Biophilie, die Liebe und das Interesse für Pflanzen und Tiere, die Freude an Naturspaziergängen (siehe dazu meinen Artikel „Die Liebe zum Leben“) ist keine Nebensächlichkeit. Dies wird deutlich, wenn wir ihr Gegenteil betrachten: die Nekrophilie, die Orientierung am Tod und am Toten. Nekrophilie ist eine destruktive Unterströmung unseres Zeitgeists, die wir uns zu wenig bewusst machen. Sie zeigt sich in scheinbar nicht miteinander zusammenhängenden Phänomenen wie Faschismus, Ökonomismus, Autoritarismus, Virtual Reality, der einseitigen Liebe zu Künstlichem und Technischem.
Der Begriff „Biophilie“ wurde von dem Psychotherapeuten und Philosophen Erich Fromm geprägt und bezieht sich zunächst auf eine Charakterorientierung. Er besitzt sogar eine ethische Komponente. „Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen“ heißt eines der wesentlichen Bücher Fromms zum Thema. Dort leitet er Biophilie zunächst von deren Gegenteil ab: der Nekrophilie (Liebe zum Tod oder zum Toten). Die spanischen Faschisten in den 1930er-Jahren gefielen sich in dem Ausspruch „Viva la muerta!“ (Es lebe der Tod). Der spanische Philosoph Miguel de Unamuno bezeichnete diesen Ausspruch während der Franco-Diktatur öffentlich in Anwesenheit eines Generals als einen „nekrophilen und sinnlosen Ruf“. Damit gebrauchte er laut Fromm die Bezeichnung „nekrophil“ erstmals in einem psychologischen Kontext, löste ihn also aus dem Zusammenhang der körperlich vollzogenen Leichenschändung heraus.
„Von allem Toten angezogen“
Erich Fromm folgte dieser Deutung und definierte:
„Ein Mensch mit nekrophiler Orientierung fühlt sich von allem Nicht-Lebendigen, von allem Toten angezogen und fasziniert: von Leichen, Verwesung, Kot und Schmutz.“
Diese Deutung erhält rasch einen politischen Beigeschmack, wie ja auch bereits der erweiterte Nekrophilie-Begriff Fromms auf den Faschismus verweist. Nekrophile Charaktertypen sind „kalt, auf Distanz bedacht und bekennen sich zu Gesetz und Ordnung. (…) Charakteristisch für den nekrophilen Menschen ist seine Einstellung zur Gewalt. Gewalt ist die Fähigkeit, einen Menschen in einen Leichnam zu verwandeln.“ Nicht immer ist hierzu aber ein physischer Tötungsvorgang notwendig. Es genügt oftmals, einem Menschen seine Lebendigkeit in einem Maß zu rauben, die ihn unbegrenzt kontrollierbar und verfügbar macht. Als „Kadavergehorsam“ bezeichnet Ignatius von Loyola eine der Pflichten der Jesuiten. Der Unterworfene solle sich gegen einen Befehl ebenso wenig wehren, wie sich ein Leichnam dagegen sträuben kann, hierhin und dorthin gezerrt zu werden.
Der tote Mensch ist das Kulturideal der Faschisten, der Technokraten und der Militärs.
Sie wollen nicht immer den Leib töten, sofern dieser ihnen noch nützlich sein kann. Immer aber wollen sie die Lebendigkeit der Seele auf ein ihren Absichten zuträgliches Maß herunterdimmen — etwa durch Demütigung und Freiheitsberaubung. Wer ganz lebendig ist, gehorcht nicht gern. Es zeigt sich bei nekrophil orientierten Menschen und Systemen zum Beispiel die Tendenz, Menschen zu maschinenhaft funktionierenden größeren „Körpern“ anzuordnen — man denke etwa an die quadratischen Soldatenkolonnen auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg oder an die Aufmärsche in anderen Diktaturen. Diese aus willenlos gewordenen Einzelmenschen zusammengesetzten „Maschinen“ funktionieren nach dem Willen des Kommandierenden, also eines Nekrophilen.
