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Die Menschenrechtsindustrie

Die Menschenrechtsindustrie

Die sogenannten Werte des Westens sind pure Heuchelei. Exklusivabdruck aus „Die Menschenrechtsindustrie im humanitären Angriffskrieg“.

Die Vereinigten Staaten von Amerika, die sich gern durch „Menschenrechtsberichte“ als Richter über andere Länder erheben, definieren die politischen und bürgerlichen Rechte ihrer Verfassung als Menschenrechte. Und nach wie vor ist das Recht auf Eigentum das oberste aller Menschenrechte. Derweil priorisiert China die sozialen sowie die kollektiven Menschenrechte auf Grundsicherung und Entwicklung.

Während also die USA immer noch nicht die Zeit überwunden haben, da Eigentum in Form von Sklaven als Menschenrecht definiert war, verharrt China auf den unteren Stufen der Maslow‘schen Bedürfnishierarchie, der zufolge das Hauptaugenmerk der Deckung der physiologischen und Sicherheitsbedürfnisse gilt. Vermutlich werden in der chinesischen Bevölkerung bald Individualbedürfnisse in den Vordergrund rücken und, mit dem Erwerb von Eigentum, der Schutz desselben.

Im Interview mit Rubikon-Beiratsmitglied Prof. Rainer Roth versuche ich herauszukristallisieren, wie sich die Wahrheit der Geschichte der „Menschenrechte“ in der heutigen Politik widerspiegelt, insbesondere jener Mächte, die einst solche grundlegenden Rechte proklamierten.


Jochen Mitschka: Herr Roth, ich beschäftige mich mit Geschichte, um daraus Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Leider muss ich aber feststellen, dass die Geschichte, die uns in der Schule, in Universitäten und den Medien vermittelt wird, oft ein entstelltes Bild der Vergangenheit darstellt, im besten Fall das Bild aus der Sicht des besitzenden Establishments. Ihr Buch „Sklaverei als Menschenrecht — Über die bürgerlichen Revolutionen in England, den USA und Frankreich“ (2) korrigiert in vielen Fällen das Bild der Vergangenheit, das uns über die Sklaverei vermittelt wird. Mit folgenden Fragen möchte ich Ihre Meinung dazu einholen, inwiefern nach Ihrer Ansicht Parallelen oder Erkenntnisse über derzeitige politische Auseinandersetzungen zu ziehen sind. Als ich kurz nach der Jahrtausendwende im Rahmen meiner Arbeit als Unternehmensberater nach Bangladesch reiste, um Partner für eine deutsche Firma zu suchen, traf ich bei einem der möglichen Kooperationspartner auf eine schier endlose Schlange von einfachen Leuten vor der Firmentür. Auf die Frage, was es damit auf sich hätte, antwortete man mir, dass die Menschen ihre Arbeitsfähigkeit demonstrieren wollten und einen Job auf einer Großbaustelle im Ausland suchten. Wenn ich solche Stellen vermitteln könnte, so wurde mir versprochen, würde man mir 500 Dollar pro Kopf zahlen. Es waren freiwillige, anspruchslose Arbeitssklaven, die zu Billigstkonditionen bereit waren, zehn Stunden und mehr am Tag zu arbeiten, die bereit waren, sich für drei Jahre zu verpflichten, im Ausland zu arbeiten, ihren Flug selbst zu bezahlen und das Gehalt des ersten Jahres für die Vermittlungsgebühr zu opfern. Ich war damals schockiert. Nun schreiben Sie in Ihrem Buch: „Zu Beginn stellten hauptsächlich weiße Vertragsarbeiter (indentured servants) die Arbeitskräfte auf den Plantagen von Barbados. Vermittler versteigerten sie meistbietend an die Pflanzer. Sie kosteten etwa zwölf Pfund und konnten bei Nichtgefallen weiterverkauft werden. Es waren vor allem arme Leute aus England, Irland und Schottland, entwurzelte Farmer oder Pächter und unterbeschäftigte Arbeiter, die sich vertraglich (indentured) verpflichteten, eine gewisse Zeit für ihren Käufer zu arbeiten. Sie hatten die Kosten der Überfahrt und Vermittlung sowie die Kosten ihrer Unterbringung, Kleidung und Verpflegung abzuarbeiten. Die Vertragszeit betrug drei bis zehn Jahre, auf Barbados im Durchschnitt 6,75 Jahre (Meissner 2008, 27)“ Sind das nicht vergleichbare Situationen?

