Ich bin überfordert. Ich habe Angst. Ich denke ständig an die Ukraine, habe imaginäre Debatten mit Andersdenkenden. Mit Menschen, die Frieden wollen und deshalb für Waffenlieferungen an die Ukraine sind. Ich verstehe es nicht. Doch auf welcher Seite stehe ich? Muss ich auf einer Seite stehen? Und warum ist es überhaupt wichtig, wie ich zu allem stehe?
Was nützt es mir, mich zu informieren, wenn ich dadurch nur von meinem wirklichen Leben im Hier und Jetzt in der realen Welt abgelenkt bin und versuche, eine richtige Meinung oder einen richtigen Eindruck von einem Geschehen zu bekommen, das weit weg und vor allem völlig außerhalb meines Einflussbereichs liegt?
Ich diskutiere mit Menschen in meinem Leben darüber, was wir tun können oder sollten oder lieber nicht sollten — wie zum Beispiel Geld an irgendeine Nichtregierungsorganisation schicken, die angeblich die Ukrainer mit schusssicheren Westen und anderen Materialien ausstattet, damit sie dem russischen Militär nicht schutzlos ausgeliefert sind. Was soll das? Warum mischen wir uns da ein? Wissen die Unterstützer, wen genau sie dort unterstützen, oder vermuten sie es nur?
Wissen wir oder vermuten wir?
Wie viele Menschen stellen sich immer einmal wieder bewusst die Frage, wo sie nur Vermutungen anstellen und wo sie etwas wissen. Und selbst beim vermeintlichen Wissen stellt sich dann immer wieder die Frage, woher es kommt und ob es wirklich Wissen ist oder nur Glauben. Am Ende müssen wir alle irgendeinem Dritten vertrauen, der uns eine Information gibt.
Intelligente, gebildete Menschen fragen sich, wie vertrauenswürdig eine Informationsquelle ist, doch auch da sind wir aufgeschmissen, denn die einen trauen ganz anderen Quellen als wieder andere. Und dann streiten wir darüber, wer recht hat, wessen Quelle die bessere ist: etablierte Leitmedien oder neue Medien aus dem Internet? Und auch da gibt es Abstufungen. Wer nimmt sich die Zeit, diese zu machen. Und warum können wir nicht alle einfach mal einen Moment innehalten — vor allem die Journalisten aller Medien — und uns fragen, welch große Verantwortung uns zukommt und ob wir mit dem wichtigsten journalistischen Kriterium des kritischen Hinterfragens allen Akteuren gegenüber gerecht werden.
Wir alle sagen, wir wollen Frieden. Doch tragen wir mit unserer Berichterstattung zum Frieden bei?
Experten versus Menschen?
Schnell! Wir brauchen Experten, wir müssen Experten befragen, wie sie die Lage einschätzen. Doch all diese Leute sind auch nur Menschen, und ich frage mich, warum nicht ein Journalist oder vermeintlicher Experte in der Lage ist oder das Recht hat zu sagen: Ich weiß es nicht. Als wären sie keine fehlbaren Menschen mit einer subjektiven Weltsicht. Ebenso all die Leute, die nun auf die Straße gehen, um für Frieden zu demonstrieren. Merken sie, dass sie, wenn sie nur für eine Seite demonstrieren, den Krieg unterstützen?
Haben sie sich umfassend mit dem Thema befasst, um klar sagen zu können, dass sie für die Unterstützung der Ukraine sind? Wen meinen sie mit der Ukraine? Die Bevölkerung oder die Regierung? Mir scheint, sie alle haben Angst, der Krieg kommt nun auch zu uns, und deshalb sind sie auf der Straße. Doch das sagen sie so nicht. Sie müssen so tun, als sei es für die Ukrainer. Als hätten sie kein Recht, für sich selbst zu demonstrieren. Und als müssten sie aus der Angst heraus irgendetwas tun, egal was, weil sie es nicht aushalten, dass es chaotisch und komplex ist und außerhalb unserer Kontrolle liegt, dass wir als Menschen, auch wenn wir Experten auf einem Gebiet sind, nicht alles verstehen und kontrollieren können.
Wir können es nicht verhindern
Wir können es nicht verhindern, wenn eine Regierung Bomben auf unsere Städte werfen möchte. Ist es nicht naiv, Frieden von Regierungen einzufordern, die bisher immer wieder Kriege führten? Das ist eine frustrierende Erkenntnis. Dabei kann uns auch kein Experte helfen. Die Angst und Ohnmacht muss jeder Mensch für sich allein aushalten und fühlen.