Je mehr Menschen gebrochen, je weniger also lebendig sind, desto durchlässiger sind sie für den Willen ihres Zwingherren. Dies funktioniert grundsätzlich auch an Arbeitsplätzen oder in privaten Machtverhältnissen. Auch Überwachung oder die lückenlose Durchsetzung von Gesetzen und Verkehrsregeln sind insofern in der Tendenz nekrophil — mögen sie auch Argumente für sich haben, wie Schutz der Bürger vor Verletzungen und so weiter. Das radikal chaotische Leben soll gemäß einem tatsächlich oder vermeintlich überlegenen, übergeordneten Willen gebändigt werden. Das Wesen jedes Autoritarismus, auch in seiner gemäßigten, noch demokratisch maskierten Form, ist die Angst. So schreibt Erich Fromm über den Nekrophilen:
„Eine tiefe Angst vor dem Leben erfüllt ihn, weil das Leben seinem Wesen nach ungeordnet und unkontrollierbar ist.“
Das bunte Leben
Hierzu gehört auch die Angst vor allem Fremden, vor einer allzu „bunten Republik Deutschland“. Umgekehrt ist Fremdenfreundlichkeit biophil im Sinne Erich Fromms:
„Die lebende Substanz hat die Tendenz zur Integration und Vereinigung; sie tendiert dazu, sich mit andersartigen und gegensätzlichen Wesenheiten zu vereinigen und einer Struktur gemäß zu wachsen.“
Diese Eigenschaft, die allen Zellen und pflanzlichen Organismen innewohnt, betrifft auch die Seelenebene.
„Wer das Leben liebt, fühlt sich vom Lebens- und Wachstumsprozess in allen Bereichen angezogen. Er will lieber neu schaffen als bewahren. Er vermag zu staunen und erlebt lieber etwas Neues, als dass er in der Bestätigung des Altgewohnten Sicherheit sucht.“
Nekrophilie, mag sie auch nicht immer so genannt worden sein, kann auf eine „ehrwürdige“ geistesgeschichtliche Tradition zurückblicken. So betrachtete René Descartes, der am Anfang der philosophischen Moderne stand, Tiere als Automaten. Er folgerte:
„Ihre Schmerzensschreie bedeuten nicht mehr als das Quietschen eines Rades!”
Descartes wurde damit zum Vorläufer moderner Achtlosigkeit und Grausamkeit gegenüber Tieren. In einer amerikanischen Fachzeitschrift für Schweinezüchter heißt es:
„Vergessen Sie, dass das Schwein ein Tier ist. Behandeln Sie es genauso wie eine Maschine in einer Fabrik. Gehen Sie beim Umgang mit den Schweinen wie beim Ölen eines Gerätes vor.“ (Zitiert nach John Robbins: „Ernährung für ein neues Jahrtausend“)
Die Fleischproduzenten der Welt haben diesen Rat beherzigt — und genauso sieht unsere Welt heute aus.
Liebe zum Künstlichen
Ein weiteres literarisches Zeugnis für Nekrophilie finden wir bei Joris Karl Huysmans. Der französische Autor schuf in seinem Roman „Gegen den Strich“ aus dem Jahr 1884 mit der Figur „Des Esseintes“ den Prototyp des Décadents. Huysmans beschreibt seine Romanfigur bezeichnenderweise so:
„Übrigens schien das Künstliche Des Esseintes das kennzeichnende Merkmal des menschlichen Geistes zu sein. Er pflegte zu sagen, die Natur sei überholt; durch die abstoßende Einförmigkeit ihrer Landschaften und ihres Himmels habe sie endgültig die aufmerksame Geduld des Raffinierten ermüdet.“
Konsequenterweise zieht der feinsinnige Adelige Kunstblumen den natürlichen vor. Die Schönheit der Frauen, findet er, werde durch die der von Menschen geschaffenen Maschinen übertroffen.