Rainer Roth: Die Schuldsklaverei ist bis heute nicht beseitigt. Sie wird, wenn ich das richtig sehe, millionenfach vor allem in den arabischen Emiraten angewandt. Die ArbeiterInnen stammen aus Pakistan, Indien, den Philippinen uns so weiter. Die Ölförderung und Ölverarbeitung in den Emiraten hängt von Schuldsklaven ab. Von daher leben die Nationen der Menschenrechte heute ebenfalls noch von einer „modernen“ Form der Sklaverei.

Es gibt ein Buch von Kevin Bales über die moderne Sklaverei. Ihre wichtigste Form ist die Schuldsklaverei, die die offene Sklaverei abgelöst hat. Sie ist hauptsächlich in Indien verbreitet, einem Land, in dem sich Bauern häufig verschulden und dann ihre Schulden über eine befristete Schuldsklaverei abarbeiten müssen.

In Ihrem Buch wiederholen Sie immer wieder, dass die Sklaverei keineswegs durch den Kapitalismus abgeschafft wurde, sondern vielmehr das Rückgrat für seinen Erfolg war. Wurden die Sklaven beziehungsweise ihre Nachkommen irgendwann einmal dafür entschädigt, dass jene unglaubliche Kapitalakkumulation durch sie ermöglicht worden war?

Nein, zu keinem Zeitpunkt. Da sie Eigentum der Sklavenhalter waren, waren nur diese entschädigungsberechtigt für den Verlust ihres Eigentums. So ist es ja in der französischen Menschenrechtserklärung vereinbart. Auch Großbritannien hielt es so. 40 Prozent der Einnahmen eines staatlichen Jahreshaushalts, 20 Millionen Pfund, wurden für die Entschädigung der Sklavenhalter aufgebracht. Die Sklaven mussten nach der Proklamation ihrer Freilassung im Jahre 1834 ihre „Freiheit“ mit vier weiteren Jahren nahezu unentgeltlicher Arbeit für ihre ehemaligen Sklavenhalter abarbeiten.

Anders war es in den Südstaaten der USA. Dort wurden die Sklavenhalter nicht mit Geld entschädigt. Das war im Grunde ein Bruch der amerikanischen Verfassung, die keine entschädigungslose Enteignung zuließ. Die Entschädigung bestand jedoch darin, dass die Sklavenhalter am Ende die Verfügungsgewalt über ihre ehemaligen Sklaven behalten und sie einem konsequenten System der Rassentrennung unterwerfen konnten, das von den Nordstaaten akzeptiert wurde.

Es stimmt jedoch nicht ganz, dass der Kapitalismus die Sklaverei abgeschafft hat. Er hat die offene Sklaverei weitgehend beseitigt, weil sie nicht den Anforderungen des Industriekapitals an flexible Arbeitskräfte entsprach. Er hat jedoch die versteckte Sklaverei nicht abgeschafft: einerseits die Schuldsklaverei, andererseits die Lohnsklaverei. Laut John Locke ist es eine Form der Knechtschaft, wenn jemand seine Arbeitskraft als Ware verkauft. Die damit verbundene Abhängigkeit von einem Käufer und darüber hinaus die Abhängigkeit von Märkten, die ein Eigenleben führen, ist eine indirekte, eine versteckte Sklaverei.

Herr Roth, Sie schreiben von einem Krieg zur Verbreitung des Christentums und führen aus: „Indianer und schwarze Afrikaner für Kinder zu halten, die durch vernunftbegabte Europäer auf die Stufe des Menschen emporgehoben werden, nahm den Standpunkt der Aufklärung vorweg. Die christliche Missionierung ebenso wie die säkulare Aufklärung verstand sich als eine Art Entwicklungshilfe für (geistig und kulturell) unterentwickelte Völker.“ Für mich hört sich das sehr ähnlich an wie gewisse Reden, die Politiker heute halten, um den „unterdrückten Völkern“ Freiheit und Demokratie zu bringen. Und so wie damals sterben dabei eben Millionen. Mache ich dabei einen Gedankenfehler?

