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Die Krise des Nationalstaates

Die Krise des Nationalstaates

Eine Alternative zur multipolaren Unordnung ist möglich.

Welche Botschaft enthält diese Idee für heute, nachdem bisherige Ansätze zur Überwindung der zerstörerischen Herrschaft des Kapitals nicht die Ergebnisse gebracht haben, für die immer wieder gekämpft wurde?

Betrachten wir zunächst die Bedingungen, unter denen die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus seinerzeit entstand. Sie wurde aus der großen Unordnung geboren, die der Erste Weltkrieg hinterließ. Das osmanische Reich zerfiel, das russische Reich ging in die Revolution, das Habsburger Reich krankte an seinen nationalen Widersprüchen. Das Deutsche Reich war zerschlagen, die Kolonialherrschaft der übrigen europäischen Staaten gebrochen. Kaum ein Stein der alten Ordnung war auf dem anderen geblieben. Eine neue Ordnung musste her. Sie wurde aus den USA importiert.

Nach dem 1. Weltkrieg: Credo des Nationalstaats

Unter amerikanischer Führung traten die Siegermächte zusammen, um die alte koloniale Ordnung in eine neue nationalstaatliche Ordnung zu überführen. Die Propagierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker war das Resultat dieser Verhandlungen. Die ehemaligen Kolonien wurden in Nationalstaaten überführt. Sie wurden deswegen nicht freier als sie vorher waren, sie bekamen nur eine neue Form, die Form des Nationalstaats. In diesem waren sämtliche Lebensbereiche von der Wirtschaft über die Wissenschaft, die geistige Arbeit bis hin in die Politik unter einem Pol, nämlich dem staatlichen Machtmonopol zusammengefasst.

Vom Anspruch her hieß das: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Impulse der französischen Revolution, als nationale Einheit verwirklichen zu wollen. Tatsächlich wurde der daraus hervorgehende Einheitsstaat Sachverwalter der Ökonomie, die er gegen die abhängige Bevölkerung durchzusetzen hatte. Der einheitliche Nationalstaat wurde das Credo, die Grundorganisation der neuen Völkerordnung, wie sie bis heute besteht. Erster Ausdruck dieser neuen Ordnung war die Gründung des Völkerbundes 1920.

Das war die Situation, aus der die Idee der Dreigliederung heranwuchs, die bei Rudolf Steiner Gestalt annahm. Er versuchte die Idee schon zu Kriegszeiten an die führenden Kräfte Deutschlands heranzubringen. Da gab es offene Ohren, aber kein wirkliches Verständnis. Auch nach dem Krieg nicht. Warum? Weil die von Steiner vorgebrachten Anregungen nicht bei der Neuordnung der äußeren Machtverhältnisse, auch nicht bei Versuchen nach revolutionärer Abschaffung des Eigentums durch die Eroberung der Staatsmacht stehen blieben, sondern tiefer in die geistigen Widersprüche und in die Krankheit des sozialen Körpers vordrangen.

Entflechtung gegen „Einheitsfanatismus“

Unter dem Titel „Die Kernpunkte der sozialen Frage“, von Rudolf Steiner verfasst, erreichte die Idee der Dreigliederung im April 1919 die Öffentlichkeit (1).

Steiner erklärte, dass dem „Einheitsfanatismus“ des Staatsmonopols, salopp formuliert, das Monopol der Person entgegengesetzt werden müsse: die Selbstbestimmung des einzelnen Menschen, seine Würde als Mensch, die allseitige Entwicklung seiner persönlichen Fähigkeiten als soziales Wesen.

Im einheitlichen Nationalstaat werde das soziale Leben dagegen auf vollkommen falsche Bahnen gebracht, auf denen die Menschen zu bloßen Objekten einer vom Staat dominierten, nur am Profit orientierten Wirtschaft erniedrigt würden.

In seiner Vorrede zu den „Kernpunkten“ erklärte Steiner:

Diese Schrift muss heute (also im April 1918, ke) die wenig beliebte Aufgabe übernehmen, zu zeigen, dass die Verworrenheit unseres öffentlichen Lebens von der Abhängigkeit des Geisteslebens vom Staate und der Wirtschaft herrührt. Und sie muss zeigen, dass die Befreiung des Geisteslebens den einen Teil der so brennenden sozialen Frage bildet“ (2).

