Seit einiger Zeit kann man den Eindruck gewinnen, dass jeder einzelne Mensch in Deutschland ausgebildeter Psychologe ist. Nicht nur Politiker und Medien, nein, auch jeder Mensch auf der Straße oder in den sozialen Netzwerken stellt unaufgefordert Ferndiagnosen. Jeder glaubt eine Ahnung zu haben von den Beweggründen und Motiven, die andere Menschen antreiben. Kein Wissen um seelische Belange ist zu gering, zu rudimentär, als dass es nicht für eine überzeugte, zumeist wenig überzeugende Stellungnahme zum Geisteszustand anderer verwendet werden könnte.
Gegenwärtig ergießt sich die ganze Grütze der Küchenpsychologie über den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Dieser sei, so die gängige Meinung, wahnsinnig geworden, überschätze sich selbst, strebe danach, das Zarenreich, die Sowjetunion wieder zu errichten, greife nun nicht nur nach der Ukraine, sondern nach ganz Europa, nein, der ganzen Welt. Er habe sich von der Realität vollkommen abgekoppelt und lebe seine Traumata aus, indem er unschuldige Ukrainer tötet.
Solche blitzartigen Ferndiagnosen, die sich einzig auf die eigenen Vorurteile stützen, machen die Runde nicht nur in den klassischen Medien, von denen man ein solches Niveau ja bereits gewohnt ist, sondern schlagen sich auch teilweise in den alternativen Medien nieder und werden ungefragt von fast jedem wiederholt, der sich nur einen Augenblick über das Thema der Ukraine-Krise auslässt.
Gleichzeitig scheint zumindest Deutschland nicht nur ein Land von 80 Millionen Psychologen, sondern zugleich eines von 80 Millionen Juristen geworden zu sein. Denn ebenso sicher wie von der „Diagnose“, dass Putin wahnsinnig geworden sei, sprechen beinahe alle Politiker, Medien und Ottonormalpersonen von einem eindeutigen Völkerrechtsbruch seitens Putin, der auf jeden Fall zu verurteilen sei.
Dass man für ein Jurastudium schon das ein oder andere Jahr benötigt und Völkerrecht nicht einmal zum Pflichtstoff gehört, spielt dabei keine Rolle. Auch die Tatsache, dass es der Internationale Strafgerichtshof ist, der über Völkerrechtsbrüche urteilt und dafür oftmals viele Jahre ermittelt, Indizien und Beweise sammelt und Zeugen anhört, kann man dann einmal ignorieren.
Nein, diese Arbeit kann sich der durchschnittliche Deutsche nach den 15 Minuten Tagesschau sparen, denn er weiß bereits alles, was er glaubt, wissen zu müssen. Man könnte sagen, die Deutschen haben gleich zwei kollektive Blitzstudien absolviert und sind jetzt allesamt Experten für Psychologie und Recht, haben sogar die Qualifikation, locker aus der Hüfte und der Ferne zu urteilen. Oder aber die Bevölkerung Deutschlands, die so viel auf Experten, Fachwissen, abgeschlossene Studien, Papiere und Zertifikate setzt, benötigt all das mit einem Mal nicht mehr, wenn es nur um die Verurteilung der Bösen geht.
Hinzu gesellt sich eine Fernanalyse der militärischen Verhältnisse in der Ukraine, freilich ohne vertiefte Kenntnisse militärischer Strategien, der Pläne der russischen Regierung oder der tatsächlichen Sachlage vor Ort. „Putins Invasion“ sei „gescheitert“, so liest man, sie gehe nicht so einfach voran, wie der große Diktator es sich vorgestellt habe. Putin habe sich verschätzt, nicht mit dem Widerstand der Ukrainer gerechnet.
Diese Einschätzungen sind natürlich vollkommen aus der Luft gegriffen. Denn wer weiß schon, was Putin sich gedacht und vorgestellt hat? Wer hat schon eine Ahnung, was in der Ukraine vor sich geht? Und kann ernsthaft jemand annehmen, die militärischen Strategen des Kreml hätten nicht mit Widerstand gerechnet, wenn sie ihr Militär ungebeten in die Ukraine entsenden?
