Im Juni über die Weinberge laufen nahe Balatonkeresztúr am ungarischen Plattensee – es ist ein wahres Paradies, das meiner Frau und mir während einiger Urlaubswochen vergönnt war. Gerstenfelder erstrecken sich dort, in goldenes Abendlicht getaucht, flauschig wie das Fell eines riesigen Tieres. An ihren Rändern leuchtet in dunklem Lila der Rittersporn und in hellem Rot der Mohn. Sich abwechselnd mit Mais, Weinstöcken, Obstgärten und kleinen Wäldern wiegt sich das Getreide im weichen Wind. Weiße Schmetterlinge fliegen gelegentlich auf, Sperlingsschwärme und Elstern.
Die prallen Kirschen wachsen einem buchstäblich in den Mund, frei zugänglich am Wegrand. Schon deuten sich auch Pflaumen und Pfirsiche für eine künftige Ernte an, und die Bienenweiden sind bunt gesprenkelt von Klee, Kronwicken und Witwenblumen. Die Linden duften süß und brummen vom Ansturm der Hummeln auf ihre blassgelben Blüten. Grün und winzig sind noch die Weinbeeren und versprechen künftigen Saft und Rausch. Selbst den Wintertee für kältere Zeiten kann man vorsorglich in Tüten packen: Kamille, Salbei, Thymian und Johanniskraut. Von manchen Stellen sieht man in der Ferne die riesige spiegelnde Fläche des Balaton vor dem imposanten Tafelberg Badacsony.
Eine solche Landschaft rührt unwillkürlich etwas in uns Menschen an und versetzt uns in eine Hochstimmung, wenn wir bereit sind, uns dafür zu öffnen. Ihre Ausstrahlung ist gesund, einladend, glücksverheißend „Satt und ungeheuer fett“ hatte Konstantin Wecker über den nahenden Sommer geschrieben.
Auch ein Bergwald mit seiner wilden Schönheit spricht die Sinne an und vermittelt ein Wohlgefühl. Eine solche fruchtbare „Kulturlandschaft“ jedoch strahlt noch etwas anderes aus: Sicherheit, das Versprechen, dass wir uns notfalls von diesem Land nähren könnten. Vielleicht trügt diese Verheißung – wir können uns nicht alles nehmen, es gehört den Bauern –, aber das Wohlgefühl, das sich unwillkürlich einstellt, ist unbewusster Natur. Wir lieben, was unseren Bedürfnissen entgegenkommt.
Die Wiederentdeckung der Naturromantik
Der Autor und Biologe Clemens G. Arvay hat dieses Phänomen in seinem Buch „Der Biophilia-Effekt“ sehr anschaulich dargestellt. „Die strahlende Naturromantik spiegelte meine eigene Sehnsucht nach artgerechten menschlichen Lebensräumen wider“, schreibt er dort über ein eigenes Erlebnis.
„Der Homo sapiens entwickelte sich über Jahrmillionen aus der Natur, in der Natur und mit der Natur. Klar sind wir, aus evolutionären Gesichtspunkten, innerlich mit natürlichen Lebensräumen mehr verbunden als mit städtischen, technologischen und hochmodernen.“
Offenkundig wird vor diesem Hintergrund auch, warum sich bestimmte Naturphänomene besonderer Beliebtheit erfreuen: plätschernde Bäche etwa oder spiegelnde Wasseroberflächen, die den Suchenden in archaischen Zeiten schon von weitem signalisierten, dass sie hier überleben konnten. Fruchttragende Pflanzen im Allgemeinen: Obstbäume, Beerensträucher, Pilze und Kräuter, auch Blütenpflanzen, obwohl diese meist nicht unmittelbar essbar sind. Wo Bestäubung stattfindet, wächst später oft eine essbare Frucht – und manchmal fällt auch süßer Honig ab.