Was Steiner dann skizzierte, kann man zunächst schlicht ein Programm zur Entflechtung des Monopolstaates nennen. Er beschrieb die drei grundlegenden Lebensbereiche, das wirtschaftliche Leben, das Geistesleben und das rechtlich-politische Leben, die sich nach ihren jeweils eigenen Notwendigkeiten selbstverwaltet bestimmen und auf dieser Grundlage miteinander in Austausch treten müssten.

In Steiners eigenen Worten klang das so: „Wie sich für das Geistesleben aus den Erfahrungen der Gegenwart die freie Selbstverwaltung als soziale Forderung ergibt, so für das Wirtschaftsleben die assoziative Arbeit.“ Unter ‚assoziativer Arbeit‘ verstand er das eigenständige Zusammenwirken der Bereiche der Produktion, der Verteilung und der Konsumption, die in diesem Zusammenwirken ein am Bedarf orientiertes Wirtschaften garantieren würden. Zwischen beiden aber müsse sich „ein Drittes ausleben. Es ist das eigentliche staatliche Glied des sozialen Organismus.

Im politisch-rechtlichen Staatsleben kommt der Einzelne zu seiner rein menschlichen Geltung, insofern diese unabhängig ist von den Fähigkeiten, durch die er im freien Geistesleben wirken kann, und unabhängig davon, welchen Wert die von ihm erzeugten Güter durch das assoziative Wirtschaftsleben erhalten.“ Im Staatsleben schließlich stehe „jeder dem andern als ein Gleicher gegenüber, weil in ihm nur verhandelt und verwaltet wird auf den Gebieten, auf denen jeder Mensch gleich urteilsfähig ist … Die Einheit des Ganzen sozialen Organismus wird entstehen aus der selbstständigen Entfaltung seiner drei Glieder“ (3).

Drei selbstständige Sphären also, die ineinander greifen und sich gegenseitig fördern, statt von einem Einheitsstaat, der wirtschaftliche Interessen durchsetzt, dominiert zu werden. Das war der Ansatz.

Vom Totalstaat zum Multinationalismus

Leider hat diese Idee die Wirklichkeit nicht überstanden. Genauer, die Ansätze zur Umsetzung der Idee, die nach ihrem Erscheinen entstanden, wurden durch die Steigerung des Nationalstaats zum Totalstaat zerstört, dem faschistischen wie auch dem stalinistischen, die Idee wurde in den Untergrund gedrückt. Es entwickelte sich das genaue Gegenteil zu dem, was die Botschaft der Dreigliederung gewesen wäre:

Statt selbstbestimmter werden zu können, wurde der Mensch noch mehr als schon zu Zeiten des ersten Weltkriegs auf ein Schräubchen in der nationalen Konkurrenzmaschine reduziert.

Das gilt für die Situation unter der Diktatur des Proletariats, das gilt für den Faschismus, das gilt auch für die autoritären Strukturen der demokratischen Staaten im Kriegsgeschehen. Die repressive Dominanz des einheitlichen Nationalstaats in allen seinen Formen war eine Zeiterscheinung.

Nach 1945 gab es eine gewisse Einsicht. Eine Neuordnung Europas entstand, die über die nationalen Grenzen hinausging, beinahe so, als ob die Ideen der Dreigliederung unbewusste Wirkung entfaltet hätten: Wirtschaftsbeziehungen entwickelten sich über ganz Europa. Beachtenswert ist auch die Abfassung des Grundgesetzes für das damalige westliche Deutschland. Die ersten 20 Artikel dieses Gesetzes lesen sich wie von der Idee der Dreigliederung inspiriert.

Es beginnt mit der Erklärung: Die Aufgabe des deutschen Staates ist, Frieden zu schaffen. Der erste Satz des ersten Artikels lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Es folgen Sätze wie: Das Eigentum ist sozialverpflichtet. Forschung und Lehre sind frei. Sogar die Schule sollte frei sein, Privatschulen dürften gegründet werden, wenn auch der Staat sich die Schulhoheit vorbehielt. Im Artikel 20 wird dem Volk gar ein Widerstandsrecht gegen Kräfte zugesichert, welche die grundgesetzliche Ordnung beseitigen wollen.

Diese Verfassung war klar gegen einen Missbrauch des Staatsmonopols gerichtet, wie Deutschland ihn soeben im Faschismus erlebt hatte. Bedauerlicherweise führte die Einsicht, die sich im Grundgesetz und in der europäischen Grundordnung damals äußerte, nur zu einem halben Schritt, denn zugleich wurde das Credo des einheitlichen Nationalstaats erneuert.