„Gibt es hienieden ein in den Freuden des Fleisches erzeugtes und aus den Schmerzen der Gebärmutter entstandenes Wesen, dessen Modell, dessen Typ glänzender und blendender ist als jener der beiden Lokomotiven, die auf den Linien der Nordbahn fahren?“
Dies ist krank, ja. Und tatsächlich fällt Des Esseintes am Ende des Romans dem Wahnsinn zum Opfer. Wenn jedoch heute jemand Autos und Technik „geiler“ findet als das organische Leben, gilt dies als zeitgemäß und „cool“.
Unsere Realität als Ganzes nimmt in Zeiten wuchernder Großstadt-Moloche, wo sterile Architektur und technische Apparaturen das Bild beherrschen, immer mehr den Charakter des Künstlichen an. Das von Menschen Gemachte verdrängt das Natürliche, wodurch selbst der Körper als Relikt unserer Tierhaftigkeit „verdächtig“ wird.
Schon streben „Transhumanisten“ eine zunehmende Verschmelzung des Organischen mit dem Technischen an.
Die Menschheit als Borg-Kollektiv
Die Zukunft, so scheint es, gehört dem Cyborg, der in Science fiction-Filmen oft liebevoll beschrieben wird. Robocop, Transformers und die glupschäugigen Autos des Trickfilms „Cars“ gewinnen die Herzen des Filmpublikums, während die gleichgeschalteten „Borg“ im Star Trek Universum wenigstens noch Beklemmung verursachen. Aber sind wir nicht längst Mensch-Maschinen, auch wenn unsere Körper (noch) nicht verdrahtet und von Implantaten entstellt sind? Haben wir nicht den Maschinen und den von ihnen erzeugten synthetischen Träumen die Kontrolle über unser Leben in einem Ausmaß überlassen, das schon an Dystopien wie „The Matrix“ erinnert? Wer nie ohne sein Smartphone aus dem Haus geht, kann es sich auch gleich implantieren lassen.
Die Faszination am Mechanischen beruht häufig auf einer Angst vor der Unberechenbarkeit des Lebens, speziell auch unserer eigenen Emotionalität.
Ohne quälende Gefühle zu sein — eigentlich: nicht mehr Mensch zu sein — dieses Bedürfnis drückt sich in neueren Filmen häufig in der Roboter-Figur aus. Freiheit nicht nur von Angst und Schmerz, sondern auch vor der Tyrannei des Gewissens, das sich mancher Global Player vielleicht operabel wünschen würde.
In filmischen Seelenerkaltungsfabeln wie „Die Körperfresser“ aus dem Jahr 1978 geht es um diesen Alptraum, hinter dem der Wunschtraum nach Befreiung von quälenden Gefühlsturbulenzen steckt. Hinzu kommt die Vision überlegener Intelligenz und unbegrenzter Speicherkapazität — die Vision des Übermenschentums wie sie unlängst in der Serie „Better than us“ auf Netflix zu bewundern waren.
Sind Roboter die besseren Menschen?
„Mehr als menschlich“ zu sein, muss aber durch Seelenlosigkeit erkauft werden. Roboter sind in diesem Sinn Leichen, nur ohne den Ekelfaktor. Die Beliebtheit von Nicht-Personen in der modernen Kommunikation ist somit auch ein Symptom für Nekrophilie im Sinn Erich Fromms: die Liebe zum Toten. Ausgezeichnet dargestellt wird dies auch im Klassiker „Terminator 2“ von James Cameron, in dem sich Blechkopf Schwarzenegger mit John, dem Sohn seines Schützlings Sarah Connor, „anfreundet“. Sarah kommentiert dies so:
„Als ich John mit der Maschine sah, wurde es mit schlagartig bewusst. Der Terminator würde niemals aufhören, ihn niemals verlassen, ihn niemals verletzten, niemals anschreien oder sich betrinken und ihn schlagen oder sagen, dass er keine Zeit für ihn hat. Er wird immer hier sein und er würde sterben, um ihn zu beschützen. Von all den möglichen Vätern, die in den Jahren kamen und gingen, war dieses Ding, diese Maschine, der einzige, der den Ansprüchen gewachsen war.“
Unermüdlichkeit und unbegrenzte Verfügbarkeit sind hier also die Lockmittel, die den mechanischen gegenüber dem menschlichen Gefährten auszeichnen. Ebenso auch das völlige Fehlen menschlicher Schwächen und Gemütsschwankungen. Wer braucht schon einen echten Freund, wenn er Schwarzenegger haben kann? Und wer braucht eine zickige Partnerin, wenn die devote Mecha-Frau ihm alle Wünsche erfüllt?