Dieser Wohlfühleffekt hat gesundheitlich erhebliche Vorteile, wie der Autor auch anhand von Beispielen aus der Gehirnforschung belegt:
„Das Reptiliengehirn und das limbische System sind also maßgeblich ausschlaggebend dafür, ob wir uns an einem bestimmten Ort beziehungsweise in einer bestimmten Situation entspannen können oder ob wir uns im Alarm- und Fluchtmodus befinden. Sich in der Natur aufzuhalten, führt im Gegensatz zum hektischen Alltag oft in den Entspannungsmodus.“
Der „Savannen-Effekt“
Es gibt sogar einen Namen für unsere Vorliebe für besonders lebensfreundliche Landschaften: den „Savannen-Effekt“. Nicht in dunklen Wäldern fühlen wir uns meist am wohlsten, weil diese wenig Essbares bereithalten und weil aus unübersichtlichem Gestrüpp leicht jederzeit Angreifer hervorbrechen könnten. In aufgelockerten Graslandschaften, die teilweise von Bäumen und Sträuchern bewachsen sind, fühlen wir uns dagegen sicher, weil wir den „Feind“ schon in der Ferne kommen sehen. Und weil diese Landschaften ideale Bedingungen für mannigfaches Pflanzenwachstum bieten. Parklandschaften sind unter anderem deshalb beliebt, weil sie menschengemachte „Savannen“ darstellen. Auch die geschilderte inspirierende Landschaft am Plattensee folgt diesem Muster.
„Unsere Biophilia ist eine Schöpfung der Erde, auf der wir leben. Sie verbindet uns mit unserem Heimatplaneten.“
So Arvay.„Biophilia“ (oder Biophilie) bedeutet Liebe zum Leben, zum Lebendigen. Der Begriff wurde von dem Psychotherapeuten und Philosophen Erich Fromm geprägt und bezieht sich interessanterweise zunächst auf eine Charakterorientierung, besitzt sogar eine ethische Komponente.
„Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen“ heißt eines der wesentlichen Bücher Fromms zum Thema. Dort leitet er Biophilie zunächst von deren Gegenteil ab: der Nekrophilie (Liebe zum Tod oder zum Toten). Den Begriff „Biophilia-Hypothese“ verwendete der Evolutionsbiologe Edward O. Wilson 1993 (also erst nach Fromms Tod). Er sprach in seinem Buch von dem „menschlichen Bedürfnis, sich mit anderen Lebewesen zu verbinden“ und setzte sich für Artenvielfalt ein. Ob Wilson die Bücher Fromms zum Thema gekannt hat, bleibt unklar.
Pflanzen und ihre „Vokabeln“
Keine Zweifel kann es mehr geben an der gesundheitlich wohltuenden Wirkung der Natur auf den Menschen. „Waldspaziergänge sind gesund“ – dies ist weitaus mehr als ein Klischee, eine von medizinischen Laien eher „gefühlte“ Erkenntnis. Wie Clemens G. Arvay in seinem Buch ausführlich darstellt, kommunizieren Pflanzen über chemische Substanzen miteinander. Sie senden Moleküle aus, etwa um andere Pflanzen vor Schädlingen zu warnen.
Sogar die Frage, welcher Fressfeind sich nähert, kann über diese „Pflanzenvokabeln“ präzise beantwortet werden. Bäume bilden aufgrund solcher Alarmsignale seitens ihrer Artgenossen vorsorglich Abwehrstoffe gegen die Schädlinge, ohne selbst mit ihnen in Berührung gekommen zu sein. Von Menschen werden diese Moleküle meist als angenehme Düfte wahrgenommen.
Etwa 2000 solcher „Vokabeln“ hat die Wissenschaft mittlerweile identifiziert. Die meisten von ihnen gehören zur Gruppe der Terpene. Diese schützen Bäume vor Sonneneinstrahlung, können erwünschte Insekten und Tiere anlocken, unerwünschte abschrecken oder gar töten. Wichtig ist nun die positive Wirkung der Terpene auf unsere Gesundheit. „Einige unter den Terpenen interagieren auf höchst gesundheitsfördernde Weise mit unserem Immunsystem. (…) Waldluft ist wie ein Heiltrunk zum Einatmen“, schreibt Arvay. Traditionell nennen die Japaner das wohltuende Einatmen von Waldluft „Shinrin-yoku“ (Waldbaden).
