Das System wird nicht — und kann niemals — von Männern und Frauen geleitet werden, die wissen, was sie tun, die den Zusammenhang erkennen oder die bereit sind, ihre nicht dem System entsprechenden Vorstellungen über die Verbreitung von Mitteln durch das System zu stellen. In diesem Sinn gesehen, ist das System völlig autonom und selbstgesteuert; seine oberste Direktive ist die einzige, die sich eine autonome Maschine vorstellen kann: wachsen, sich ausdehnen und sich reproduzieren. Niemals sterben.

Männer und Frauen besitzen oder verwalten zahlreiche Teile des Systems, aber die einzigen Aktivitäten, die ihnen das System erlaubt, sind diejenigen, die sein unaufhörliches Wachstum fördern. Genauso erhalten nur diejenigen eine Position, in der sie „frei“ die richtigen Entscheidungen treffen können, die instinktiv diese Aktivitäten fördern und seit ihrer Kindheit an die systemische Lebensweise gewöhnt sind.

Das System installiert automatische Filter, um „Störenfriede“ auf dem Weg zu Positionen mit Einfluss zu entfernen. Falls jemand, der freundlich, wohlmeinend oder intelligent ist, jemals Macht gewinnt, so fühlt er sich vollkommen ohnmächtig gegenüber dem System, das alles daran setzen wird, um sich von seiner nutzlosen Anwesenheit zu befreien oder es ihm ermöglicht, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, bis seine Anhänger enttäuscht sind und ihn aufgeben.

Die vormoderne Phase des Systems war also von der abstrahierten Kommodifizierung von Raum, Zeit und Energie gekennzeichnet. Landvermesser teilten das Land auf, Uhren teilten den Tag auf und der Staat teilte das Volk auf (19); und alle drei wurden auf den Markt gebracht, wo sie in immer bessere Produktions- (oder Herstellungs-)technologien und Reproduktionstechniken (oder „Dienstleistungen“) integriert wurden, die wir normalerweise Kapitalismus nennen.

Diese vormoderne Phase entwickelte sich dann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem uns bekannten modernen oder postmodernen System; das versucht, Wissen (oder Daten), Schulden (durch den als Finanzialisierung bezeichneten Prozess, bei dem die kommerzialisierte Zukunft mit Hypergeschwindigkeit manipuliert und gehandelt wird), Wahrnehmung und Emotion (durch die Virtualisierung aller Art sozialer Interaktion), Materie (künstliche Materialien, urheberrechtlich geschützte Moleküle, patentierte Gene und so weiter) und neue Formen von Hyperenergie (petrochemische und atomare Energie) zu kommodifizieren; kurz gesagt: Alle Barrieren zwischen dem System und den letzten Nischen der Realität werden entfernt.

Letztendlich wird sogar unsere eigene bewusste Körpererfahrung in den Weltmechanismus einbezogen (oder privatisiert) und gezwungen, sich seinen Rhythmen und Gesetzen zu anzupassen.

Ein anderes bemerkenswertes Kennzeichen der postkapitalistischen Welt: Sie nimmt zunehmend Züge anderer Formen des Systems an, wie Feudalismus, Sozialismus und Faschismus. Die Finanzialisierung hat zu enormen Geldmengen geführt, die auf höheren Ebenen des Systems herumschwappen, was wiederum effektiv zu einem feudalen Netzwerk an Gefälligkeiten, Schmiergeldern und Pfründen geführt hat; Mitteln, um Freunde, Familie und andere Vertraute gut zu entlohnen, und effektiv nichts zu tun (20): Großkonzerne sind seit langem auf staatliche Unterstützung durch Militärausgaben, Steuervergünstigungen, Steuergutschriften, vorteilhafte Gesetzgebung, staatlich geförderte Forschung und Entwicklung sowie Rettungsaktionen zu Zeiten von Depression und Rezession angewiesen — was effektiv eine Form des staatlich gefördertem Sozialismus für die Reichen darstellt. Und das System verlangt häufig extreme Formen von Autoritarismus, die — insbesondere unter Zwang — nicht von Faschismus oder Totalitarismus zu unterscheiden sind.

Der Begriff „Kapitalismus“ mag zwar ein nützliches Kürzel sein, aber er ist bei weitem nicht zutreffend. Der „Kapitalismus“ von heute unterscheidet sich radikal von dem, den Karl Marx seziert hat, weshalb einige seiner Schlüsselprognosen nicht eingetreten sind. Er konnte nicht ahnen, dass die ganze Welt bis einschließlich der Psyche eines jeden zu einem „Produktionsmittel“ werden; noch dass infolgedessen die Arbeiterklasse fast vollständig unterworfen und domestiziert werden würde.

