Eurostat, die europäische Statistikbehörde, hat Mitte Oktober eine Pressemitteilung herausgegeben: Die Todesrate zwischen März und Juni 2020 sei höher als die des statistischen Durchschnitts der gleichen Wochen in den Jahren zuvor. Ich habe mir die Daten etwas genauer angesehen. Hier ist ein kritischer Kommentar.
Dass in den Kalenderwochen (KW) 10 bis 18 im Jahr 2020 mehr Todesfälle als üblich zu verzeichnen waren — vor allem in Spanien, Italien, Frankreich, Belgien und England —, ist der Sterblichkeitsstatistik auf der Euromomo-Webseite zu entnehmen. Das Euromomo-Projekt schätzt die Über- oder Untersterblichkeit, also die Anzahl der Todesfälle, die über oder unter dem mehrjährigen Durchschnitt liegt, anhand der tatsächlich berichteten Todesfälle, die den erwarteten Todesfällen gegenübergestellt werden, die man aufgrund einer mehrjährigen Statistik und der dazugehörenden Verläufe errechnet. In dieser Darstellung ist die Fluktuation besser zu erkennen als in der der EU-Pressemitteilung. Der Gipfel des Jahres 2020 war extrem schmal und steil, schmaler und steiler als vergleichbare Gipfel der Jahre 2017, 2018 und 2019, die gemeinhin der Grippe zugerechnet werden. Beim Blick auf die Fläche unterhalb der Kurve — mathematisch müsste man ein Integral bilden, aber für unsere Zwecke tun es die Augen auch —, ist allerdings festzustellen, dass die größere Fläche für die Jahre 2017 und 2018 vermutlich die geringere Höhe des Gipfels ausgleicht.
Abbildung 1: Der Verlauf der Übersterblichkeit in Europa über die Jahre 2017 bis jetzt anhand der Darstellung von Euromomo.
Die Frage ist also: Unterscheidet sich der Gipfel 2020 so stark von all den anderen der Jahre zuvor? Die Daten, die die Pressemitteilung am Ende des Textes liefert, sind nicht sehr hilfreich, um das Problem zu klären: In der ersten Tabelle im Anhang sind Abweichungen vom mehrjährigen Durchschnitt der KW angegeben. Alles was über 100 ist, stellt Exzessmortalität dar, also mehr Todesfälle als üblich, alles was darunter ist, stellt Untersterblichkeit dar, also weniger Todesfälle als üblich; anschließend folgen die absoluten Todeszahlen.
Diese Darstellung von Eurostat ist wenig hilfreich, weil es die Trends ausgleicht. Ich habe mir daher die Datenbank angesehen und dort die KW 10 bis 17 ausgewählt, und dies für die Jahre 2017 bis 2020 für einige Länder (Österreich, Deutschland, Spanien, Italien, Frankreich, Großbritannien):
Abbildung 2: Absolute Sterblichkeitszahlen aus der europäischen Sterblichkeitsstatistik Eurostat jeweils für die KW 10 bis 17 der Jahre 2017 –bis 2020 für Deutschland (grün), England (blau), Italien (rot), Frankreich (grau), Spanien (schwarz) und Österreich (hellblau); Daten sind nur für diese Wochen gültig, die Striche dazwischen stellen lediglich Verbindungslinien dar.
Leider kann ich die Daten nicht ohne sehr viel Aufwand, der mir im Moment nicht möglich ist, herunterladen und selber aufbereiten, weswegen ich mit dieser etwas kleinen Darstellung operieren muss. Wer will, kann sich die Grafik auf der Webseite selber generieren lassen. Die oberste Kurve, dunkelgrün, stellt den Mortalitätsverlauf (absolute Zahlen) dieser Wochen über die vergangenen drei Jahre dar. Die gepunktete abfallende Linie ist die Mortalität, die großen lang gezogenen Striche sind einfach die Verbindungslinien dazwischen bis zum nächsten Jahr und sollten eigentlich ignoriert werden, aber eine andere Darstellung ist offenbar nicht möglich. Man sieht: Der höchste Mortalitätsgipfel für Deutschland lag in der KW 10 des Jahres 2018 und fällt dann ab; das war die Grippesaison 2018. Die gleichen Wochen für Deutschland im Jahre 2019 und 2020 zeigen eine deutlich geringere Sterblichkeit. Anders ist es in Spanien (schwarz), Frankreich (grau), Italien (rot) und England (blau).
Hier sehen wir: Die gleichen Wochen der Jahre zuvor weisen eher geringere Sterblichkeit auf und in 2020 folgt dann ein steiler Gipfel. Österreich (hellblau, ganz unten), zeigt überhaupt keine deutlichen Ausschläge, aber das liegt auch daran, dass die Auflösung verglichen mit der niedrigen Sterblichkeit zu klein ist. Selbst mit höchster Auflösung, die die Webseite ermöglicht, ist dort wenig Bewegung zu erkennen. Was wir auch sehen: Die Sterblichkeit schwankt. Sind während der Jahre zuvor die Sterblichkeitsziffern niedrig, dann ist im folgenden Jahr eine größere Gruppe Alter und Schwacher am Leben, die möglicherweise irgendeiner Erkrankung zum Opfer fallen. Über die Jahre hinweg verändert sich dieser Trend nur leicht.