Nein. Bis heute gibt es sogenannte Entwicklungsländer, die nach Ansicht der entwickelten Länder des Westens an die Zivilisation herangeführt werden müssen. Das Menschenrecht auf Privateigentum und die dem entsprechenden politischen Vertretungsorgane, die nur einer Minderheit der Bevölkerung die politische Herrschaft verschaffen, sollen auf der ganzen Welt eingeführt werden. Alle Länder, die sich dem widersetzen, sind unzivilisierte Schurkenstaaten und müssen durch ökonomische Abhängigkeit, korrupte Regierungen und/oder militärische Interventionen abhängig gehalten werden.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Menschenrechtserklärung, die Unabhängigkeitserklärung und die Bundesverfassung von Sklavenhaltern aus Virginia entworfen wurden. Wurden damals die „Menschenrechte“ anders definiert als heute?

Nein. Bis heute ist das Eigentum, besser das Privateigentum, das wichtigste Menschenrecht. So sahen es schon John Locke und auch Rousseau. Heute wird das meist in den Hintergrund geschoben.

Da Sklavenhaltung in Sklavenplantagen, die Tabak, Zuckerrohr, Baumwolle und so weiter anbauen, Grundlage der Ökonomie der englischen Kolonien war, ist es logisch, dass Sklavenhalter auch an der Spitze der amerikanischen, antikolonialistischen Revolution standen und auch lange Zeit die Präsidenten der USA stellten. Die amerikanische Verfassung war die rechtliche Form, die sich der größte Sklavenhalterstaat der modernen Geschichte gab. Die Befreiung von der Sklaverei war ein Verfassungsbruch.

Im Übrigen war John Locke, der Vater der englischen Menschenrechte und der Inspirator der amerikanischen Verfassung, Aktionär einer Sklavenhandelsgesellschaft und über Jahre Sekretär der englischen Sklavenhalterkolonie Carolina. Die französische Menschenrechtserklärung wurde von den zahlreichen Vertretern der Sklavenhalter und -händler, die im französischen Parlament saßen, mit verabschiedet.

In Ihrem Buch liest man, dass nach Verabschiedung der „Verfassung der Freiheit“ in den USA die Unfreiheit der Sklaven um rund 560 Prozent anstieg. Andererseits … passiert heute nicht genau das Gleiche, wenn man sich zum Beispiel die „Bomben für Freiheit“ gegen den Irak oder gegen Libyen anschaut, begründet mit Menschenrechten, und dann die Folgen betrachtet?

Die Expansion der Sklaverei in den USA war eine Folge der industriellen Revolution in England, die ihren Kern in der Baumwollindustrie hatte. Hier verband sich die direkte Sklaverei der USA mit der indirekten Sklaverei der britischen Arbeiterklasse. Im Irak und in Libyen ging es der „westlichen Wertegemeinschaft“ darum, kapitalistische Länder, die eine relative Unabhängigkeit gegenüber den früheren Kolonialmächten erkämpft hatten, zu ruinieren und sie zu unterwerfen.

John Locke, der von Wikipedia als „Vordenker der Aufklärung“ und als „Vater des Liberalismus“ bezeichnet wird, erhält in Ihrem Buch das zusätzliche Attribut „Menschenrechtler“. Mit seinen Thesen legitimierte er im Prinzip die ewige Sklaverei. Ist es Zufall oder liegt es an diesem Geist der „Aufklärung“, dass heute besonders von „Liberalen“ Kriege für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie gefordert werden?

Locke wird als „Vater der Menschenrechte“ bezeichnet, als der Erste, der sie formulierte. Die englische Revolution, deren Ideologe er war, führte nach ihrem Sieg 1649 und schließlich 1688 mit wenigen Unterbrechungen Kriege zur Eroberung von Kolonien wie Irland, Jamaika, Indien oder Afrika, aber auch Kriege gegen die Konkurrenten Niederlande und Frankreich, um das Menschenrecht auf Vermehrung des Privateigentums auszuüben. Ein Menschenrecht für Iren, Kariben, Inder und so weiter auf Eigentum wurde nicht anerkannt. Eroberungskrieg war ein Menschenrecht.