Auch in anderen Bereichen ist die Roboterisierung der Menschheit weit fortgeschritten. Gerade im Krieg werden Soldaten dazu erzogen, wie Androiden (also gar nicht) zu fühlen und ihre Mitmenschen anderer Nation oder Religion wie leblose Gegenstände zu „entsorgen“.
Die Annäherung des Menschen an Roboter in der Realität ist grausiges Gegenstück zu den vielen menschelnden Robotern, die man im Film bewundern kann. Auch macht die systematisch vorangetriebene emotionale Verflachung der Menschen und ihre Reduktion auf bestimmte Funktionen innerhalb einer ökonomischen Maschinerie diese zu ideal verwertbaren Objekten im Neoliberalismus.
Mit den Eigenschaften „Programmierbarkeit“, „Unermüdlichkeit“, „fehlender Eigenwille“ und „fehlende störende Emotionalität“ sind Robotermenschen aus der Perspektive der Herrschenden tatsächlich die „besseren“ Menschen.
Haben-Orientierung im Neoliberalismus
Leben verlangt nach Wachstum und Ausbreitung, es will seinem inneren Bedürfnis gemäß gedeihen, ist ungebändigt und unvorhersehbar. Dagegen, so Fromm, „liebt der nekrophile Mensch alles, was nicht wächst, alles, was mechanisch ist. Der nekrophile Mensch wird von dem Verlangen getrieben, Organisches in Anorganisches umzuwandeln, das Leben so mechanisch aufzufassen, als ob alle lebendigen Menschen nichts anderes seien als Dinge.“ Das Lebendige als mechanisch auffassen und das Mechanische als lebendig — dies ist die große und gefährliche geistige Verwirrung unserer Epoche, die man gleichzeitig als dekadent und als nekrophil charakterisieren kann. Tamagochis und Cyber-Sex gehören ebenso zu ihren gruseligen Leitsymptomen wie eine Industrie der Zerstörung, Zerstückelung und Verfügbarmachung: Waffenhandel, Menschenhandel, Tierfabriken, Fleischindustrie.
Der Neoliberalismus kann sich nicht vom Vorwurf der Nekrophilie zu Lasten seines weniger subtilen Bruders, des Faschismus, freisprechen. Zur nekrophilen Charakterstruktur gehört ebenso das Besitzdenken. So schreibt Erich Fromm:
„Der Nekrophile kann zu einem Objekt — einer Blume oder einem Menschen — nur dann in Beziehung treten, wenn er sie besitzt; daher bedeutet ihm eine Bedrohung seines Besitzes eine Bedrohung seiner selbst; verliert er den Besitz, so verliert er den Kontakt mit der Welt.“
Dies beschreibt die Haben-Orientierung im Kapitalismus sehr treffend. Ebenso das Wirken bestimmter Juristen, die „das Leben einsperren in Paragrafen“, so Konstantin Wecker. Große Denker und Schriftsteller warnten daher vor der Todesorientierung. Beispielsweise Thomas Mann an einer entscheidenden Stelle in seinem Roman „Der Zauberberg“:
„Der Mensch soll um der Liebe und der Güte willen dem Tod keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“
Freiheit und Gesundheit sind eins
Eine konsequent biophile Haltung nahm neben Erich Fromm auch der umstrittene Psychotherapeut Wilhelm Reich ein. Er betrachtete Therapie als eine Methode zur Befreiung vitaler Energien und engagierte sich — was weniger bekannt ist — aus eben diesem Grund auch politisch. Er gründete die „Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung“, wo er die Probleme von Menschen aus dem Arbeitermilieu studierte und erforschte, welche Auswirkungen Libidostau und gesellschaftliche Rahmenbedingungen auf den Gesundheitszustand hatten. Aufgrund dieser Erfahrungen kritisierte Reich Freuds Schriften als „Kulturanpassungslehre“ und beklagte „die Angst der Psychoanalytiker vor den sozialen Konsequenzen der Psychoanalyse“. Er forderte umfassende Maßnahmen zur „Neurosenprophylaxe“, die auch gesellschaftliche Reformen im Sinne von Karl Marx miteinschlossen.