Wie dieser Trend der Letalität in Europa aussieht, habe ich mir einmal genauer angesehen, indem ich mir von der Europäischen Statistikdatenbank die Sterblichkeitsdaten für alle Länder geholt habe, allerdings übers Jahr zusammengefasst. Dann habe ich mir einige interessante Länder herausgegriffen und für diese auf die jeweilige Population standardisierte Zahlen berechnet, also die Anzahl der Toten pro Jahr in einem Land pro 100.000 Einwohner. Das ist deswegen wichtig, weil sich die Populationen nicht unerheblich verändern. Nur so erhält man eine vernünftige und vergleichbare Übersicht. Die beiden folgenden Grafiken geben den Trend wieder; das Jahr 2020 ist in dieser Datenbank leider noch nicht erfasst.
Die Länder habe ich auf zwei Grafiken aufgeteilt, damit es übersichtlicher ist. In der ersten Grafik sehen wir, blau, den EU-Durchschnitt der populationsstandardisierten Sterblichkeit, also Tote pro Jahr und 100.000 Einwohner: Bulgarien ist ganz oben mit der höchsten Sterblichkeit, die Schweiz ganz unten mit der niedrigsten. Deutschland steht gar nicht so sehr gut da und rangiert nach Estland auf Platz drei. Erst in den vergangenen Jahren wurde es von Griechenland verdrängt, das eine steigende Letalität aufweist; darin dürfte sich die zunehmende wirtschaftliche Problematik des Landes spiegeln.
Abbildung 3: Sterblichkeit je 100.000 Länder einiger europäischer Länder über die Jahre hinweg und EU-Durchschnitt (blau).
Ansonsten sehen wir eine ziemliche Stagnation, vielleicht einen leichten Anstieg der Sterblichkeit über die Jahre. Das dürfte der schwierigeren wirtschaftlichen Situation oder der schlechteren medizinischen Versorgung beziehungsweise Überversorgung, je nach Sichtweise, geschuldet sein. Was wir auch sehen: Die Linien sind nicht gerade. Es gibt Einbrüche und Anstiege. Sind in einem Jahr weniger Menschen gestorben als üblich, gleicht sich das im darauffolgenden Jahr wieder aus.
Die nächste Grafik zeigt einige andere europäische Länder, vor allem die mit der niedrigsten Sterblichkeit: Irland, Island, Malta und Norwegen. Norwegen, Schweden und Malta sind die einzigen Länder, bei denen die Sterblichkeit über die Jahre abnimmt. Bei allen anderen nimmt sie zu oder bleibt gleich. Auch hier sehen wir: Es gibt Täler und Berge, die sich abwechseln. Interessanterweise liegen Italien, Spanien, Frankreich und England, bei denen der 2020 Gipfel der Sterblichkeit so hoch war, alle nahe beieinander und ihre populationsstandardisierten Sterblichkeitszahlen sind deutlich niedriger als die von Deutschland.
Abbildung 4: Sterblichkeit je 100.000 Einwohner einiger europäischer Länder über die Jahre hinweg — Fortsetzung.
Wir sehen also:
- Für manche Länder gibt es offenkundig einen Übersterblichkeitsgipfel in den KW 10 bis 17 dieses Jahres, aber nicht für alle. Deutschland gehört nicht dazu.
- Die langjährige Trendbetrachtung standardisierter Sterblichkeitszahlen zeigt, dass sich Berge und Täler abwechseln. Ob das Jahr 2020 einen übergroßen Berg bedeutet, bleibt abzuwarten. Auch hier werden es vermutlich vor allem einige wenige Länder sein.
- Bei den Ländern, die vom Übersterblichkeitsgipfel 2020 am meisten betroffen sind, handelt es sich vor allem um solche, deren normale Sterblichkeitszahlen eher niedrig sind. Das heißt im Umkehrschluss, dass dort ein relativ großer Anteil der Population älter als der Durchschnitt ist und daher möglicherweise auch auf neue Belastungen hin empfindlicher.
Ist es zulässig, die Ursache des Übersterblichkeitsgipfels mancher Länder in SARS-CoV-2, den neuen Coronavirus, zu sehen? Dass manche Todesfälle ursächlich auf dieses Virus zurückzuführen sind, dürfte unstrittig sein. Aber es spielen noch viele andere Faktoren eine Rolle, die in der Diskussion untergehen: Panik und Angst, die unser Immunsystem nicht gerade stärken; soziale Einsamkeit, vor allem bei den Schwachen und Alten, die den Lebenswillen schwächen; medizinische Fehlbehandlungen, die im allgemeinen Chaos nicht bemerkt werden, wie etwa Überdruckbeatmung, antivirale Medikamente, die vielleicht fehlindiziert sind, starke medikamentöse Entzündungshemmung, die die Immunreaktion stört und allenfalls bei entgleisenden Reaktionen hilfreich ist, und vieles andere mehr.
Die Streubreite der Mortalität zwischen den unterschiedlichen Ländern kann sicher nicht auf das Virus selbst zurückgeführt werden. Denn so gut waren unsere öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen am Anfang der Ausbreitung des Virus nicht, dass wir eine Chance gehabt hätten, es aufzuhalten. Wäre es ein Killervirus gewesen, es hätte eine ziemlich gleichgroße Schneise der Verwüstung durch ganz Europa gelegt. Dass genau das nicht passiert ist, zeigt, dass das Virus zwar ein wichtiger moderierender Faktor, aber nicht die Ursache im strikten wissenschaftlichen Sinne war. Denn die Variabilität lässt sich höchstwahrscheinlich mit sehr vielen anderen Faktoren erklären — das Virus ist überall die gleiche Hintergrundbelastung. Und diese Unterschiede zu verstehen, würde uns weiterbringen. Dazu braucht man allerdings eine weitere Optik, als den Tunnelblick auf das vermeintliche Killervirus.