Das ist zum Teil auch der Grund, warum der heutige Kapitalismus häufig als Spätstadium oder manchmal als liberal bezeichnet wird. Aber wenn wir jedoch akzeptieren, dass sich diese Begriffe auf die letzte und wichtigste Phase eines Projekts beziehen, das seit mindestens zehn Jahrtausenden läuft — wenn wir den gesamten Prozess verstehen wollen —, brauchen wir einen Begriff, der das alles umfasst. Obwohl es — wie wir sehen werden — auch problematisch ist, gibt es kein besser geeignetes Instrument für diese Aufgabe als „das System“ — ein Begriff, der sich gleichzeitig auf die Zivilisation insgesamt und auf die vorherrschende, allumfassende, hyperentwickelte, postkapitalistische Weltordnung bezieht, in der wir uns heute befinden.



Darren Allen, Jahrgang 1974, ist Autor, Künstler, Aktivist, Philosoph und Medienschaffender aus Südengland. Er ist weit gereist, hat in Japan, Spanien, Russland, dem Nahen Osten und England gelebt und arbeitet als Fachautor, Englischlehrer, Lehrbuchdesigner, Pferdepfleger, illegaler Priester und Verkäufer von Schrumpfköpfen; obwohl er sich lieber auf exquisites Wohlergehen als auf bezahlte Arbeit verlässt. Zudem veröffentlicht er regelmäßig Beiträge auf seiner Website.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „33 Myths of the System. A brief guide on the unworld“. Er wurde von Max Stadler vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.


Quellen und Anmerkungen:

