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Die Macht der Ohnmächtigen

Die Macht der Ohnmächtigen

Erst im Annehmen der eigenen Schwäche offenbart sich wahre Stärke.

Während draußen die Hitze drückt und die Welt zum Flimmern bringt, sitze ich fröstelnd auf der Intensivstation an einem Krankenbett. Nicht das erste Mal in diesem Jahr. Die Angst ist mir vertraut, die sich wie eine Faust in den Magen bohrt, den Hals zuschnürt und den Mund austrocknet. Ich kenne sie gut, die Sorge um den anderen, den Schmerz angesichts seines Schmerzes, die Ohnmacht in einer Situation, in der wir nichts machen können als eine Hand zu halten und Gebete in den Himmel zu schicken.

Jede Geste, die ich ihm schenken kann, ist eine Erleichterung auch für mich. Viel ist es nicht. Während sein Leben an einem seidenen Faden hängt, hülle ich ihn in eine sanfte Wolke, weich und tragend, und stelle mir vor, wie sich das Krankenzimmer mit guten Geistern füllt, die die Genesung bringen oder die Passage ebnen, die wir einst alle zu durchschreiten haben. In welche Richtung es geht, liegt nicht in meiner Hand. Da ist nur seine Hand, von der ich mir wünsche, dass sie warm bleibt.

Die Maschinen im Raum und das geschäftig hin- und hereilende Personal vermitteln den Eindruck, die Situation sei unter Kontrolle. Doch die kleinste Regung, die geringste Störung kann alles verändern. Der Flügelschlag eines Schmetterlings — hier ist es spürbar — kann meine ganze Welt von einem Augenblick auf den nächsten eine vollkommen andere werden lassen.

Die Ungewissheit akzeptieren

Woran die Dauer eines Lebens letztlich hängt, das wissen wir nicht. Gibt es eine innere Uhr, die irgendwann abläuft? Steht es in den Sternen? Gibt es eine Art Seelenplan, eine Bestimmung, ein Schicksal, das wir nur akzeptieren können? Sind die Muster des Lebensteppichs, an dem wir weben, vorgegeben oder entwerfen wir sie im Laufe unserer Existenz selbst? Ich weiß es nicht.

Mit meinem Nichtwissen bin ich nicht allein. Die Erkenntnis, dass uns Weisheit und über jeden Zweifel erhabenes Wissen fehlen, hatte bereits Sokrates: „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“ Seit der griechischen Antike inspiriert das geflügelte Wort Denker und Dichter von Cicero bis Popper und konfrontiert uns immer wieder mit der Frage: Ist es wirklich so? Bist du dir sicher, dass es sich so verhält? Glaubst du tatsächlich, dass deine Sicht die richtige ist, dass genau dein Standpunkt dir erlaubt, den Überblick zu haben?

Mit diesen Fragen machen wir uns keine Freunde. Denn sie treffen uns dort, wo wir am empfindlichsten sind: in unseren Überzeugungen und Gedankenmodellen, die wir wie ein Gerüst um uns herum aufgebaut haben, damit sie uns stützen und unserem Leben Sinn und Halt geben. Gerade in stürmischen Zeiten wie diesen brauchen wir einen Horizont, an dem wir uns orientieren können, einen Stern, der uns führt, Ideen, an denen wir uns festhalten können.

Wellengang

Welche Position wir auch einnehmen, was auch immer unsere Ansichten und Meinungen sind, aus welchen Quellen wir auch trinken: Wir ringen nach Gewissheit. Die Erde ist rund, die Erde ist eine Scheibe, Kriege schaffen Frieden, der Ursprung des Universums ist Liebe — wir alle suchen nach Sicherheiten, die uns in der Illusion wiegen, wir hätten die Dinge unter Kontrolle. So füllen wir unseren Raum mit Ausrufungszeichen, die wir in Wortkanonen auf andere abfeuern, wenn sie uns mit ihren Fragezeichen zu nahe kommen.

Denn Ohnmacht tut weh, das Gefühl, den Ereignissen ausgeliefert zu sein. Wir suchen nach Gründen, Beweisen, Perspektiven, nach etwas Handfestem, um den immanenten Lebensschmerz erträglich zu machen. Wir interpretieren und analysieren die Situation und legen uns die Dinge so zurecht, dass sie irgendwie sinnvoll erscheinen und uns Trost geben in unserer verrückten Welt.

Doch inneren Frieden finden wir so nicht. Ihn erlangen wir nur, wenn wir uns auf die geschwungene Linie des Fragezeichens einlassen.

Diese Erfahrung mache ich, als die Wellen meiner Gefühle hochschlagen und mein innerer Ozean nicht zur Ruhe kommen will. Die Wogen meines Aufgewühltseins lassen sich nicht glätten. Die geringste Veränderung kann Sturm bringen. Ich kann meditieren. Doch kaum habe ich die Rolle der Beobachtenden verlassen, werde ich wieder zur Protagonistin meines Lebens, der das Wasser bis zum Hals steht. Nur eines bleibt mir jetzt noch: Ich versuche, auf den Wellen meiner Ohnmacht zu surfen.

Die Grenzen des Wollens

„The wisdom of Insecurity“ lautet der Titel eines Buches des britischen Religionsphilosophen Allan Watts: Die Weisheit des ungesicherten Lebens (1). Mit „The way of Zen“ veröffentlichte er 1957 den ersten Bestseller über den Buddhismus überhaupt. Seinem Werk zugrunde liegt die Überzeugung, dass unser alle Lebensbereiche durchdringendes Wollen uns letztlich unglücklich macht. Erlösung erfahren wir nur im Loslassen, dann, wenn wir uns auf den Fluss der Dinge einlassen.