Sowjetmethoden
Doch diese küchenpsychologischen Analysen, die Annahmen über den Geisteszustand und die Motive anderer Personen, um anhand derer Ereignisse zu messen, die wahrscheinlich eher in der Vorstellung der Analysierenden stattfinden, haben natürlich nicht den Zweck, die wahre Sachlage zu erfassen.
Vielmehr dienen sie der Untermauerung der eigenen Position. Denn wenn Putin wahnsinnig ist, dann muss natürlich alles daran gesetzt werden, ihn aufzuhalten, selbst wenn das den nuklearen Erstschlag bedeutet. Anderenfalls steht der Russe schon übermorgen im Rheinland, denn ein Wahnsinniger, das wissen wir alle, ist natürlich unberechenbar und wird erst aufhören, wenn man ihn dazu zwingt. Man kennt das aus den klischeehaft in Filmen dargestellten psychiatrischen Anstalten, in denen die Verrückten angekettet und in Gummizellen gesperrt werden müssen, damit sie mit ihrem wahnhaften Um-sich-Schlagen niemanden verletzen können.
Die Psychologisierung politischer Vorgänge bringt noch einen weiteren Vorteil mit sich: Man kann die Beweggründe der Gegenseite einfach ausblenden. Denn im Idealfall ist „wahnsinnig“ gleichbedeutend mit „irrational“.
So kann man den Umstand, dass sich Russland durch das Vorrücken der Nato an seine Westgrenze, durch die Biolabore in der Ukraine, in denen wahrscheinlich an biologischen Kampfstoffen geforscht wurde, und durch die Ankündigung Kiews, sich atomar zu bewaffnen, eventuell ein kleines bisschen bedroht fühlte, hervorragend aus der Diskussion verbannen. Man muss die Gegenseite gar nicht erst zu Wort kommen lassen, sich mit ihren Argumenten, ihren Gründen und Motiven gar nicht auseinandersetzen und sie deswegen in der öffentlichen Diskussion auch nicht mehr anführen.
Hinweggefegt wird jede echte Auseinandersetzung mit der Komplexität der Wirklichkeit durch einfache Küchenpsychologie, die der eigenen Position den Anstrich der Vernunft und der moralischen Überlegenheit verleiht und die Position des als Widersacher Auserkorenen zum moralischen Bankrott erklärt, falls denn so etwas wie Moral und Ethik überhaupt im Denken eines Wahnsinnigen vorkommen.
Man kennt dieses Vorgehen bereits von der Diffamierung der Corona-Maßnahmengegner. Diese, so war von Anfang an klar, seien in dieser schwierigen Situation einfach verunsichert. Sie hätten den Überblick verloren in dieser komplexen Welt und suchten nach einfachen Antworten. Das kolportieren interessanterweise Politiker und Medien, die die Welt in einfache Schwarz-Weiß-Muster einteilen, in denen sie selbst natürlich immer auf der Seite der Guten, der Aufrichtigen, des Wahren und Schönen stehen, während alle, die gerade bekämpft werden müssen, logischerweise irrationale, „kremlgesteuerte“ Demokratiefeinde sind.
Auch eine Pathologisierung aller Andersdenkenden fand von Anfang an statt. Dass eine todbringende Seuche wüte, könnten nur Wahnsinnige nicht begreifen, die nicht in der Realität leben und ganz allgemein psychiatrischer Behandlung bedürfen. Dieselbe Argumentation wurde in der Sowjetunion genutzt, um Dissidenten zu delegitimieren.
Doch auch hier im Westen hat diese Diffamierung unerwünschter Positionen nicht erst mit Corona begonnen. Schon vorher wurden all jene, die die Nato als Angriffsbündnis bezeichneten, die westlichen Kriege im Irak, Afghanistan, Syrien, Libyen oder Mali als ressourcenorientierte Durchsetzung von Weltherrschaftsinteressen missbilligten, die Medien als interessengesteuerte Propagandaschleudern enttarnten, mit dem damals noch eher als Nischenbegriff zu betrachtenden Wort „Verschwörungstheoretiker“ bedacht und ihnen somit jeder Realitätsbezug abgesprochen. Diese Menschen, so der Tenor, lebten in ihrer eigenen Welt. Zum „Beweis“ präsentierte man angebliche „Aussteiger“ aus einer Szene, die es so überhaupt nicht gibt und die über Aliens, Reptiloiden oder Chemtrails fabuliere. Auch diese „Aussteiger“ werden gegenwärtig gerne herangezogen, um die „Coronaleugner“ zu diffamieren.