„Freiheit definieren ist identisch mit Definition der sexuellen Gesundheit“, schrieb Wilhelm Reich.
„Es gibt eine sexualphysiologische Verankerung der sozialen Unfreiheit im menschlichen Organismus.“
So lässt sich Reichs Unbehagen an herkömmlichen, das System stabilisierenden Therapieformen mit einem Satz Theodor Adornos zusammenfassen:
„Indem der Geheilte dem irren Ganzen sich anähnelt, wird er erst recht krank.“
Letzte Konsequenz des politischen Engagements Reichs war 1931 die Gründung eines „Reichsverbands für Proletarische Sexualpolitik“ als Unterorganisation der KPD.
Digitale Weltflucht
Später überwarf sich der Psychotherapeut allerdings mit den politisch und sexuell zunehmend repressiv agierenden Parteiführern. In der Tat war es mit der biophilen Orientierung der realsozialistischen Genossen nicht immer so weit her. Zumindest variierte sie je nach Persönlichkeitsstruktur. So liebte Rosa Luxemburg ihre Kohlmeisen, währen Mao Tse Tung zeitweise Blumen in privaten Wohnräumen als Ausdruck bourgeoiser Gesinnung verbieten ließ.
Der Gegensatz Biophilie/Nekrophilie eignet sich trefflich, um konstruktive Ideologien innerhalb ein- und desselben politischen Spektrums von den destruktiven zu unterscheiden. Fäkalsprache, eine Vorliebe für Totenköpfe, Horrorfilme und die Farbe Schwarz sind somit, auch wenn sie im „linken“ Milieu auftreten, ein Alarmsignal. In der Folge des bisher Gesagten ist die ganz praktische Biophilie, die Liebe und das Interesse für Pflanzen und Tiere, die Freude an Naturspaziergängen, keine Nebensächlichkeit.
Freilich kann es verschiedene Interessenschwerpunkte geben. Der technikaffine Bastler kann ein trefflicher Antifaschist sein und seine Gegner online wirksam bekämpfen. Allerdings ist eine generelle Scheu vor der Welt „draußen“, eine einseitige Faszination für Technik, Stadtlandschaften, für die pflanzen- und lichtlosen Kunstwelten der Kellerlokale und Diskotheken unter dem Gesichtspunkt der psychosomatischen Gesundheit zumindest bedenklich.
Das echte Leben findet noch immer Offline statt, nur dort kann man es befühlen, schmecken und riechen — mag auch das Betrachten von Blumenbildern im Internet an kalten Wintertagen einen probaten Ersatz darstellen. Der Protest gegen das, was uns kaputt macht, ökologisches Bewusstsein und die Fürsorge für unsere eigene Gesundheit fließen in der biophilen Lebensorientierung wunderbar zusammen. Nekrophilie ist nicht die alleinige Wurzel allen Übels, aber es gibt wohl kaum ein verdammenswertes Phänomen auf unserer Erde, das nicht wenigstens einen Beigeschmack von Nekrophilie enthält. Wir bekämpfen Nekrophilie nicht allein durch — wieder computergestützte — intellektuelle Diskurse; wir bekämpfen sie vor allem durch unser praktisches Leben, durch unseren Körper und durch die Tat.
