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Die Mythen des Systems

Die Mythen des Systems

Die Realität der Welt und des menschlichen Bewusstseins wie sie wirklich ist. Exklusivabdruck aus „Die 33 Mythen des Systems“, Teil 1/8.

Prolog: Das Paradoxon des Revolutionärs

„scentate [sɛnteɪt] — (Verb) außerstande sein herauszufinden, ob ein Problem in einem selbst liegt oder ob es von der Situation herrührt.

Ist Ihre Traurigkeit die schreckliche Wahrheit und Ihr Glück eine Maske oder ist das Glück die tiefe Wirklichkeit Ihres Lebens und die Traurigkeit nur eine egoistische Episode? Ist die schwierige Beziehung zu Ihrem Partner die Ursache Ihres Unglücks oder macht Ihre Unzufriedenheit die Beziehung schwierig? Ist es Ihr Zug, der gerade den Bahnhof verlässt, oder ein anderer Zug, den Sie durch das Fenster abfahren sehen? Sind Sie es, oder ist es die Welt?“ „Die Apocalypedia“ (1).

Einerseits ist es unmöglich, Ihr persönliches Leben — wie Sie (und andere) fühlen, wahrnehmen, denken und handeln — zu verändern, wenn sich nicht auch die Institutionen ändern, die Ihr Leben gestalten und unterordnen. Wie geistig aufgeklärt, fröhlich, großzügig oder kreativ Sie auch sein mögen, wenn Sie gezwungen sind, in den Städten der Welt zu leben, in ihre Schulen zu gehen, ihre Straßen zu befahren, ihre Lebensmittel zu sich zu nehmen, in ihren Fabriken und Büros zu arbeiten, ihre Krankenhäuser und Gerichte zu benutzen, können Sie nicht nur sehr wenig mit Ihrer persönlichen oder psychologischen Freiheit anfangen, sie wird durch ihre Präsenz im System ausgehöhlt, entwertet und vereinnahmt.

Andererseits ist es sinnlos, die Welt zu verändern, solange die Menschen im Wesentlichen ängstlich, verwirrt, gewalttätig und egoistisch bleiben. Nicht, dass Menschen grundsätzlich schlecht wären, aber Angst, Gefühllosigkeit, Grausamkeit und Egoismus triumphieren fast immer über Gesundheit, Natürlichkeit, Geselligkeit und Fairness. Es bedarf keines Soziologen, Psychologen, Historikers oder Anthropologen, um zu wissen, dass Männer und Frauen außergewöhnlich gut darin sind, aus ihrer Freiheit ein Gefängnis zu machen.

Das ist das Paradoxon des Revolutionärs; ein klassischer Fall von Scentation: Liegt das eigentliche Problem da draußen oder in mir? Verändere ich die Welt oder verändere ich mich selbst?

Menschen neigen dazu, dieses Problem — sofern sie sich dessen überhaupt bewusst sind — zu lösen, indem sie sich auf die eine oder die andere Seite schlagen. Ein prototypischer Weltveränderer — ein engagierter Sozialist möglicherweise — könnte sagen, dass Mystik, Psychotherapie, psychedelischer Drogenkonsum, sogar Kunst in gewisser Weise leichtsinnig, selbstgefällig, bestenfalls von privatem, persönlichem Wert oder gar — im Dienste des Sozialismus — von kollektivem Nutzen sind. Aber letztendlich werden wir nie wirklich glücklich sein, solange sich die Gesellschaft nicht gewandelt hat, solange sie uns nicht erlaubt, uns frei auszudrücken, kreativ zu kooperieren und unser volles Potenzial auszuschöpfen. Bis dahin werden wir immer frustriert sein.

Ein prototypischer Selbstveränderer — ein Hippie, sagen wir mal, im ursprünglichen Sinne, oder ein Mystiker — könnte sagen, dass ein Herumgetue mit Demokratie, Aufständen, Vereinigungen, Aktivismus oder Revolte im Grunde genommen so gut wie nichts verändert. In radikalen Organisationen herrscht dasselbe Gruppendenken vor, dieselbe Zickigkeit, dieselben langweiligen Drehbücher, derselbe lähmende Kompromiss, und die Endergebnisse sind im Grunde immer die gleichen. Die Welt zu verändern, ohne zuerst sein Selbst zu verändern, ist die Quintessenz der Sinnlosigkeit und zum Scheitern verurteilt.

Obwohl sich dieses Buch auf eine Seite der Medaille konzentriert, macht meine Arbeit als Ganzes deutlich, dass beide Positionen zugleich falsch und richtig sind.

Solange der Dissident die radikale Wirklichkeit seines persönlichen Lebens nicht offenlegt, wird er die Welt nicht verändern. Solange die Mystikerin die radikale Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens nicht erkennt, wird sie ihr Selbst nie ändern. Persönlichkeit und Gesellschaft so wahrzunehmen, wie sie sind, ist jedoch keine leichte Sache. Es ist erstaunlich schwierig, sie direkt zu erleben; zu verstehen, wie Menschen die Welt erschaffen haben und weiterhin erschaffen, ist wie der Versuch, eine Kamera zu begreifen, indem man auf ein Foto schaut.