Und nicht nur das, der Nationalstaat BRD wurde zudem Bestandteil des West-Blockes, der östliche Teil Deutschlands wurde als DDR Bestandteil des Ostblockes. Der einheitliche Nationalstaat wurde auf diese Weise erneut zementiert: Konfrontation von BRD und DDR, West- und Ostzone, Gleichgewicht des Schreckens, Kalter Krieg.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991, danach im Übergang über die vorübergehende Allmachtposition der „einzigen Weltmacht“ USA, hat sich jetzt etwas herausgebildet, bildet sich noch immer heraus, was wir heute die multipolare Welt nennen, also eine neue Pluralität von einheitlichen Nationalstaaten. Als die Vereinten Nationen 1949 gegründet wurden, gab es 51 Gründungsmitglieder; heute sind es 193.

Um die vierzig von ihnen sind nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion den Vereinten Nationen beigetreten. Sie müssen sich die Reichtümer dieser Welt teilen, weil jeder einzelne Nationalstaat das gesamte Programm der staatsmonopolistischen Versorgung für sich und ‚seine‘ Bevölkerung in Konkurrenz zu allen anderen abfahren muss.

Das ist die Situation, in der die Welt sich heute befindet, ganz generell gesprochen, wie sie sich in den Vereinten Nationen darstellt, die sich auf nichts wirklich dauerhaft einigen können. Das ist als Grundkonflikt angelegt.

Prekäres globales Patt

Aber nicht nur das – komplizierter und gefährlicher ist, was sich in letzter Zeit unter Barack Obama, dem vorigen US-Präsidenten, entwickelt hat, und was unter Donald Trump heute eskaliert: die paradoxe Situation, dass ausgerechnet die USA als dem Anspruch nach demokratischer, als vielfältig organisierter Staatenverbund, eben als ‚United States of America‘, sich heute als einheitliche Supernation darstellen. Als niedergehende Weltmacht betreibt dieser Staat eine Politik der Destabilisierung der Völkerordnung, die andere Nationen bedrängt, unterdrückt oder vernichtet.

Auf der anderen Seite haben wir seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein Vielvölker-Russland, das von den Knien wieder auf die Beine kommen muss, und das daher im Interesse seines eigenen Schutzes, seiner eigenen Restauration – speziell seit Antritt Wladimir Putins – eine Politik der nationalen Stabilisierung entwickelt, die er als Krisenmanagement gegen die Destabilisierungspolitik der USA auch in die Welt hineinträgt.

Hinter Russland sammeln sich diejenigen kleineren und größeren Nationen, die ebenfalls dieses Schutzes bedürftig sind. So ist eine Konfrontation zwischen dem schwächelnden und umso aggressiveren USA-Monster und diesem konservativen Krisenmanager Russland entstanden, die die Welt in Dauerspannung und Unruhe hält. Im Hintergrund China.

Das alles geschieht aber auf der Basis des nach wie vor gültigen nationalstaatlichen Credos bei gleichzeitiger globalisierter Entwicklung, bei gleichzeitiger globalisierter Ökonomie, die im Sturmschritt über die Nationen hinwegschreitet, und sie einfach wegschiebt, sie entweder übergeht oder sie zum Diener des internationalen Kapitals macht.

Kommt hinzu, dass die Nationalstaaten, die sich auf den Randzonen der ehemaligen Kolonien befinden, von den ehemaligen imperialistischen Staaten noch heute ökonomisch unter dem Daumen gehalten werden, so dass sie keine gesunde Wirtschaft entwickeln können. Zusammen mit den nicht Beschäftigten in den ‚entwickelten Ländern‘ werden so Millionen Menschen als „Überflüssige“ in wachsendem Maße an den Rand der globalen Gesellschaft gedrückt (4).

Das Ganze ist eine paradoxe, eine perverse, eine kaum in irgendwelche Begriffe zu fassende Situation. Man kann das, was da entstanden ist, ein prekäres Patt nennen, eine prekäre globale Stagnation. Da geht nichts vor und nichts zurück. Sie ist ohne jede Idee, ohne Geist, der in die Zukunft einer förderlichen sozialen Entwicklung weisen könnte. Nichts dergleichen. Vor der letzten Konfrontation wird die Welt nur bewahrt durch das immer noch bestehende atomare Patt.

