Im vergangenen Jahr, als die Demonstrationen in meiner uckermärkischen Heimat zwischen fünf und zwanzig Menschen groß waren, stand in unserem Kreis ein junger Mann, der uns zum Abschluss zu einer kleinen Meditation einlud. Wir sollten die Augen schließen und uns ausmalen, wie wir uns unsere neue Welt vorstellten.
Ich war total überfordert. Eine neue Welt! Wie sollte ICH die denn kreieren? Da mussten doch ganz andere Leute ran, Leute mit Ahnung, mit Wissen darüber, wie man Politik machte, einen Staat lenkte, mit einer Gesellschaftsform, von der ich unmöglich wusste, welche die richtige sein sollte. Die Welt. Meine Welt. In meinem Kopf tauchte unsere Erdkugel auf. Sie war riesig groß, und darauf lebten so viele verschiedene Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Kulturen mit unterschiedlichen Sprachen, wie sollte ich für die alle eine neue, eine bessere Welt erfinden?
Nie hätte ich gedacht, dass ich mich einmal politisch betätigen würde. Doch Corona hat es geschafft, mich aus meinem Dornröschenschlaf zu wecken. Plötzlich sah ich all die Missstände, die ich vorher — mir ging es ja gut — nicht sehen wollte.
Im Mai 2020 initiierte ich gemeinsam mit drei anderen Frauen am Ufer des Unteruckersees in Prenzlau zu der Frage „Wie geht es dir mit Corona?“ einen Gesprächskreis. Seitdem bin ich fast jede Woche auf der Straße. Zum Abschluss unserer Treffen singen wir häufig das afrikanische Lied:
„Viele kleine Leute, an vielen kleinen Orten, die viele, kleine Schritte tun, können die Welt verändern.“
Bis vor sechs Wochen bestanden meine Schritte überwiegend aus Widerstand. Ich war davon überzeugt, mit unseren wöchentlichen Treffen dabei helfen zu können, die Krise, in die uns Corona — und seine sogenannten Experten — gestürzt hatten, und am besten gleich noch das ganze faule Modell, als das sich unsere Demokratie für mich entpuppt hatte, zu beenden.
„Du kannst doch nicht das bisherige System über den Haufen werfen wollen, ohne einen Plan zu haben, was danach kommen soll“, kritisierte mein Mann immer wieder in unseren Diskussionen.
Ich verstand überhaupt nicht, was er von mir wollte. Was er erwartete. Wer war ich denn, dass ich wissen sollte, was kommen könnte, wenn unser Widerstand erfolgreich sein sollte? Dafür gab es doch ganz andere Leute. Menschen, die sich auskannten mit Gesellschaften, Menschen wie Ernst Wolff, Daniela Dahn, Rainer Mausfeld, Ralph Boes und Sven Böttcher. Ich ging davon aus, ich hoffte, diese Menschen würden einen Gesellschaftsentwurf aus der Tasche zaubern und das Ruder übernehmen, wenn es so weit wäre.
Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass dieser Wandel kaum kommen wird, wenn wir ihn nicht selbst initiieren. Wir müssen beginnen, die Welt so zu gestalten, wie wir sie uns wünschen.
Wenn ich jetzt von „der Welt“ spreche, sehe ich nicht mehr die ganze Erdkugel, ich sehe nicht Europa, nicht Deutschland, nicht Brandenburg, sondern die kleine Welt um mich herum. Meinen Mikrokosmos.
Der große Umsturz, habe ich für mich erkannt, wird vermutlich nicht von oben kommen. Das alte System klammert und fährt alles auf, was es zu bieten hat. Aber auch WIR haben einiges zu bieten.
Unseren seelisch-moralischen Kompass und unsere Visionen. Durch Corona habe ich begriffen, dass niemand zu klein und zu unbedeutend ist, die Welt zu verändern.
Doch was genau können wir tun?
Diese Frage ist nicht neu. Unlängst besuchte ich einen Gesprächsabend mit Dr. Sebastian Pflugbeil. 1989 gehörte er zu den Mitbegründern der Bürgerbewegung Neues Forum. Kern dieser Zeit, erzählte Pflugbeil, sei es gewesen, zusammen zu reden und gemeinsam zu überlegen, was man tun könne.