Watts war fasziniert von dem Phänomen, dass wir, wenn wir uns krampfhaft an der Wasseroberfläche zu halten versuchen, untergehen, während wir immer wieder an die Oberfläche treiben, wenn wir versuchen unterzugehen. Es gibt offensichtlich Situationen, in denen wir genau das Gegenteil von dem erreichen, was wir mit Anstrengung erwirken wollen.

Als ich selber vor zehn Jahren an Krebs erkrankte, durfte ich im eigenen Körper erleben, was die Macht der Hingabe vermag. Angst, Sorge, Unruhe, Stress — also all das, was uns blockiert und krank macht — verließen mich in dem Moment, in dem ich mein eigenes Wollen abgab: „Dein Wille geschehe“. Diese Hingabe an eine höhere Macht, wie auch immer wir sie nennen, ist kein Fatalismus, kein Resignieren, kein Delegieren der eigenen Verantwortung an andere. Es ist ein Akt höchster Befreiung.

Diese Art der Befreiung fordert uns alles ab. Das Ego hat seinen Dienst getan und darf sich zurückziehen. So kann das Wesentliche zum Vorschein kommen, die Essenz, das wahre, ursprüngliche Selbst. Diese Erfahrung ist wie ein kleiner Tod. Wir lassen ab von dem, an dem wir uns bisher festgehalten haben, und setzen den Fuß ins Leere in dem Vertrauen, dass die Brücke hält.

Gefährten

Die Angst vor dem Krebs hat mich seitdem verlassen. Sie ist nicht zurückgekommen. Doch heute geht es um einen anderen Menschen, der eigene und ganz andere Wege geht als ich. Ich muss ihn gehen lassen, ganz gleich, wohin es ihn zieht. Sein Wille geschehe. Es ist sein Leben. Hier ist er vollkommen frei. Selbst Gott und Teufel mischen sich hier nicht ein. Hier sind wir ganz allein auf uns selbst gestellt. Wir wählen, welche Erfahrungen wir machen wollen und wohin wir unsere Schritte wenden.

Niemand kann uns die Entscheidung abnehmen. Doch wir haben Wegbegleiter. Meine sind die Weisheiten des kürzlich verstorbenen vietnamesischen Zen-Meisters Thich Nath Hanh (2), die Kraft, die der von Geburt an schwerstbehinderte französische Philosoph Alexandre Jollien aus seiner Schwäche zieht (3), die Gedanken der buddhistischen Nonne Pema Chödrön zu den Momenten im Leben, in denen alles zusammenbricht (4), und die letzten Fragmente einer langen Reise der französischen Schriftstellerin Christiane Singer, in denen sie ihr eigenes Sterben dokumentiert (5).

Mir helfen die Erinnerung an meine Ausbildung zur Kranken- und Sterbebegleiterin (6), die Arbeit von Raymond Moody und Elisabeth Kübler-Ross, „Die sieben Geheimnisse guten Sterbens“ der Pallativschwester Dorothea Mihm (7), die Nahtoderfahrung des Neurochirurgen Eben Alexander (8) und Anita Moorjanis „Heilung im Licht“ (9). Ich besinne mich auf die einschneidenden Veränderungen in meinem eigenen Leben und darauf, dass nichts so bleibt, wie es ist (10). Alles geht vorüber.

So kann ich es langsam zulassen, dass eine neue Saite in mir angeschlagen wird, die ich noch nicht kenne. Es ist etwas ganz Zartes und Mächtiges zugleich. Wenn ich diese Saite klingen lasse und mich nicht dagegen sträube, dann kommt hinter der Unruhe und der Angst etwas zutage, was ich hier nicht erwartet hätte: Dankbarkeit!

Danke dafür, einem anderen Menschen ohne jede Maske in seiner Echtheit begegnen zu dürfen, in seiner herzerweiternden Verletzlichkeit, die seine tiefe Schönheit offenbart.

Wie ein neugeborenes Kind liegt er da. So darf ich einmal mehr erkennen, wie nah Tod und Geburt einander sind. Ein Tunnel wird durchschritten, an dessen Ende uns — so scheint es — ein Licht erwartet. Wir wissen nicht, was es uns bringt und welche Welt sich uns dahinter eröffnet. Wir wissen nur, dass der Prozess nicht aufzuhalten ist und uns letzten Endes immer wieder dahin führt, uns dem Ungewissen vollkommen hinzugeben.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Alan Watts: Weisheit des ungesicherten Lebens, Knaur MensSana 2014
(2) Thich Nath Hanh: Wie weiterleben, wenn ein geliebter Mensch stirbt? O.W.Barth 2021
(3) Alexandre Jollien: Petit traité de l’abandon. Pensées pour accueillir la vie telle qu’elle se propose, Points 2015
(4) Pema Chödrön: Wenn alles zusammenbricht: Hilfestellung für schwierige Zeiten, Goldmann 2001
(5) Christiane Singer: Derniers fragments d’un long voyage, Albin Michel 2007
(6) Sogyal Rinpoche: Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben: Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod, Knaur 2010
(7) Dorothea Mihm: Die sieben Geheimnisse guten Sterbens: Erfahrungen einer buddhistischen Palliativschwester, Goldmann 2017
(8) Eben Alexander: Blick in die Ewigkeit: Die faszinierende Nahtoderfahrung eines Neurochirurgen, Heyne 2016
(9) Anita Moorjani: Heilung im Licht: Wie ich durch eine Nahtoderfahrung den Krebs besiegte und neu geboren wurde, Arkana 2012
(10) Kerstin Chavent: Was wachsen will muss Schalen abwerfen. Die Enthüllung eines Krustentieres, BoD 2021

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