Nur wenn wir uns und anderen unsere Machtlosigkeit eingestehen, können wir uns darüber austauschen, dadurch als menschliche, fühlende Wesen miteinander verbinden und zusammen nach neuen Wegen suchen, die zu wirklichem Frieden führen.
Solange wir dies nicht tun, lassen wir uns weiter in Gruppen spalten und für Kriege anderer nutzen, die — egal aus welchem Lager — nie selbst davon betroffen sind, sondern sich hinter ihren Elfenbeintürmen gegen alle Bevölkerungen abschirmen.
Die Situation in der Ukraine ist chaotisch und komplex. Ich frage mich, ob es überhaupt möglich ist, einen Überblick zu bekommen, eine sichere Information zu erhalten.
Stress versus Menschlichkeit
Unsere Gesellschaft ist angeblich gut informiert und zugleich höchst gestresst. Ich wünsche mir mehr Menschlichkeit. Sowohl für die Ukrainer als auch für uns. Welchen Anteil haben westliche Regierungen und Geheimdienste und Waffen am Leid der Ukrainer? Wer ist wirklich verantwortlich? Sind es nicht die Regierungen aller Länder, die sich in den letzten Jahren in die ukrainische Innenpolitik einmischten? Wem nützt es, wenn wir uns darüber streiten, ob die NATO schlimmer ist oder Putin? Warum fällt es uns so schwer, in beiden die Verantwortlichen für den Krieg zu sehen?
Wenn Deutschland Waffen an die Ukraine liefert, werden mit diesen Waffen Menschen verletzt und getötet. Das ist sicher. Es ist völlig außerhalb unserer Kontrolle, welche Menschen es treffen wird.
Die ganzen intellektuellen Analysen — egal in welche Richtung — empfinde ich als verzweifelte Versuche von Menschen, sich nicht mit ihrer Ohnmacht und Angst auseinanderzusetzen. Hinter dem aggressiven Ton in Debatten und sogar auf Friedensdemonstrationen nehme ich verdrängte Gefühle wahr.
Was machen die Nachrichten mit uns? Wie würden wir uns jetzt verhalten, wenn wir einfach den Stecker ziehen? Sie besetzen unsere Köpfe und stiften Unfrieden und Krieg sogar in unserem Inneren. Das macht uns alle fertig. Lenken uns die Nachrichten über Geschehnisse, die außerhalb unseres Einflussbereichs liegen, nicht von unserem wirklichen Leben ab? Verbringen wir nicht die meiste Zeit in einer Scheinrealität, die unser Verstand anhand der Informationen, die permanent auf uns einprasseln, erzeugt, anstatt die wahre Welt direkt um uns herum wirklich zu sehen und zu spüren?
Ich denke an Ullrich Mies und die psychologische Kriegsführung nach Innen. Sie besetzen unsere Köpfe mit Informationen, auf die wir keinen Einfluss haben, und wir reagieren wir dressierte Roboter im Dienst derer, die Profite über Menschenleben und die Bewahrung der Natur stellen.
Wir können etwas tun
Und schon gibt es einen Handlungsspielraum. Ich kann die Nachrichten abschalten und nicht mehr in mein Leben lassen. Sobald ich den Stecker ziehe, haben sie keine Macht mehr über mich. Ich kann mir immer wieder bewusst machen, was die Medienrealität und was meine wirkliche Welt im direkten Umfeld ist. Ein Tag ohne Nachrichten reicht, um den Unterschied zu fühlen.
Das ist nun paradox, dass ich für ein Medium schreibe und zugleich sage, schalten Sie ab. Mir geht es darum, dass wir lernen, Medien bewusst und in Maßen zu konsumieren. Dass wir die in uns aufgenommenen Informationen sacken lassen, verdauen und bewusst fühlen, was sie mit uns machen und diese Gefühle aushalten.
Als Medienschaffende müssen wir uns fragen, welche Art der Information wir den Leserinnen und Lesern unserer Beiträge geben möchten. Ich bevorzuge es, Artikel zu schreiben, die ihnen Handlungsspielräume öffnen und sie zu ihrem wirklichen Leben vor Ort führen.
Wir können im kleinen Umfeld, in der Nachbarschaft miteinander über unsere Ängste sprechen, die Debatten über Politik auf eine Metaebene heben und uns gegenseitig fragen, wie wir uns angesichts der Nachrichten fühlen und einander zuhören.
Wenn wir uns überfordert fühlen, dürfen wir uns zurückziehen. In die Natur gehen, unsere Liebsten umarmen, ein gutes Buch lesen, im kalten See baden und den eigenen Körper fühlen. Frieden beginnt im Kleinen.