Am 10. September 1989 veröffentlichte die Gruppe den Aufruf „Die Zeit ist reif — Aufbruch 89“. Entstanden war dieser Aufruf am Abend zuvor im Haus von Katja Havemann, geschrieben auf einer mechanischen Schreibmaschine, mit etlichen Blaupapierdurchschlägen. Diese Durchschläge waren weitergereicht und in anderen Haushalten immer weiter dupliziert worden. Was danach losging, sagte Pflugbeil, sei eine Lawine gewesen. Die Rückmeldungen kamen postwendend und wäschekörbeweise. Immer wieder wollten die Menschen wissen: „Was sollen wir jetzt machen?“ Die Antwort war kurz und bündig: „Das müsst ihr euch selber überlegen!“
Nicht anders ist es heute. Wenn wir warten, dass jemand kommt und uns sagt, was wir tun sollen, können wir ewig warten. Oder in die Falle tappen und Dinge tun, die wir überhaupt nicht wollen. Wir müssen selbst in die Verantwortung gehen.
Wie gelingt das?
Ich denke, der erste Schritt ist es, alte Strukturen und eingefahrene Gleise zu verlassen. Dieser Schritt beinhaltet für mich zwei Ebenen. Die eine ist die rein materielle, die andere eine ideelle.
Auf den ersten Blick scheint der materielle Ausstieg ein leichter zu sein. Ihn tatsächlich zu vollziehen, bedeutet jedoch, gewohntes Terrain und damit die Komfortzone zu verlassen. Viele von uns haben sich daran gewöhnt, das, was sie benötigen, bequem bei einigen wenigen Onlinehändlern zu bestellen. Ich selbst habe mehr als ein Jahr gebraucht, um meinen Vorsatz, nicht mehr bei Amazon einzukaufen, umzusetzen.
Momentan ringe ich mit der Idee, mich von meinem Smartphone zu trennen. Die Beschnüffelung, der wir allein durch dieses kleine Ding ausgesetzt sind, verdeutlichte mir noch einmal Sebastian Pflugbeil, als er sagte, sie sei um Lichtjahre heftiger als die Beschnüffelung durch die Stasi in der DDR.
Warum machen wir es ihnen so leicht? Warum machen wir noch immer mit? Steigen wir aus!
Kündigen wir unsere Konten bei den riesigen Banken, verweigern uns Impfpässen und entziehen uns anderer digitaler Identitäten. Beginnen wir, unsere Nahrung selbst anzubauen und selbst Energie zu produzieren.
- „Damit änderst du die Welt nicht!“
- „Das bringt doch nichts!“
- „Das reicht doch vorne und hinten nicht …“
- „Wenn ich nicht mitmache, dann …“
- „Das war doch schon immer so und wird auch immer so sein.“
- „Bisher hat es uns auch nicht geschadet!
- „Die Welt tickt nun einmal so …“
Kennen Sie diese (Totschlag-)Argumente?
„In der Covid-Ära“, schreibt der Kulturphilosoph Charles Eisenstein in einem seiner Essays, „wurde die Öffentlichkeit mit endlosen Demütigungen, Erniedrigungen und Beschimpfungen überhäuft, eine ungeheuerlicher als die andere. Es ist, als ob jemand ein psychologisches Experiment durchführt, um herauszufinden, wie viel die Menschen bereit sind zu ertragen. Sagen wir ihnen, dass sie keine Hände schütteln dürfen, sagen wir ihnen, dass sie sich nicht nähern dürfen, lasst uns ihre Kirchen, Chöre, Geschäfte und Feste schließen …“
Wie viel sind wir bereit zu ertragen? Wie lange sind wir bereit mitzumachen in dem tradierten Beziehungsmuster von Opfer, Täter und Retter?
Ein befreundeter Coach hat mich einen Test machen lassen, um herauszufinden, welche Rolle in diesem Beziehungsdreieck ich am liebsten einnehme. Zu jeder Frage gab es vier Handlungsmöglichkeiten. Ich füllte zwei Antwortbögen aus. Auf dem ersten kreuzte ich an, wie ich vermutlich gehandelt hätte, auf dem zweiten, wie ich gerne handeln würde. Die Auswertung ergab: Ich bin am liebsten der Retter. Manches Mal das Opfer, zuweilen aber auch der Täter (Verfolger/Ermöglicher).
Viel lieber, das verriet der zweite Antwortbogen, wäre ich jedoch gar nichts von alledem, kein Täter, kein Opfer, kein Retter. Mit meinen angekreuzten Handlungswunschvorstellungen hatte ich mich aus dem Dreieck katapultiert. Ich will keine Rolle in dem ewigen Drama des Lebens spielen. „Wenn dir das gelingt“, kommentierte mein Freund, „spielst du die entscheidende Rolle, nämlich die eigentlich vorwärtstreibende“.
Nur: Wie kommen wir in diese Rolle?
Ich denke, ganz einfach, indem wir herausfinden, wer wir sind, welches unsere Werte sind und wie wir — unsere Werte — leben wollen.
Im Prinzip müssen wir nur die Augen schließen und uns vorstellen, wie die Welt aussehen soll, auf der wir leben wollen. Dafür braucht es geistige Klarheit und inneren Frieden.