Heute ist Shinrin-yoku eine vom japanischen Gesundheitssystem sorgfältig erforschte und geförderte ergänzende Behandlungsmethode bei vielen Krankheiten. Arvay findet das nur logisch: „Pflanzen reagieren auf Terpene häufig mit einer Steigerung ihrer Abwehrkräfte. Unser Immunsystem reagiert ebenfalls mit einer Stärkung der Abwehrkräfte.“ Terpene wirken auch auf unser Hormonsystem und reduzieren Stress – ein Effekt, den man ohne weiteres aus eigener Erfahrung nachvollziehen kann.
Bäume machen gesund
Selbst der Krebsvorsorge können Aufenthalte in der Natur dienlich sein. Clemens G. Arvay unter Berufung auf Forschungsergebnisse der Nippon Medical School in Tokyo: „Wenn Sie zwei Tage hintereinander in einem Waldgebiet verbringen, können Sie die Anzahl Ihrer natürlichen Killerzellen um mehr als fünfzig Prozent steigern.“ Freilich ist dieser Effekt im Inneren eines baumreichen Waldes am stärksten ausgeprägt. In „Savannen“-Landschaften und Anbaugebieten vieler Kulturpflanzen tritt er nur reduziert auf. Diese Landschaftsformen wirken aber auf andere Weise heilsam: durch ihre Freude spendende Fruchtbarkeit.
Zu vergleichbaren Ergebnissen gelangte auch das Forscherehepaar Rachel und Stephen Kaplan aus Michigan, USA. Beide betonen besonders den erholsamen Effekt der Natur-Faszination.
Im Alltag sind wir oft gezwungen zu „gerichteter Aufmerksamkeit“, der unter Leistungsdruck erbrachten Fokussierung auf ein Sachthema, auf Texte oder Zahlen. Diese Form der verengten Aufmerksamkeit ermüdet den Geist und schmälert unsere natürliche Daseinsfreude.
Natur-Faszination dagegen ermöglicht einen weiten, sanften und schweifenden Blick, gelenkt nicht durch Willenskraft, sondern durch die Naturphänomene selbst, die uns abwechselnd in ihren Bann ziehen.
Am Staffelsee in Südbayern gehe ich zum Beispiel mit Vorliebe in Ufernähe spazieren. Dort kann der Blick ungezwungen zwischen dem Fern- und dem Nahbereich wechseln, und überall findet er Schönheit: Moorlandschaft, See und Alpenpanorama bilden den Hintergrund, Trollblume, Schwertlilie oder Schwalbenwurz-Enzian den Vordergrund, und gelegentlich sieht man sogar ein Reh bei einem Wäldchen stehen – wie erstarrt zunächst, bevor es das Weite sucht.
Selbst minimale Natureindrücke – etwa ein Baum vor einem Fenster – sind offensichtlich heilsam. Das Ehepaar Kaplan hat 1200 Büroangestellte befragt, von denen die Hälfte aus ihrem Fenster Ausblick auf Grünflächen hatten. Die Kontrollgruppe hatte keinen solchen Ausblick. Die „Natur-Gruppe“ gab deutlich seltener an, unter Konzentrationsstörungen zu leiden und über ihre Arbeit frustriert zu sein. Sie zeigte signifikant mehr Freude an ihrer Arbeit.
Auch Kinder mit sogenannter Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) profitieren ohne Zweifel von Naturerfahrungen. Der Sachbuchautor Richard Louv spricht in diesem Zusammenhang vom „Ritalin der Natur“ und plädiert – statt Ruhigstellung durch Medikamente – dafür, die Kinder in den Wald zu schicken, damit sie sich austoben können.
Natur gibt's nur offline
„Natur“ meint natürlich echte Landschaften, Pflanzen und Tiere, nicht die Substrate auf flimmernden Bildschirmen der heimischen Fernseher, Computer, Tablets und Smartphones.
Was uns gesund macht, ist nicht downloadbar.
