Was hätte Jesus getan, wenn er in unserer Zeit gelebt hätte? Diese Frage steht am Anfang der im Rahmen der Gesellschaft für Gesundheitsberatung GGB e.V. gehaltenen Neujahrsrede von Eugen Drewermann. Würde er sich in einer zeitgenössischen Bergpredigt dafür aussprechen, Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, wie Aussätzige zu behandeln? Hätte er dazu aufgefordert, die Unbeugsamen mit einem Bann zu belegen? Hätte er es gutgeheißen, dass die Kirchen aus Angst vor Ansteckung Weihnachten leer bleiben und dass nicht mehr gemeinsam gebetet, gesungen und gefeiert werden kann?
Die am meisten verbreitete Infektionskrankheit zur Zeit Jesu war die Lepra. Die von dieser wenig ansteckenden Krankheit Betroffenen lebten zumeist in großer Armut und wurden von der Gemeinschaft vollständig ausgegrenzt. Damit andere sie meiden konnten, mussten sie mit einer Klapper auf sich aufmerksam machen.
Jesus brach ein Tabu seiner Zeit, indem er nicht vor den Aussätzigen zurückwich, sondern sie berührte, heilte und segnete. Er steckte sich nicht an. Er grenzte niemanden aus und wies niemanden zurück, der sich mit der Bitte um Hilfe an ihn richtete.
Wo ist sie heute, die Gemeinschaft, die sich in seinem Namen gebildet hat? Wo lebt sie noch, die Religion, die ursprüngliche Verbindung zwischen Himmlischem und Irdischem? Wo sind Milde, Gnade, Heilung, Vertrauen, Vergebung? Die Menschen unserer Welt sind kalt geworden, berechnend, leblos. Von fünf großen Mängeln sind sie geprägt: Mangel an Individualität, Mangel an Vernunft, Mangel an Integrität, Mangel an Wahrhaftigkeit und Mangel an Hoffnung. Mit der ihm eigenen Präzision und Eindringlichkeit zeichnet Eugen Drewermann das Bild einer Gesellschaft, die das Wesentliche aus den Augen verloren hat.
Bewusstsein schafft Wandel
Wir haben uns in der Masse verloren und wissen nicht mehr um unsere Einzigartigkeit, unsere Unaustauschbarkeit, unsere angeborene Besonderheit. Gefangen zwischen Produktion und Konsum verstecken wir uns hinter den Anweisungen, die man uns auferlegt. Unfähig, einander zuzuhören, können wir einander nicht mehr wirklich begegnen und voneinander lernen. So haben wir neben unserer Individualität auch unsere Vernunft verloren. Unsere Wissenschaft ist zu einer Glaubensfrage degeneriert. Wer nicht die richtigen Fragen stellt, wird exkommuniziert.
Als entmündigte Objekte hängen wir vom Wissen der Spezialisten ab und können nur noch gehorchen, anstatt eigene Entscheidungen zu treffen. Es zählt allein die kognitive Intelligenz. Gefühle haben keine Bedeutung mehr, werden gar als gefährlich angesehen. Alles Irrationale, Traumhafte, Immaterielle wird brutal auseinandergerissen und zertrampelt. Innerlich wie äußerlich sind wir zu Zerstörern geworden. Es berührt uns kaum noch, dass zwischen 1970 und 2010 die Hälfte aller Tier- und Pflanzenarten auf unserem Planeten ausgelöscht wurde. Wir vermissen sie gar nicht.
Unsere emotionale Demenz versperrt uns den Zugang zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Wir glauben, was man uns von offizieller Seite erzählt, und interessieren uns nicht für Widersprüche.
Einer Regierung, die im letzten Jahr ihren Rüstungsetat um eine Milliarde auf neun Milliarden Euro erhöht hat, nehmen wir gutgläubig ab, dass sie friedlich unterwegs ist. Wir schauen weg, wenn von Frankfurt aus Menschen in ein amerikanisches Foltergefängnis geflogen werden und von Rammstein aus systematisch Menschen von Drohnen ermordet werden.
Es stört uns nicht weiter, dass die deutsche Waffenindustrie eine der mächtigsten der Welt ist, und friedensbewegte Menschen durch Geheimdienste überwacht und verfolgt werden. Auch die digitale Transformation nehmen wir einfach hin und verschließen unsere Sinne vor der Gefahr einer totalitären Weltregierung. Denn wir haben auch die Hoffnung verloren, dass es anders sein könnte. Unser Leben hat keinen Sinn mehr. Unser Bewusstsein ist nichts weiter als eine Neuronenmaschine, die mit unserem Tod aufhört zu funktionieren. Es gibt kein Leben jenseits der Gräber.
Diese Vorstellung ist es, die die aktuelle Pandämonie unablässig befeuert. Wir haben nichts mehr als unseren fleischlichen Körper, an den wir uns klammern können. So haben wir die Hölle vom Jenseits ins Diesseits geholt. Erst dann, so Eugen Drewermann, wenn wir akzeptieren, dass das Leben zyklisch ist und der Tod nicht unser Feind, sondern ein Freund, ein großer Bruder, der uns eine Tür öffnet, wird es uns gelingen, aus der Welt des Mangels in eine Welt der Fülle zu treten.
Neujahrsansprache von Eugen Drewermann
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