Der Schlüssel auf dem Weg dorthin führt meines Erachtens über die Kommunikation. Sowohl über die Kommunikation mit uns selbst — zum Beispiel dem Loslassen alter Gedankenmuster —, als auch über die Kommunikation mit anderen Menschen.
Eines meiner Kinder hatte es in der Schule nicht leicht. Das, was ihm als Wissen vermittelt wurde, wollte einfach nicht in seinen Kopf. Auf Anraten der Schule holten wir uns Hilfe von außen. Wir engagierten einen ganzheitlich orientierten Lerntherapeuten. Unserem Kind stellte sich Frans — so hieß er — als gute Fee vor, die überall dort aus seinem Flugzeug spränge, wo Kinder und Eltern Schwierigkeiten mit Schule und Lernen hätten.
Eine Woche lang zauberte Frans nicht nur mit unserem Kind, sondern vor allem auch mit uns Eltern. Am Ende dieser Woche waren wir wie verwandelt. Unser Miteinander hatte sich grundlegend verändert. Das größte Kompliment, das mein Kind mir damals machte, war die Feststellung: „Mama, du sprichst schon fast wie Frans.“
Was war passiert? Eigentlich nichts Großes, wir bemühten uns lediglich, aus unseren vertrauten „Du-Botschaften“ „Ich-Botschaften“ zu machen, wir übten uns im aktiven Zuhören, glichen also immer wieder ab, ob das, was wir verstanden hatten, wirklich gemeint war; und vor allem lernten wir, Fragen zu stellen.
„Wer fragt, führt“, war einer von Frans‘ Zaubersprüchen.
Noch heute höre ich ihn fragen: „Was machen wir denn jetzt?“, wenn mein Kind mal wieder erkannt hatte, dass die geltenden mathematischen Regeln in der Praxis nicht umsetzbar waren. Oder es überzeugt war, dass die Lehrer und Mama und Papa es quälen wollten.
Die Wirkung war grandios. Mein Kind musste Ideen entwickeln, sie konnten absurd sein, aber es waren seine Ideen, und wir konnten ausprobieren, ob sie funktionierten. Plötzlich hatte, wenn meine Kinder sich stritten, nicht mehr ich zu entscheiden, wer von ihnen angefangen oder den Dreck im Haus verteilt hatte, sondern ich konnte fragen: „Was ist passiert?“ Eine kleine Frage, und wir waren raus aus dem Dramadreieck.
Wer fragt, führt — während Corona ist mir diese Zauberformel mitunter, wenn die Emotionen übergroß wurden, aus dem Bewusstsein gerutscht. Mein Coaching-Freund hat sie mit seinem Fragebogen wieder hervorgelockt.
Fast zwei Jahre lang habe ich mit meinem Vater gehadert. Ich verstand nicht, warum er nicht sah — oder sehen wollte, wie ich ihm unterstellte —, was ich sah, wenn wir uns die gleichen Corona-Zahlen anschauten. Erst als ich mir vorstellte, wie ich mich an seiner Stelle — er ist 75 und sieht sich in der Risikogruppe — verhalten würde, entwickelte ich Verständnis für seine Position. Mein Vater war sehr bewegt, als ich ihm davon erzählte und ihn schließlich fragte, wie es ihm ginge. Es öffnete eine Tür.
„Wie geht es dir mit Corona?“ war die Frage, mit der ich mich gemeinsam mit drei Freundinnen im Mai 2020 in die Öffentlichkeit unserer Kleinstadt gewagt habe. „Wie geht es dir ohne Corona?“ ist die Frage, mit der Freunde in den nächsten Wochen in ihrer Heimatstadt zu einem Runden Tisch einladen wollen.
Ich habe meine Zweifel, dass Runde Tische etwas bringen, jedenfalls solange wir versuchen, „unsere“ Politiker an diese Tische zu bekommen. Nach all dem, was ich in den vergangenen zwei Jahren erlebt habe, glaube ich, dass sich die meisten unserer Politiker — es gibt Ausnahmen! — verkauft haben: für Geld, Macht und Anerkennung.
Dennoch verfolge ich gespannt die Vorbereitungen meiner Freunde auf ihren Runden Tisch. Er wird anders sein als die Runden Tische, die wir aus den Wendejahren kennen. Ganz freegestylt — mit Anleihen aus der Fishbowl-Methode und unter Einhaltung der Gewaltfreien Kommunikation — aus dem Bedürfnis heraus, zu hören und gehört zu werden und dann zu schauen, ob etwas, und wenn ja, was, daraus erwachsen kann.