Nekrophilie in den Zeiten von Corona
Nun aber noch ein paar Worte zum Thema Nekrophilie in Zeiten von Corona. Es geht dabei auch um das Überhandnehmen von allem Virtuellen während des Shutdowns. Aber nicht nur darum. Betrachten wir einmal eine typische Nachricht aus der Mainstream-Presse:
„Im Englischen Garten waren Menschen noch unterwegs, um die Sonne zu genießen.“
So stand es im Münchner Merkur vor circa fünf Wochen. Eine solche Schlagzeile erzielt heute eine ganz andere Wirkung als noch bis vor kurzem. Die unterschwellige Botschaft dahinter lautet: Diese Menschen verhalten sich rücksichtslos. Die tun so, als ob es Corona gar nicht gäbe.
Viele Nachrichten dieser Art haben einen jugendfeindlichen Unterton und verströmen ein Aroma puritanischer Freudlosigkeit, gar von Lebensfreude-Feindlichkeit. AIDS hatte Sexualität in Frage gestellt; Corona räumt jetzt alle anderen Formen menschlicher Begegnung ab. Interessant ist ja, dass das Virus das Berühren dämonisiert, wie schon im Pandemie-Thriller „Contagion“ mit Kate Winslet und Matt Damon gezeigt wurde. Kontakt ist gefährlich, Nicht-Kontakt geboten. Eine Gesellschaft, in der man sich nicht mehr umarmt, ist quasi ein ehrlicher Ausdruck der allgemein herrschenden Erkaltung und Beziehungslosigkeit.
Während es aber für das physische Abstandhalten nachvollziehbare Gründe gibt, stimmt ein Blick auf die Gesamtheit der jetzt „verbotenen“ Charakterqualitäten doch besorgt: Unbefangenheit, Unaufgeregtheit, Unerschrockenheit, Optimismus, Geselligkeit, Freiheitsliebe und Widerspruchsgeist, selbständiges Denken, Misstrauen gegenüber Staat und Medien, Berührung, Nähe, alles eigentlich Natürliche und Spontane, dem Herzen Entspringende — all das „geht nicht mehr“ in den Zeiten von Corona. Auch wenn das alles seitens der Politiker nicht „so gemeint“ gewesen sein sollte — welche Menschheit wird da gerade geformt?
Menschlicher Selbstekel
Der Corona-Imperativ hat erkennbar einen Drall ins Nekrophile — in dem Sinn, dass Kontrolle, Vereinzelung, Gleichmacherei und Sterilität regieren.
Die Corona-Krise offenbart den Widerwillen Einzelner vor ihrer eigenen Kreatürlichkeit, ihren Hang zum Selbstekel.
Friedrich Nietzsche kritisierte am Menschen, dass er „mitunter vor sich selbst mit zugehaltener Nase dasteht“. Während die Corona-Hygiene-Maßnahmen auf allen Kanälen propagiert werden, erlebt sich der Bürger — selbst der gesunde — hauptsächlich als potenzielle Gefahr, als Virenschleuder, um die alle anderen Erdenbewohner einen großen Bogen machen müssen.
Es wird uns deutlich gemacht, dass wir als Lebewesen nicht an unserer Hautoberfläche enden. Ständig behelligen wir unsere Mitwelt durch allerlei gefährliche Ausdünstungen, durch unseren vergifteten Atem, durch verspritzte Tröpfchen und herausgeschleuderten Schleim. Und indem wir überall, wo unsere ungeschützte Hand nur für kurze Zeit aufgelegen hat, Abdrücke keimhaltigen Schmutzes hinterlassen.