Das englische Menschenrecht auf Eigentum stand gegen das französische Menschenrecht auf Eigentum. Die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft ist das private Individuum und sein Egoismus. Der Egoismus hat regionale und nationale Formen. Im Kampf der nationalen Menschenrechte auf Eigentum setzt sich das stärkste Land mithilfe von Kriegen durch. Und das war eben England, bis es durch die USA abgelöst wurde.

Locke hatte das Recht, Sklaven zu besitzen, als Menschenrecht bezeichnet. Der Schutz des Privateigentums war für Locke das wichtigste Menschenrecht. Wie sehen Sie die heutigen Verfassungen einerseits und die tatsächlichen Verhältnisse andererseits im Vergleich zum 17. Jahrhundert?

Die heutigen Verfassungen sehen ihren Ursprung in den Verfassungen und Rechten der Revolutionen von England, Frankreich und den USA und in ihren allgemeinen Formeln wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat und so fort. Die Kontinuität zeigt sich darin, dass bis heute nur ein Menschenrecht auf Entschädigung der ehemaligen Sklavenhalter anerkannt wird, während man jede Form von Entschädigung der ehemals Versklavten ablehnt, obwohl Sklaverei seit Kurzem als Verbrechen gegen die Menschheit gilt. Das Gleiche gilt für die Kolonialverbrechen, die bis heute ungesühnt sind.

Allerdings haben sich die Dinge mit dem Fortschritt der Produktivkräfte und mit dem Widerstand der Sklaven, der Lohnabhängigen, der Bauern und dem Aufkommen der nationalen Befreiungsbewegungen geändert. Das waren die treibenden Kräfte, warum neue Formen für alte Abhängigkeiten gefunden werden mussten.

Sklaven konnten in England und den Kolonien einige Jahrhunderte lang willkürlich getötet werden, im schlimmsten Fall gab es eine Geldstrafe. Ist es übertrieben zu sagen, dass das willkürliche Töten von Menschen mit Drohnen — aufgrund von Schatten oder anderen Vermutungen — sowie die Bombardierung von Ländern mit Millionen von Todesopfern die Fortsetzung dieses Denkens sind?

Laut Locke gab es ein Recht auf Leben als grundlegendes Menschenrecht. Das bezog sich jedoch nur auf das Leben der bürgerlichen Geschäftsleute im Verhältnis zur Willkür absolutistischer Herrscher. Sklaven hatten ebenso wenig ein Recht auf Leben wie die Armutsbevölkerung Englands, die Einwohner Irlands oder Indiens, die zu Hunderttausenden an Hunger starben, weil ihre ökonomische Entwicklung unterdrückt und ihre Ökonomie auf die Bedürfnisse Englands zugeschnitten wurde.

Das Menschenrecht auf Leben hat nie eingeschlossen, dass keine Menschenleben aufs Spiel gesetzt werden sollen, um Eroberungskriege zu führen. Das gilt bis heute. Und mit den wachsenden, gewaltigen Zerstörungskräften der Waffensysteme können immer mehr Menschen straflos vom Leben in den Tod befördert werden.

Das Verstümmeln und Foltern von Sklaven auch durch Christen war noch bis ins letzte Jahrhundert durchaus Praxis. Sehen Sie zum Beispiel die Tatsache, dass die USA in jedem Krieg – von Korea über Vietnam bis Irak – immer wieder Folter als übliche Praxis einsetzen, als Hinweis darauf, dass der Geist der Sklaverei längst noch nicht überwunden ist?

Folter hat ihren Ausgangspunkt nicht im Terrorismus gegen Sklaven. Sie war auch ein Mittel der religiösen Unterwerfung und ist bis heute ein Mittel der Kriegführung. Andererseits: Ist nicht auch der Hunger, zu dem Eroberungskriege wie in Syrien und anderswo Millionen Menschen verurteilen, eine Form der Folter?