Durch diese ad-hominem-Argumentation genügt es, die Personen abzuwerten, die einem gerade nicht in den Kram passen. Mit ihren Aussagen muss man sich dann gar nicht mehr befassen. Man spricht dem solchermaßen zum Feind Erklärten dann einfach seine Beweggründe und Motive ab, suggeriert, dass er oder sie keine ernstzunehmenden Gründe für sein Verhalten, für seine Dissidenz haben könne.
Das schlägt sich auch in sogenannten Debatten nieder, indem Maßnahmengegner als „Egoisten“ betitelt werden. Und selbst wenn die Impfverweigerer dutzende Studien anführen können, welche die immensen Schäden durch die Genspritze belegen, muss man diese nicht zur Kenntnis nehmen, denn sie werden ja von den Falschen angeführt, die zitierten Wissenschaftler sind dann auch die „Falschen“.
Diese werden dann ebenfalls in das gleiche Lager der Leugner, Feinde, Verächter verbannt, so erst kürzlich geschehen mit dem Datenanalysten Tom Lausen, der die Daten der BKK ProVita auswertete. Denn wenn diese Menschen solche Studien publizieren, solche Erkenntnisse zu Tage fördern, dann sei das Wasser auf die Mühlen der bösen Leugner, Querdenker und Verschwörungstheoretiker, und die, so weiß man ja, können natürlich nicht recht haben.
Ähnlich erging es auch dem Vorstand der BKK ProVita, Andreas Schöfebeck, der nach der Veröffentlichung der Daten kurzerhand vor die Tür gesetzt wurde. Es zeigt sich mehr und mehr, dass die Erkenntnisse, die sich nun Tag für Tag mehren, nur deshalb nicht anerkannt werden, weil sie eines beweisen: Die als Querdenker, Leugner und Verschwörungsmystiker Geächteten hatten von Anfang an recht. Damit verbunden ist natürlich das Eingeständnis des eigenen Irrtums, das sich niemand machen will.
Da stellt sich die Frage: Wer müsste die entsprechenden Erkenntnisse denn nun äußern, damit sie anerkannt würden? Sie ist ganz einfach zu beantworten: Niemand. Es gibt keine anerkannte Instanz oder Größe, die nicht in das Lager der zum Feind Auserkorenen gestellt wird, wenn die Erkenntnisse der herrschenden Meinung widersprechen. Hier wird Wissenschaft in ihr Gegenteil verkehrt und anstatt zum Erkenntnisgewinn zur Untermauerung eines herrschenden Dogmas verwendet.
Wissenschaft ist längst zur neuen Religion geworden. Jene Wissenschaftler, die sich dennoch aus der Deckung wagen, werden mit der gleichen Küchenpsychologie behandelt wie die Querdenker und Maßnahmengegner. Sie seien profilierungssüchtig, auf ihren persönlichen Vorteil aus, ja ihre Zugehörigkeit zum Feld der Wissenschaft wird gar in Abrede gestellt, Universitätsprofessoren mit Sanktionen bis hin zur Kündigung belegt. Wo da der persönliche Vorteil, auf den diese Menschen es angeblich abgesehen hätten, liegen soll, erschließt sich wahrscheinlich nur eingefleischten Propagandaopfern.