Man muss fühlen, wie die Erde fett zwischen unseren Fingern zerbröselt, wie ein eiskalter Bergbach unsere Füße zuerst wie Nadeln sticht, um sie hinterher mit einem warmen, belebenden Strömen des Blutes zu belohnen. Man muss das pilzbewachsene, bemooste Totholz riechen oder die wunderbaren weißen Dolden der Holunderblüte im Frühsommer.
Es ist bekannt, dass Naturfaszination sogenannte Flow-Erlebnisse auslösen kann. Der Mensch macht die beglückende Erfahrung, vollkommen in einer Betrachtung oder einer Tätigkeit aufzugehen – zum Beispiel in Gartenarbeit. „Die Erfahrung der Natur vermag unser Gehirn in einen anderen Modus zu schalten, in dem quälende Gedanken verschwinden, Glücksgefühle auftauchen und Probleme in den Hintergrund treten.“ (Arvay)
Man wundert sich nach diesen Betrachtungen nicht mehr, warum ein Phänomen wie die Winterdepression verbreitet ist. Es fehlt ja alles Grüne, Bunte und Sprießende, auch fast jeder Geruch. (Freilich sind auch dann Winterspaziergänge besser als die völlige Abschottung von der Natur.) Man wundert sich nicht mehr über eine Art Großstadtdepression, auf den viele mit kompensierendem Konsum, mit Drogen und stressbedingten Krankheiten reagieren.
Es ist eine Tragödie, dass sich das Landproletariat mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert in den Stein- und Metalllandschaften der Städte verdingen musste, die ihm abstoßend hässlich vorgekommen sein mussten – entwurzelt und abgeschnitten von jeder Freundschaftspflege mit Pflanze und Tier. Es ist traurig, dass sich viele heute an eine fast pflanzenlose Welt gewöhnt haben – auch an eine tierlose, sieht man von Dackeln und Hauskatzen ab. Noch schlimmer, dass nicht wenige Menschen gar nicht mehr das Bedürfnis nach ausgleichender Betätigung im Park, am Stadtrand oder durch Urlaub in Waldgebieten haben.
Naturliebe schafft ökologisches Bewusstsein
Entsprechend gering ausgeprägt ist oft auch das ökologische Bewusstsein. Man kennt gar nicht mehr, was man eigentlich schützen sollte. Engagement bezieht sich häufig eher auf einen abstrahierten „Umwelt“-Begriff, ohne dass wirkliche Liebe zu einem konkret erlebten Eichhörnchen, einem Kirschbaum oder Weidenröschen dahintersteht. Diese Liebe nämlich wäre es, die dem Umweltengagement Nachdruck und eine Seele verleihen würde.
Man wirkt nicht mehr wissentlich an der Zerstörung von etwas Befreundetem und Liebgewonnenem mit. Auch der Fleischkonsum beruht ja auf der Vernichtung von Leben, das dem Konsumenten nicht vertraut ist, dass er als fremd, von sich abgespalten und vermeintlich seelenlos erlebt.
Dichtung ist in puncto Naturbezug oft weiter fortgeschritten als Technik, denn sie versucht in den „Weltinnenraum“ (Rilke) empathisch einzudringen. Romantische Dichter haben den Wald als kräftigenden Seelenraum gepriesen, auch als Einladung zum Rückzug aus einer als unaufrichtig und zerstreuend erlebten „Außenwelt“. So schreibt Joseph von Eichendorff in seinem auch vertonten Gedicht „O Täler weit, o Höhen“ über den Wald: „Du meiner Lust und Wehen/ Andächt’ger Aufenthalt!/ Da draußen, stets betrogen,/ Saust die geschäft’ge Welt,/ Schlag noch einmal den Bogen/ Um mich, du grünes Zelt!“
Und auch Ludwig Tieck preist die Naturidylle: „Waldeinsamkeit/ Mich wieder freut,/ Mir geschieht kein Leid,/ Hier wohnt kein Neid/ Von neuem mich freut/ Waldeinsamkeit.“ Naiv ist das mitnichten, denn der Rückzug aus einer Welt, die von den sterilen Steinwüsten der Städte, von Straßenlärm, computerisierten Büros, und uns beständig „anschreienden“ Konsumangeboten beherrscht wird, tut nicht nur infolge chemischer Prozesse gut.