Die Tötung von Sklaven war auch später nur strafbar, wenn die Tötung vorsätzlich erfolgte. Man ging aber zunächst davon aus, dass eine solche Absicht nicht vorlag, solange der Gegenbeweis nicht erbracht wurde. Sehen Sie hier Verbindungen zu den Tötungen von Menschen durch die Polizeiorgane und der Tötung von Zivilisten in Angriffskriegen zum Beispiel der USA?

Die zahlreichen straflosen Morde von Polizisten an Schwarzen in den USA sind eine Fortsetzung der früheren straflosen Lynchmorde mit anderen Mitteln.

In der Geschichte wird ja der US-Bürgerkrieg immer wieder als „erster Menschenrechtskrieg“ bezeichnet, weil es angeblich um die Abschaffung der Sklaverei ging. In Ihrem Buch lesen wir nun, dass erste Menschenrechtserklärungen von Sklavenhaltern erstellt worden waren. Was hatte der Bürgerkrieg nun wirklich mit Menschenrechten zu tun, und war tatsächlich das Recht auf Sklavenhaltung als Menschenrecht definiert worden?

Im Bürgerkrieg ging es vor allem darum, die Einheit der USA zu bewahren. Die Südstaaten hatten einen unabhängigen Sklavenhalterstaat gegründet und beriefen sich dabei auf die amerikanische Verfassung. Das war nicht im Interesse des Kapitals in den Nordstaaten, das einen möglichst großen nationalen Markt für seine Expansion benötigte.

Lincoln proklamierte die Sklavenbefreiung — ähnlich wie die französischen Jakobiner — als Kriegsmaßnahme, um die Südstaaten zu schwächen. Es ging dabei nicht um Menschenrechte. Das zeigte sich auch nach dem Sieg der Nordstaaten, als die Rassentrennung auch von den Staaten des Nordens toleriert wurde. Was hatte die hundertjährige Apartheid in den USA mit Menschenrechten zu tun? Nichts!

Herr Roth, in Ihrem Buch beschreiben Sie im Prinzip auf 700 Seiten, wie sich die Vorstellung von Menschenrechten im Laufe der Jahrhunderte veränderte und das Recht auf Sklaverei über Jahrhunderte als Menschenrecht betrachtet wurde. Heute haben wir die Erklärung der universalen Menschenrechte, die aber auch nur teilweise von den Mächtigen der Welt anerkannt werden. Während die USA das Recht auf Freiheit, Demokratie und Meinungsfreiheit in den Vordergrund stellen, und dafür auch Kriege führen, betont China in erster Linie das Grundrecht auf Erfüllung der elementaren Bedürfnisse des Menschen wie Nahrung, Krankenfürsorge, Kleidung, Wohnung. Was sehen Sie als nächsten Schritt der Entwicklung von Menschenrechten?

Unter dem Eindruck der nationalen Befreiungsbewegungen und des Sieges der damals sozialistischen Sowjetunion über den Hitler-Faschismus wurden in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung soziale Menschenrechte formuliert wie unter anderem das Recht auf Arbeit, das Recht auf einen fairen, ausreichenden Lohn für Familien, das Recht auf Bildung.

Diese proklamierten Menschenrechte werden jedoch nicht umgesetzt. Das ist auch gar nicht möglich, weil das wichtigste Menschenrecht, das auf Privateigentum und Kapitalverwertung, es nicht zulässt. Beschäftigt wird nur jemand, an dessen Arbeit ein anderer verdienen kann. Das schließt ein Recht auf Arbeit für alle aus. Eingestellt werden Kräfte, die möglichst billig sind, sodass Löhne gezahlt werden, die unterhalb des Existenzminimums liegen. Für die Unterhaltskosten der Familien der Arbeitskräfte fühlt sich das Kapital nicht zuständig. Soziale Menschenrechte stehen im Widerspruch zu den Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaft.

Herr Roth, Sie beschreiben, wie Liberalismus und Sklaverei einträchtige Zwillinge in der Geschichte waren. Ist die Förderung von Kriegen durch Liberalismus die Fortsetzung dieser Geschichte?