Diskurshoheit
So erging es von Anfang an Wissenschaftlern und Ärzten wie Wolfgang Wodarg, der noch zu Zeiten der Schweinegrippe auf einen Untersuchungsausschuss auf europäischer Ebene hingewirkt hat, welcher letztlich zu dem Ergebnis kam, dass es diese Pandemie nie gegeben hat. So erging es Sucharit Bhakdi, der jahrzehntelang Medizinstudenten ausgebildet hat und daher weiß, wovon er redet. So erging und ergeht es einem Wissenschaftler nach dem anderen. Egal welche Qualifikation sie vorher besaßen, welche Berufserfahrung sie hatten, von einem Tag auf den anderen waren sie Personae non gratae, einfach weil sie sich gegen ein Narrativ gestellt haben, das zum herrschenden Konsens erhoben wurde.
Dabei bedienten sich die Medien der Küchenpsychologie, bewarfen die zu Stigmatisierenden mit allerlei Anschuldigungen, Behauptungen und Kampfbegriffen und stellten deren geistige Zurechnungsfähigkeit infrage. Das verfing bei einem großen Teil der Bevölkerung, insbesondere bei denjenigen, die sich aufgeklärt und wissenschaftsbegeistert geben, obwohl ihr Verhalten ganz und gar antiaufklärerisch und antiwissenschaftlich ist.
Die Küchenpsychologie bedient auf diese Weise ein einfaches Schwarz-Weiß-Denken, eine Schematisierung der Welt, welche die Realität vielschichtiger Interessen, Motive und Argumentationen negiert und die Komplexität der Wirklichkeit auf ein überschaubares Niveau schrumpft. Übrig bleibt ein Narrativ, das darauf abzielt, in den Menschen den Reflex des „Wir sind die Guten und alle anderen sind dumm und böse“ auszulösen, der seinen anschaulichsten Ausdruck wohl darin findet, dass der Begriff „Querdenker“ mittlerweile wohl weitestgehend synonym zu „Nazi“ ist.
Auf diese Weise wird die Diskurs- und Deutungshoheit gegen jeden Angriff immun. Nur die Interpretationen und Aussagen der Institutionen und der angeschlossenen Medien sollen noch glaubwürdig sein und werden zur allgemein anerkannten Wahrheit erklärt. So etabliert sich eine Art Wahrheitsministerium, das jede abweichende Meinung pathologisieren, jeden Gegenstandpunkt mit den Mitteln der Küchenpsychologie diffamieren kann. Denn tatsächlich ist diese Psychologisierung die Ursache dafür, dass man von einem Diskurs nicht einmal mehr sprechen kann. Stattdessen erleben wir tagtäglich in jeder Hinsicht rohe, stumpfe Propaganda. In jeder Angelegenheit von politischem oder gesellschaftlichem Belang wird eine Einheitsmeinung verordnet, die nur deswegen nicht angezweifelt wird, weil der Zweifel mit einem krankhaften Geisteszustand verknüpft wird.
Letztlich darf man keine Fragen mehr stellen, keine dem herrschenden Narrativ widersprechenden Fakten präsentieren. Jeder Zweifel hat die Stigmatisierung der Person zur Folge und, wenn dieses Modell der öffentlichen Kommunikation weiter voranschreitet, mit der Einweisung in die Psychiatrie, das Gefängnis oder das Lager.
Letztlich spricht man den Zweiflern, den Dissidenten, den Rebellen die Eigenschaft als selbstständig denkende Menschen ab, obwohl sie als Einzige tatsächlich noch in der Lage sind, sich selbstständig Gedanken zu gesellschaftlichen Themen zu machen, während alle anderen Menschen im betreuten Denken zu Hause sind.
So führt die Küchenpsychologie als Gesellschaftskonzept, die sich einfacher, aber bequemer, als Tatsache hingestellter Behauptungen bedient, letztlich in einen religiösen Totalitarismus, in dem der Wahrheitsanspruch eines einzelnen, politischen und ökonomischen Kreisen dienenden Narrativs verabsolutiert und die herrschende Propaganda von jeder Wirklichkeit entkoppelt wird. Eine komplexe Wirklichkeit wird reduziert auf eine einfache Erzählung, deren stumpfsinnige Unterkomplexität das eigenständige Denken der Menschen ausschaltet und sie dadurch steuerbar macht. Letztlich gelangen wir auf diese Weise in einen Totalitarismus, der nicht einmal mehr als solcher erkannt werden kann und daher keinerlei Kritik mehr fürchten muss.