In einem Buch wie diesem können wir uns natürlich nur „Fotos“ anschauen. Meine Absicht ist es, sie so anzuordnen, dass der Mechanismus, der sie erzeugt, klarer zu sehen ist, und beim Anschauen kommt eine bessere Kamera ins Spiel.

Vorwort

Das System ist seit zehntausend Jahren im Entstehen begriffen. In dieser Zeit hat es viele lokalisierte Formen angenommen - autokratisch, demokratisch, sozialistisch, kapitalistisch - aber trotz oberflächlicher Unterschiede in Struktur und Prioritäten ist es dieselbe Entität geblieben. Sie ist inzwischen so ausgeklügelt, so allgegenwärtig und so invasiv, dass es fast unmöglich ist, sie wahrzunehmen. Wir mögen wissen, dass etwas in der Welt, die wir geschaffen haben, sehr falsch läuft, aber das reicht derart tief in unsere Erfahrungen hinein, dass wir es, wenn es in radikale Kritik gerät, als eine Erweiterung unseres eigenen Selbst verteidigen und entschuldigen.

Die Mythen der Welt sind auch unsere eigenen, und wenn wir sie entlarven, entlarven wir uns selbst. Manchmal genügt es schon, wie wir sehen werden, die Worte „das System“ zu lesen, um Unbehagen zu erregen, das Gefühl zu erzeugen, angegriffen zu werden, oder den Eindruck entstehen zu lassen, dass die Person, die diesen Begriff benutzt, ein wütender oder unreifer Außenseiter ist.

Möglicherweise sind Sie sich aber bewusst, dass etwas furchtbar falsch läuft, dass die Welt immer mehr der Hölle auf Erden ähnelt, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch steht und dass wir eine revolutionäre Alternative brauchen. Dieses Buch ist ein Versuch, diese Einsicht zu festigen und zu vertiefen; es soll zeigen, dass das Problem weitaus schlimmer (und damit auch die Lösung weitaus radikaler) ist, als derzeit und allgemein angenommen.

In aller Kürze habe ich versucht, das gesamte System zu skizzieren; was bedeutet, dass einiges von dem, was folgt, offensichtlich und richtig erscheinen mag, einiges dagegen überhaupt nicht offensichtlich oder völlig falsch. Viele Menschen neigen dazu, sich über den Zustand der Welt zu beklagen, aber einen Teil davon - den Teil, auf den sie am meisten angewiesen sind - der Kritik zu entziehen; nach diesem Teil sollten Sie Ausschau halten und die Kapitel, die Ihnen sympathisch oder vertraut sind, derweilen geduldig hinzunehmen.

Eine letzte Anmerkung: Dieses Buch basiert weitgehend auf der Idee, dass es keinen grundlegenden Unterschied zwischen der Linken und der Rechten gibt. Ich kritisiere beide, und dazu greife ich gelegentlich auf linke Kritik an der Rechten zurück und umgekehrt. Das bedeutet nicht, dass ich alle anderen Ideen, geschweige denn die gesamte Philosophie der Autoren, die ich zitiere oder auf die ich verweise (oder die Zeitschriften und Magazine, für die sie schreiben), unterstütze. Die einzige Ausnahme ist vielleicht Snufkin (2).



Darren Allen, Jahrgang 1974, ist Autor, Künstler, Aktivist, Philosoph und Medienschaffender aus Südengland. Er ist weit gereist, hat in Japan, Spanien, Russland, dem Nahen Osten und England gelebt und arbeitet als Fachautor, Englischlehrer, Lehrbuchdesigner, Pferdepfleger, illegaler Priester und Verkäufer von Schrumpfköpfen; obwohl er sich lieber auf exquisites Wohlergehen als auf bezahlte Arbeit verlässt. Zudem veröffentlicht er regelmäßig Beiträge auf seiner Website.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „33 Myths of the System. A brief guide on the unworld“. Er wurde von Max Stadler vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.


Quellen und Anmerkungen:

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(1) Anmerkung des Übersetzers: Allen Darrens „Die Apocalypedia ― Ein utopisches Handbuch für das, was ist und was nicht“ ist ein gegenkulturelles A bis Z, eine komische Enthüllung von kaleidoskopischen Drehungen und Wendungen, die das gewöhnliche Bewusstsein im Laufe des Tages vollzieht, indem es eine Kombination aus gewöhnlichen, wertegeladenen Wörtern und neuen Wörtern betrachtet, die geprägt wurden, um den oft übersehenen Schönheiten und Schrecken der Alltagserfahrung eine Stimme zu verleihen.

(2) Anmerkung des Übersetzers: Snufkin (Schnupferich) — eine Figur aus dem Kinderbuch „Die Mumins. Eine drollige Gesellschaft“ von Tove Jansson — ist ein philosophischer Vagabund, der durch die Welt streift, um zu fischen, Mundharmonika zu spielen und gerne über Dinge nachzudenken.