Nachrichten sind eine Art Droge. Und sie sind das Tor der Mächtigen in unsere Köpfe und können unsere Herzen verschließen, wenn wir nicht sehr achtsam mit ihnen umgehen.
Wenn ich wirklich die Information an mich heranlasse, dass Menschen in Kiew ihre Wohnungen verlassen und ängstlich in U-Bahn-Schächten übernachten, vergeht mir jede Lust, mit irgendwem zu diskutieren. Ich fühle eine gewisse Scham über das Privileg, hier — noch — in Sicherheit zu sein. Wenn ich diese Scham zulasse, löst sie sich irgendwann auf, und Dankbarkeit für mein Leben kommt auf. Ein Leben, das ich die ganze Zeit übersehe, weil ich im Kopf mit imaginären Mitmenschen debattiere oder auf den Krieg oder eine andere Katastrophe warte.
Ich überhöre Vogelzwitschern, verpasse die Gelegenheit einer liebevollen Umarmung, weil ich stattdessen diskutieren will, führe Kleinkrieg gegen meine Mitmenschen und merke es erst, wenn mein Magen schmerzt und mir übel ist. Ich kann mir nicht vorstellen, einmal selbst Krieg erleben zu müssen, und habe seit meiner Kindheit große Angst davor. Doch was nützt diese Angst mir? Was ändert sie? Was nützt sie den Menschen, die bereits dieses Unglück ereilt?
Wir sind nicht egoistisch und unsolidarisch, wenn wir uns auf unser Leben besinnen und wieder im Hier und Jetzt leben. Wenn wir uns von der Besatzungsmacht der Nachrichten in unseren Köpfen befreien und uns in bewusster Achtsamkeit üben.
Nur dann können wir Informationen überhaupt in unserem Interesse aufnehmen, weil wir sie nicht mehr mit Wissen verwechseln, sondern als eine Perspektive auf die Welt erkennen. Wer wirklich an Wahrheit interessiert ist, kommt nicht umhin, sich mit Medienkritik zu befassen, anstatt einfach aus Tradition und Gewohnheit heraus etablierten Medien zu glauben.
Wir können so viel tun. Doch immer nur bei uns selbst.
Möchten wir recht haben, oder möchten wir glücklich sein?
Dürfen wir glücklich sein, während in der Ukraine Krieg herrscht? Können wir unglücklich sein und gleichzeitig ehrliches Mitgefühl haben? Können wir unglücklich und ängstlich sein und gleichzeitig Frieden fühlen?
Was ist Frieden? Was ist Mitgefühl? Wann steigt der Verstand aus, und wir fühlen einfach — alles auf einmal? Ohnmacht, Angst, Scham, Mitgefühl, die Hand eines geliebten Menschen auf unserer, einen Blick in die Augen eines anderen Menschen, Stille. Sei es auch nur für einen kleinen Augenblick.
Ich kann andere Menschen nicht ändern, das können nur sie selbst. Aber ich kann meinen Umgang mit ihnen ändern, mein Bewusstsein und meine Wahrnehmung trainieren, damit sie nicht mehr von außen besetzt werden und mich von meinem Leben und wahren Einfluss ablenken. Ich kann die Macht über meine Gedanken und Gefühle zu mir zurückholen. Das ist anstrengend, doch es ist der einzige Weg, den Mächtigen das Tor zu uns zu verschließen und zu verhindern, dass sie uns für ihre Zwecke nutzen.
Wenn ich lerne, Nachrichten bewusst und in Maßen zu konsumieren, den Unterschied zu machen, wo ich Einfluss nehmen kann und wo nicht, wenn ich fühle, was die Informationen mit mir machen, komme ich zur Ruhe und sehe wieder meine Realität im direkten Umfeld und begegne den Menschen aus meinem inneren Frieden und verletzlichen Menschsein heraus. Daraus entstehen neue Verbindungen, die uns als Gesellschaft im Alltag stärker zusammenwachsen lassen und den Weg zu einem neuen Bewusstsein ebnen. Übernehmen wir wieder die Verantwortung für unsere Gesellschaft.
„Die Verantwortung zu übernehmen bedeutet, dass wir auch angesichts von Hindernissen immer noch über die Fähigkeit verfügen, unser Leben neu zu erfinden und unser Schicksal zu gestalten, um unser Wohlergehen maximal zu steigern. Wir praktizieren diese Haltung jeden Tag, um mit Realitäten zurechtzukommen, die wir nicht so leicht ändern können“ (1).
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Quellen und Anmerkungen:
(1) bell hooks: „alles über liebe“, HarperCollins Hamburg 2000, Seite 98