Auf der Suche nach Inspiration, wie meine neue Welt aussehen könnte, habe ich mir die Filme „But Beautiful“ von Erwin Wagenhofer und „Tomorrow — Die Welt ist voller Lösungen“ von Cyril Dion und Mélanie Laurent angeschaut. Diese Filme geben Zuversicht, Inspiration und Mut, den ersten, einen Schritt zu wagen. Nicht für die ganze große Welt, sondern einfach für unsere kleinen Kosmen. Beim einen ist dieser Kosmos kleiner, beim anderen größer. Doch unabhängig von seiner Größe wird er seine Kreise ziehen, wird wirken, wie das Steinchen, das wir ins Wasser werfen.
Jeder Permakulturgarten trägt bei zur Heilung der Erde und der Menschen, die ihn betreuen, jede Familie, die sich darin übt, gewaltfrei miteinander zu kommunizieren, stärkt den Frieden (in uns).
Tauschringe, Nachbarschaftshilfen, Landwirtschaftskooperationen, alternative Währungen, kulturelle und Sport-Angebote, freie Schulen und Gesundheitshäuser sind Schritte auf dem Weg weg vom kapitalorientierten hin zum lebensorientierten Miteinander.
„Wir haben uns nicht gefragt, ob wir den Planeten retten wollen, wir haben einfach losgelegt“, erzählt Pam Warhust in „Tomorrow — Die Welt ist voller Lösungen“. In Todmorden, einer britischen Kleinstadt, initiierte sie gemeinsam mit Mary Clear das Projekt Incredible Edible — „Unglaublich essbar“.
Dafür wurden alle möglichen — und unmöglichen — Flächen genutzt, um kleine Obst- und Gemüsegärten anzulegen; vor Arztpraxen, vor dem Polizeirevier, auf dem Bahnhofsvorplatz, an Hauptstraßen, überall wächst und gedeiht es. Incredible Edible bietet jedem Bürger von Todmorden die Möglichkeit, sich von frischem Obst und Gemüse gesund zu ernähren — und das alles kostenlos. Gleichzeitig sank die Kriminalitätsrate der Stadt. „Über die Pflanzen“, sagt Mary Clear, „kommen Leute, die sich nicht kennen, ins Gespräch. Ich denke, mehr braucht es nicht für die Zukunft.“ Die zehnfache Großmutter ist fest davon überzeugt, dass Nahrung und Gespräche die Lösung sind.
Auch meine Freundin Katja lebt dieses Konzept — ganz im Kleinen. In ihrem Garten bietet sie für sechs Kinder eine private Betreuung an. Jeder Tag beginnt gemeinsam am Lagerfeuer, mal schweigend, mal singend, mal schnatternd, meist voller Tatendrang. In Wald und Wiese, an Teich und Pfützen sowie vielen kleinen Beeten können sich die Zwerge ausleben. Sie kochen zusammen, „akrobatieren“, musizieren, malern, tischlern, lachen, weinen, besprechen Geheimnisse und noch vieles mehr.
Katja lebt, was sie als Kind gerne erlebt hätte. Ihr „Kindergarten“ ist der bewusste Gegenentwurf zu dem, was andere Kitas bieten. Sie will sich nicht als Dienstleister verstanden wissen, sondern als Mensch mit Vorstellungen und Bedürfnissen. Menschen, egal ob groß oder klein, sieht sie als Beziehungswesen, die miteinander agieren. Und zwar auf Augenhöhe.
„Wir wussten nicht, ob aus unserer Idee etwas entstehen würde, wir haben es einfach gemacht.“ So, oder so ähnlich klingt es bei mehreren Protagonisten beider Filme. Auch Sebastian Pflugbeil sagt:
„Als wir uns 1989 zusammengesetzt und überlegt haben, was wir tun können, haben wir nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass daraus solch ein Ding werden könnte.“
„Der Weg schiebt sich beim Gehen unter die Füße“, lautet der Titel des neuesten Essays von Charles Eisenstein.
Lasst uns losgehen! Jetzt! Es braucht unser Handeln. Die Welt, die wir uns wünschen, müssen wir uns selbst erschaffen! Auf ausgetretenen Pfaden — gegen unsere innere Stimme — weiterwandeln ist ein größeres Risiko als etwas Neues zu wagen.
Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.
Quellen und Anmerkungen:
Inspirations-Empfehlungen:
- Buch: „Wie wir leben könnten“ von Theresa Mai
- Film: „Alphabet“ von Erwin Wagenhofer
- Film: „Das Wunder von Wörgl“ von Urs Egger
- Buch: „Glücksökonomie. Wer teilt, hat mehr vom Leben“ von Annette Jensen und Ute Scheub
- Buch: „Der Mann, der Bäume pflanzte“ von Jean Giono