Staat neu denken

Unter diesen Bedingungen ist die Entflechtung des einheitlichen Nationalstaats im Sinne der Idee der Dreigliederung mehr als aktuell. Aber wie? Eine einfache Kopie verbietet sich. Ein nochmaliger genauerer Blick zurück mag bei der Übersetzung auf heute helfen:

„Die Aufgaben, welche das soziale Leben der Gegenwart stellt“, erklärte Steiner seinerzeit im ersten Satz seiner Vorrede zu den "Kernpunkten“, „muss derjenige verkennen, der an sie mit dem Gedanken an irgendeine Utopie herantritt“ (5).

Statt ein Programm oder Schema hinzustellen, entwickelt Steiner eine Analyse der damals drängenden „Lebensnotwendigkeiten“. Das kann und soll hier nicht in aller Breite ausgeführt werden. Wer tiefer einsteigen will, dem sei die Lektüre der „Kernpunkte“ empfohlen. Hier soll jetzt nur ein Überblick gegeben werden, der unerlässlich ist, um Anknüpfungspunkte zu finden, die von damals zu heute führen.

Thema des ersten Kapitels ist – das mag kaum glauben, wer Steiner als Esoteriker eingeordnet hat – das Proletariat. Er beschreibt das Proletariat als Erneuerungsbewegung der Menschheit. An anderer Stelle erklärt er, mit nahezu gleichlautenden Formulierungen wie Karl Marx, die Menschheit werde durch das Proletariat gerettet (6).

Es gibt jedoch ein Aber in seiner Sicht: Die Entwicklung des Proletariats könne nicht geschehen unter der Herrschaft einer Wissenschaft, die diesem Proletariat nur eine Identität als Klasse gebe. Das laufe auf eine historische Irreführung hinaus, weil gerade der Proletarier – durch seine Unterordnung unter das Kapital und die Maschine seiner Menschenwürde beraubt – eine geistige Orientierung brauche, durch die er sich nicht nur als Mitglied einer ökonomisch definierten Klasse, sondern als Mensch erkennen könne.

Durch diese Orientierung sei er fähig zu erkennen, dass er Freiheit nicht erringen könne, indem er um die Eroberung des Staatsapparates kämpfe, sondern um dessen grundlegende Transformation im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organismus.

Der Proletarier müsse zu dem Verständnis kommen, dass die Eroberung des Staatsapparates ohne dessen Transformation das Elend des Proletariats nur verlängern werde. Die Geschichte hat gezeigt, dass Steiner mit dieser Sicht bedauerlicherweise Recht behalten sollte.

Was sagt uns das heute? Es sagt uns – wenn wir bereit sind zu hören –, dass die Menschheit mit dem Scheitern der sozialistischen Revolution eine gewaltige historische Enttäuschung erlebt hat, die verarbeitet werden muss. Der erste wichtige Punkt, über den gesprochen werden muss, wenn die soziale Dreigliederung ins Leben kommen soll, ist dieser: Die Rolle des Staates bei der Vernichtung der Hoffnung auf eine Verwirklichung der Menschenwürde.

Teilen, nicht herrschen

Ein weiteres Kapitel der „Kernpunkte“ befasst sich mit dem Kapital. Dort beschreibt Steiner, wie die Befreiung des Kapitals von staatlichen Eingriffen bei gleichzeitiger Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft aussehen könnte:

„Nicht die ursprüngliche freie Verfügung (über Kapital, ke) führt zu sozialen Schäden, sondern lediglich das Fortbestehen des Rechtes auf diese Verfügung, wenn die Bedingungen aufgehört haben, welche in zweckmäßiger Art individuelle menschliche Fähigkeiten mit dieser Verfügung zusammenbinden“.

Und weiter:

„Die Möglichkeit, frei über die Kapitalgrundlage aus den individuellen Fähigkeiten heraus zu verfügen, muss bestehen, das damit verbundene Eigentumsrecht muss in dem Augenblicke verändert werden können, in dem es umschlägt in ein Mittel zur ungerechtfertigten Machtentfaltung….Nicht ein Mittel ist zu finden, wie das Eigentum an der Kapitalgrundlage ausgetilgt werden kann, sondern ein solches, wie dieses Eigentum so verwaltet werden kann, dass es in der besten Weise der Gesamtheit diene“ (7).