Insofern verbietet sich für den Menschen des Corona-Zeitalters auch jede „Vermischung“. Die Menschen wandeln, umgeben von unsichtbaren Käseglocken, durch ihre Welt, wie umhüllt von einander abstoßenden Magnetfeldern. Die größte anzunehmende Katastrophe wäre die Orgie — die von Kanzlerin Angela Merkel verräterischer Weise in Form der „Lockerungsorgie“ herbeizitiert wurde. Exzessive Schleimübertragungs-Aktionen wie der Kuss unterbleiben völlig — um von Schlimmerem hier zu schweigen. Schon der alarmistische Seuchen-Thriller „Outbreak“ aus dem Jahr 1995 von Wolfgang Petersen hatte einen solchen „Todeskuss“ drastisch gezeigt: Eine Frau begrüßt ihren vor lauter Erkältungssymptomen schon schnaubenden Liebsten mit einem langen Kuss — ihr Todesurteil. Es ist bisher wenig untersucht worden, wie weit die Corona-Maßnahmen das Sexualleben der Menschen beeinträchtigt haben — sicher erheblich, wenn man vor allem an allein stehende, sexuell aktive Menschen denkt.
In dieser schönen neuen Welt wird die Umarmung zum Verbrechen, das Drangsalieren der Menschen dagegen zum Liebesbeweis, den Vater Staat seinen Söhnen und Töchtern angedeihen lässt.
Und, wie schon Erich Fromm schlüssig dargelegt hatte: nicht nur der Wunsch, in einer keimfreien Umgebung zu leben, kann ein Symptom von Nekrophilie sein — schon die Vision einer „reibungsfrei“ im Sinne staatlicher Vorgaben funktionierenden Menschheit ist es.
Wie lebendig wollen wir leben?
In einem Gedicht, das ich anlässlich der ersten Ausgangssperren verfasste, beschrieb ich die Bürger unter dem Corona-Regime so:
„Sie sind nicht tot, doch kann man auch nicht sagen, dass sie leben.“
Es wird in den nächsten Wochen und Monaten darauf ankommen, nicht nur unsere politischen Freiheiten zurückzuerobern, sondern auch unsere Lebendigkeit, unser Recht, in vollem Umfang zu leben — was mehr bedeutet, als bloß zu existieren, eingesperrt von unserem Staat, bedrückt von unseren eigenen Ängsten.
Der hervorragende US-amerikanische Essayist und Universal-Gelehrte Charles Eisenstein schrieb in seinem Aufsatz „Die Krönung“ (The Coronation):
„Wie viel vom Leben wollen wir auf dem Altar der Sicherheit opfern? Wollen wir zu unserer Sicherheit in einer Welt leben, wo sich Menschen nicht mehr versammeln? Wollen wir zu jeder Zeit Masken in der Öffentlichkeit tragen? Wollen wir uns bei jeder Reise medizinisch untersuchen lassen, wenn das eine bestimmte Zahl von Menschenleben pro Jahr rettet? Sind wir bereit, die allgemeine Medikalisierung des Lebens zu akzeptieren und die Bestimmungshoheit über unsere Körper medizinischen Autoritäten (die von politischen ernannt werden) zu überantworten? Wollen wir, dass jede Veranstaltung eine virtuelle Veranstaltung wird? Wie sehr sind wir bereit, in Angst zu leben?“
Lebendig zu sein, ist nicht ohne Risiko, zweifellos. Die Alternative besteht darin, nur noch sehr reduziert zu leben, als lebende Tote, wenn man so will. Konstantin Wecker beschrieb diesen „letzten Menschen“ so:
„Und das soll dann alles gewesen sein? Ein Leben ganz ohne den Wind. Versorgt und verplant und ohne Idee, was wir wollen und wer wir sind.“
Und Charles Eisenstein fragt:
„Gipfelt der Fortschritt der Menschheit nach Tausenden, ja Millionen von Jahren der Berührung, des Kontakts und des Zusammenseins darin, solche Aktivitäten einzustellen, weil sie zu riskant sind?“