Die Mythen des Systems, Teil 1

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(1) Nehmen wir als Beispiel die Kriegsführung. Vor circa 10.000 vor unserer gibt es (von einigen fragwürdigen Ausnahmen abgesehen) kaum Anzeichen für Kriegsführung, die sich am Ende des Paläolithikums abspielen. Siehe Keith Otterbeins Aufsatz von Lawrence Keeleys „Origins of War“, R. Brian Ferguson „Ten Points on War and War Before History“ und Fry et alii „War, Peace and Human Nature“, die eine gründliche Widerlegung der Verzerrungen von Steven Pinker enthält. Dasselbe gilt für Ungleichheit und Krankheiten.
(2) „Die Cambridge Enzyklopädie über Jäger und Sammler“, Robert L. Kelly, „The Lifeways of Hunter-Gatherers“, C. Boehme, „Egalitarian Behavior and Reverse Dominance Hierarchy“, A. DeVries, „Primitive Man and His Food“, D. Lancy „The Anthropology of Childhood“. Siehe auch Daniel Everett, „Don‘t Sleep There are Snakes“, Colin M. Turnball, „The Forest People“, E. Richard Sorensen, „The Edge of the Forest and many others. Selbst wenn man die kolossalen Unterschiede zwischen den Stämmen berücksichtigt, die zerstörerischen und korrumpierenden Auswirkungen des Lebens im 20. Jahrhundert, die kumulativen Wandel in ihren Gesellschaften über unzählige Jahrtausende hinweg (sowie anhaltende, katastrophale Kontakte mit „fortschrittlicheren“ Gesellschaften), die Verdrehungen und Lügen einiger Autoren über die, die mit ihnen lebten (zum Beispiel. van der Post und Turnball), die furchtbaren Schmerzen und das Unannehmlichkeiten des Lebens vor der Zivilisation (zum Beispiel eine sehr hohe Kindersterblichkeit), die all zu menschlichen Schwächen von Männer und Frauen im Laufe der Geschichte und Vorgeschichte und die Tendenz vieler Schriftsteller, alle Jäger und Sammler in zu romantischem Licht zu sehen; trotz alledem, die hervorragenden Eigenschaften, die sie verbinden, nach allem, was wir über vorzivilisatorischen Menschen und über den Menschen in Höchstform wissen — sind ziemlich offensichtlich.
(3) Eine Kulturpflanze, die beachtliche Mengen an Opiaten enthält. Siehe Greg Wadley und Angus Martin: „Die Ursprünge der Landwirtschaft: Eine biologische Perspektive und eine neue Hypothese (auch pharmakologische Einflüsse auf den Übergang zum Neolithikum).
(4) Große sesshafte, aber staatenlose Gesellschaften hatten davor ihre Blütezeit. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Lebendigkeit, Gleichheit und Freiheit nur in winzigen Gruppen möglich sind oder das Ungleichheit unmöglich ist. Siehe Janes C. Scott: „Against the Grain“ sowie David Graeber und David Wengrow: „How The Change The Course Of Human History“ (obwohl Graeber ein Verfechter der Zivilisation ist).
(5) Edward Hyams: „Soil an Civilization“, William H. Kötke: „The Final Empire“, David Montgomery: „Dirt: The Erosion of Civilization, Clive Ponting, A New Green History of The World“.
(6) Siehe Morand: „Domesticated animals and human infectious diseases of zoonotic origins“. N. D. Wolfe: „Origins of major human infectious diseases“, Burnet & White: „The Natural History of Infectious Diseases“, Zivilisationskrankheiten wie Herzerkrankungen und Krebs gab es auch noch nicht. Siehe A. R. David „Cancer: an old disease, a new Disease or something in between?“. Das Immunsystem war wahrscheinlich auch viel robuster.
(7) Menschen vor dem Agrarzeitalter hatten und haben eine genauso hohe Lebenserwartung wir der moderne Mensch. Siehe zum Beispiel M. Gurven, H. Kaplan: „Longevity Among Hunter-Gatherers: A Cross-Cultural Examination“.
(8) Joseph Campbell: „The Masks of God“, M.L. West: „Indo-European Poetry and Myth“.
(9) Unterstützt durch die Domestizierung der Pferde – die Atombombe der frühen Zivilisation.
(10) Wie Kapitalismus und Kommunismus: siehe Mythos 22. Beachten Sie, dass um diese Zeit eine parallele Entwicklung in China und Indien stattfand. Die gesamte Periode, allgemein „Eisenzeit“ oder „Achsenzeit“ genannt, zeigt eine starke Intensivierung der Zivilisation in ganz Eurasien; mehr Spezialisierung, Technologie, Rationalität, Abstraktion, Professionalismus … und Schrecken. Siehe John Zerzan: „The Iron Grip of Civilisation“.
(11) Vor Homer und dem Pentateuch (Die 5 Bücher Moses; Anmerkung des Übersetzers) wohnten Götter in der Realität. Nach der griechisch-jüdischen Revolution der Religion wurden sie vom alltäglichen Leben getrennt; die Beziehung zwischen den beiden ― zwischen Mensch und Gott ― wurde eine Befehlsbeziehung; der Beginn der Wissenschaft. „Abstraktion steht in der gleichen Beziehung zu ihren Objekten wie das Schicksal.“ Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: „Dialectic of Enlightenment“.
(12) Der sogenannte „Zusammenbruch“ vieler früher Staaten wurde oft als Emanzipation angesehen. Das Leben außerhalb des Staates konnte dennoch gefahrvoll und prekär sein, aber ein Ende der erdrückenden Besteuerung, der Leibeigenschaft, des Krieges, der Epidemien und all der Schrecken der Zivilisation führte zumindest nicht unbedingt zu dem Elend, wie die Verteidiger immer wieder behaupten. Siehe James C. Scott: „Against the Grain“ und McAnany & Yoffee : „Questioning Collapse“. Ähnlich wie das „Überlaufen“ oder „zurück zum Ursprung“ ― die Flucht aus dem Staat und der Beitritt in „barbarische“ Gesellschaften, die gesünder, gerechter und noch geordneter waren ― war ein häufiges und hartnäckiges „Problem“ in der Geschichte der Zivilisation. Siehe Christopher Beckwith: „Empires of The silk Road“ und Owen Lattimore: „Studies in Frontier History“.
(13) Einigen Schätzungen zufolge etwa ein Drittel des Jahres; und eine Vier-Tage-Arbeitswoche war üblich.
(14) Zum Beispiel die Begarden, die Jacquerie (französischer Bauernaufstand), die Freigeister, die Lollarden, die Taboriten und viele andere mystische Revolutionäre des späten Mittelalters.
(15) Norbert Elias: „The Civilising Process“, Lewis Mumford: „Technics and Civilisation“, Ivan Illich: „In the Mirror of the Past“, Chris Wickham: „The Inheritance of Rome“, William Chester Jordan: „Europe in the High Middle Ages“, R.I. Moore: „The First European Revolution ~ 970 - 1215“, Raoul Vaneigem: „The Movement of the Free Spirit“ und John Zerzan: „Revolt and Heresy in the Late Middle Ages“.
(16) Alias „Technik“, siehe Jacques Ellul: „The Technological Society“.
(17) Was wir als „industrielle Revolution“ bezeichnen, war das Ergebnis des technischen Fortschritts, nicht seine Ursache.
(18) Dabei steht die Kontrolle immer an erster Stelle.
(19) Oder die „Arbeitsschaft“, die nicht mehr unabhängig sein durfte wie im Feudalismus. Der feudale Facharbeiter begann sein Arbeitsleben mit einer Art Lehrzeit, nach der er Meister und unabhängig werden konnte. Der Kapitalismus schaffte den Meister ab und zwang die Arbeiterschaft in eine lebenslange Dienerschaft. Siehe Davied Graeber: „Bullshit Jobs“.
(20) Eine Situation, die durch technische Spezialisierung um ein Vielfaches verschärft wurde. Siehe David Graeber: „Bullshit Jobs“ zur weiteren Erörterung des „kapitalistischen Feudalismus“. Beachten Sie auch, dass der einzige Weg, um heutzutage an Eigentum zu kommen, darin besteht, einen Landsitz von der Familie mit Grundbesitz zu erben.

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