Die Natur beurteilt uns nicht
Heilsam an Naturräumen ist auch, dass wir in ihnen von den Erwartungshaltungen der Menschen, etwa unserer Vorgesetzten, befreit sind, ebenso von werbeinduzierten Schönheitsidealen, die uns terrorisieren. Clemens G. Arvay schreibt dazu anschaulich: „In der Natur, in der Wildnis, ist jeder von uns ein Lebewesen unter unzähligen Lebensformen. Wir sind umgeben von Pflanzen und Tieren, Pilzen und Mikroorganismen, die allesamt eines gemeinsam haben: Sie verurteilen uns nicht und stellen keine Ansprüche an uns, wie wir zu sein oder nicht zu sein haben. (…) In der Natur können wir sein, wie wir sind.“
Ich spüre bei längerem Schlendern auf Waldwegen, an Bächen, Schluchtenabhängen und über natürliche Blumenwiesen – vor allem wenn ich langsam und nicht leistungsorientiert gehe – schon nach kurzer Zeit ein Gefühl der Erleichterung. Dies aber macht mir deutlich, dass mich etwas an der Menschenwelt sonst unmerklich belastet hat – vielleicht ja die bohrenden Blicke urteilender und wettbewerbsorientierter Personen, die zu fragen scheinen: „Bist du mir gewachsen? Zeig doch mal, was du drauf hast!“
Natur ist jedoch nicht nur ein Ort, an dem wir von unserem Schicksal gleichsam eine Auszeit nehmen können. Wir lernen eine Menge von und in ihr. Was in einem bekannten Weihnachtslied über den Tannenbaum gesagt wird, trifft auf Pflanzen und Tiere generell zu: „Dein Kleid will mich was lehren“. Damit ist keine aufdringlich pädagogische Absicht von Rinde und Regenwurm gemeint. Vielmehr „zieht“ das menschliche Bewusstsein aus den Naturphänomenen, die es beobachtet, bewusst oder auch unwillkürlich gewisse Erkenntnisse.
So Clemens G. Arvay über das Austreiben einer Weide nach dem Kahlschlag: „Der Baum trotzt seinem Schicksal, findet selbst nach einem radikalen Einschnitt in sein Leben wieder zu neuen Kräften und versucht einen Neustart. Er wächst über seine Verletzungen hinaus.“ Dies könnte einen Menschen inspirieren, der gerade in einer ähnlichen Situation steckt. Die Weide flüstert ihm gleichsam zu: „Du bist nicht alleine, ich habe es auch geschafft. Du kannst wieder aufstehen.“
Die Natur als Spiegel menschlicher Seelenprozesse – genau das macht sie so „poesiefähig“.
Auch Menschen, die keine Dichter sind, erfassen dies intuitiv. Denken Sie an eine Pflanze, die Sie besonders lieben und überlegen Sie, was diese Wahl über Sie selbst verrät.
Die Botschaft des Krokusses
Ich habe Krokusse über Jahrzehnte besonders gemocht und erst spät eine Theorie darüber entwickelt, warum das so ist. Vielleicht weil Krokusse ein bisschen sind wie ich. Wer zu früh herauskommt – mit Ideen, die bei den Mitmenschen noch kaum auf Resonanz stoßen – muss frieren. Er führt das relativ harte Leben eines „Pioniers“. Der Krokus aber entwickelt besonders viel Eigenwärme, was den Schnee rings um ihn schneller schmelzen lässt. Mehr als dies etwa bei Sommerpflanzen der Fall ist. Auch wer sozial in einer kalten Umwelt zurechtkommen muss, schafft dies nur durch Eigenwärme. Denken Sie einmal über die „Botschaft“ Ihrer Lieblingspflanzen nach.