Der Liberalismus tritt nicht etwa für die universale Freiheit ein, sondern für die größtmöglichen Abhängigkeiten von Arbeitskräften, die sich als Ware auf Märkten verkaufen müssen. Von daher trat der Liberalismus nicht nur für die Aufrechterhaltung der Sklaverei ein, sondern auch für Gewerkschaftsverbote, Streikverbote und so weiter. Die englische Revolution wie auch die französische fassten Gewerkschaften und Streiks als Verstöße gegen das Menschenrecht auf Privateigentum auf. Liberale waren von Anfang an auch für Kriege, um die eigene ökonomische Position zu stärken. Sie waren und sind Vertreter des Imperialismus.

Auf 700 Seiten widerlegen Sie die Geschichtssicht Liberaler, die ihre Vergangenheit offensichtlich nicht aufarbeiten wollen. Was sind wohl die Gründe, warum es keine klare Anerkennung der Fehler der Vergangenheit gibt? Vielleicht um keine Zweifel an der heutigen Politik zuzulassen, die auf dem sogenannten Neo-Liberalismus basiert?

Richtig. Die Verfälschung der eigenen Geschichte, die auf einem terroristischen Vorgehen gegen das eigene Volk und andere Völker beruht, ist notwendig, um an die Anfänge der bürgerlichen Revolution anknüpfen zu können. Sklaverei wird heute allgemein als Verstoß gegen die Menschenrechte dargestellt, obwohl sie doch die Verwirklichung des Menschenrechts auf Eigentum darstellte. Der egoistische Mensch ist die Grundlage der Menschenrechte.

Das zeigt sich vielleicht am deutlichsten in der millionenfachen Versklavung von Afrikanern. Obwohl es ununterbrochen behauptet wird, waren die Menschenrechte auch zu keinem Zeitpunkt universal. Die juristische, fast religiöse Verklärung des individuellen Egoismus von Geschäftsleuten muss, wenn sie aufrechterhalten werden soll, von Raub, Mord, Unterdrückung, Sklaverei und Unfreiheit gereinigt werden, damit der Egoismus des Profits als unbefleckte Empfängnis erscheint.

Sie schreiben über den Bürgerkrieg der USA: „Der Bürgerkrieg entwickelte sich auch nicht aus dem Widerspruch zwischen der Freiheit für weiße Männer und der Unfreiheit für Schwarze, sondern aus dem Widerspruch zwischen denen, die die Sklaverei ausdehnen und denen, die die Ausdehnung der Sklaverei verhindern wollten. Beide Parteien standen zu Beginn des Bürgerkriegs auf dem Boden der Sklaverei. (…) Hätten die Konföderierten die Waffen niedergelegt, wäre die Sklaverei weiterhin mit Lincolns Zustimmung ein Menschenrecht geblieben.“ Wenn ich das lese, scheint mir der Bürgerkrieg der USA der erste von vielen Kriegen des Landes, bei dem Menschenrechte vorgeschoben wurden, um handfeste Interessen des Kapitals durchzusetzen. Oder sehe ich das falsch?

Ob es der erste war, müsste untersucht werden. Die Sklaven wurden nicht im Namen der Menschenrechte befreit, sondern um die Sklavenhalter der Südstaaten militärisch und ökonomisch zu treffen. Die Schwarzen haben sich ihre Freiheit auch teilweise selbst erkämpft. Sie leisteten einen bedeutenden Beitrag für die Abschaffung der Sklaverei. Es ging im Bürgerkrieg nicht um Menschenrechte. Lincoln war ebenso wie vorher Jefferson der Meinung, dass die Schwarzen nicht in den USA zusammen mit den Weißen leben sollten, sondern dass man eine neue Heimat für sie finden sollte, zum Beispiel in Afrika oder in der Karibik.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Frédéric Krumbein: Menschenrechtsdiskurse in China und den USA, Springer 2013.
(2) Das Buch „Über die bürgerlichen Revolutionen in England, den USA und Frankreich“, 2. Auflage vom Februar 2017, ist für 15 Euro unter d.v.s@t-online.de zu bestellen.

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