Zu beachten ist außerdem der positive Effekt der Natur auf die menschliche Seele durch pure Schönheit. Gern wird dies in Büchern mit wissenschaftlichem Anspruch übersehen, denn Schönheit hat mit Harmonie zu tun, mit Proportionen, mit der Anordnung von Farben und Formen zueinander. Dies aber sind Kriterien, die wir meist auf von Menschen geschaffene Kunstwerke anwenden.
Der Dokumentarfilm-Autor Rüdiger Sünner sieht in der Natur einen „ungeheuren Überschuss von Schönheit und Spiel“ am Werk. Wobei mit „Spiel“ das Mehr-als-Notwendige gemeint ist. Lebensformen besitzen Eigenschaften, die nicht unmittelbar dem Überleben dienen. Gewiss erfüllen das Federkleid eines Pfaus oder die Farbe und der Duft einer Blume auch einen „Zweck“: Männliche Vögel wollen mit ihrer reichen Farbenpalette Weibchen anlocken. Blumen sind darauf bedacht, aufzufallen und Insekten zur Bestäubung zu verführen. Blüten sind oft so „konstruiert“, dass der Blütenstaub leichter am Fell der Bienen hängenbleiben kann – man betrachte dazu etwa den „Klappmechanismus“ des Wiesensalbei. Trotzdem erklärt dies nicht vollständig die ungeheure Farben- und Formenvielfalt in der Natur. Zum Überleben hätten auch ein paar unscheinbare Spezies genügt.
Schönheit berührt die Seele
Schönheit in der Natur berührt die Seele in ähnlicher Weise wie es ein vollkommenes Kunstwerk tut. Das Aussehen von Blumen scheint exakt auf das menschliche Empfindungsvermögen zugeschnitten. Und damit meine ich nicht die Tatsache, dass Blumen in einigen Fällen essbar sind. Schon das Betrachten kann beglücken und inspirieren. Das Vorhandensein solch bezaubernder Phänomene scheint geradezu auf ein Potenzial von Güte, auf eine wohlmeinende Präsenz hinzuweisen – trotz aller Grausamkeit, die es in der Wildnis ja auch gibt.
Schönheit vermittelt eine Ahnung von „Schöpfung“, was die Existenz eines Schöpfers nahe legt.
Nicht jeder wird einer spirituellen Deutung folgen wollen, aber auch die Schönheit „aus sich heraus“ wäre bewundernswert – dann als ein großes, unentschlüsseltes Geheimnis.
Wir sind nicht ausschließlich die Beute unseres Überlebensinstinkts, der uns zum Beispiel zum reifen, gelbroten Pfirsich greifen lässt. Der Mensch ist in der Lage, das Nützliche – etwa eine Kartoffel – als reizlos, das Unnütze – etwa den giftigen Roten Fingerhut – dagegen als ansprechend zu empfinden. Selbst eingefleischte Naturmuffel werden sich schwertun, den Gang durch einen Botanischen Garten im Mai bei schönem Wetter nicht als angenehmer zu empfinden als den Besuch eines leerstehenden, verwahrlosten Fabrikgeländes.
Es bleibt unsere Aufgabe, dieses Geschenk unseres Planeten – teilweise durchaus bereichert durch menschliche Gartenkunst und Zuchterfolge – anzunehmen, es zu pflegen und zu bewahren. Gegenüber vollkommen empfindungslosen Betrachtern wäre all diese Schönheit wahrlich verschwendet. Die Fähigkeit, wahrzunehmen, zu würdigen und zu genießen, ist nicht jedem gleichermaßen gegeben; sie lässt sich jedoch auch üben. Unserer Gesundheit an Leib und Seele können wir kaum einen größeren Dienst erweisen als durch vertieften Kontakt mit der Natur. Daher hat Konstantin Wecker sehr recht, wenn er singt: „Uns hat die liebe Erde doch so viel mitgegeben. Dass diese Welt nie ende – nur dafür lasst uns leben!“
Buchtipp: Clemens G. Arvay: Der Biophilia-Effekt. Heilung aus dem Wald. edition a, 253 Seiten, € 22,90