Jeder Mensch müsse die Freiheit haben etwas zu unternehmen, heißt das, aber er dürfe dadurch nicht zum Herrscher über andere werden. Da sei ein Schnitt anzusetzen. Noch deutlicher wird dieser Lösungsansatz in Steiners Haltung zur Lohnarbeit. Es sei, schreibt er, „die Ablösung des Entlohnungsverhältnisses durch das vertragsgemäße Teilungsverhältnis in Bezug auf das von Arbeitsleiter und Arbeiter gemeinsam Geleistete in Verbindung mit der gesamten Einrichtung des sozialen Organismus ins Auge zu nehmen“ (8).

Viel Konkretes wäre hier zu beschreiben, wie der Teilungsvertrag innerhalb des Betriebs, wie die „Verbindung zur gesamten Einrichtung des sozialen Organismus“ realisiert werden kann. Das muss hier unterbleiben, weil es noch einen dritten Aspekt vorzustellen gilt, den Steiner ein Jahr später, zum Jahreswechsel 1919 auf 1920 vortrug, um der Dreigliederung noch eine tiefere Begründung zuzuführen (9).

Zivilisationsknäuel entwirren

In dem Vortrag erklärte er:

„Will man irgendeinen fruchtbringenden Impuls hineinbringen in das Leben, das uns die heutigen zerstörenden Erscheinungen zeigt, so ist der kein anderer als der von der Dreigliederung des sozialen Organismus. Damit musste der Seelenblick der Menschen hingewiesen werden auf die drei Grundströmungen unseres gegenwärtigen Kulturlebens. Diese Grundströmungen, sie sind ja, wie sie heute schon genügend alle wissen, die des eigentlichen geistigen Lebens, die des rechtlichen Lebens, die des wirtschaftlichen Lebens.“

Als die drei Strömungen benannte er:

Den aus dem Orient über Mesopotamien kommenden griechischen, christlichen Strom, der sich am Ende im russisch-slawischen Raum in besonderer Weise entwickelt und bewahrt habe.

Den aus Ägypten über Rom kommenden rechtlichen, politischen Strom, der sich über den ursprünglichen orientalischen gelegt und sich wesentlich in Mitteleuropa in der Herausbildung der Emanzipation des Einzelnen und rechtsstaatlicher Vorstellungen ausgeprägt habe.

Den später aus dem Norden kommenden pragmatisch-wirtschaftlichen Strom, der sich in der englisch-amerikanischen Welt entwickelt habe, der aber als jüngster Strom noch nicht voll ausgebildet sei.

Diese Grundströmungen, seien heute nicht mehr in Klarheit erkennbar, so Steiner weiter, sie hätten sich auf dem Weg durch die Geschichte zu einem „chaotischen Knäuel einer geistlosen Zivilisation“ verwickelt, verfälscht und zum Teil pervertiert. Sie unter ihren Verformungen in ihrer jeweiligen Wertigkeit zu erkennen und im Zuge einer Entzerrung des heutigen sozialen Lebens nach geistigen, politisch-rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekten so miteinander in Beziehungen zu bringen, dass die konfliktstiftende Dominanz des Ökonomischen überwunden werden könne, sei das Gebot der Zeit.

Das habe der Krieg, der aus eben dieser Dominanz des Ökonomischen entstanden sei – um es mit Worten von heute zu sagen – der Menschheit nachhaltig vor Augen geführt.

Man muss kein Anhänger Steiners sein, um die Wahrheit dieser Aussagen zu erkennen und um weiter zu erkennen, dass wir seit dem ersten Weltkrieg ein weiteres Jahrhundert der „Verknäuelung“ und Nivellierung erlebt haben und im Zuge der Globalisierungskrise heute weiter erleben. Hier öffnet sich das größte Feld, auf dem die Dreigliederung sich heute als aktuell präsentiert.

Was haben wir denn heute für eine Situation? Da ist der aus dem Westen herandrängende ökonomische Druck, da ist Russland, hinter ihm der asiatische Raum, mit den noch wirksamen stärkeren Gemeinschaftstraditionen. Ein nach beiden Seiten schwankendes Europa dazwischen, das sich nicht entscheiden kann, ob es sich als europäischer Nationalstaat nach denselben Kriterien wie eh und je zu einem neuen Machtzentrum – hochgerüstet als dritte, vierte, fünfte Macht neben den USA, Russland und China – entwickeln möchte oder ob es auf einen Weg der Vermittlung gehen will.

Vermitteln hieße nicht etwa neutral sein im Sinne von nichts tun; vermitteln hieße, westliche und östliche Qualitäten und Mentalitäten in einen Austausch zu bringen. Es ginge darum, die Werte der jeweils anderen zu erkennen und miteinander füreinander fruchtbar zu machen.

Da hätten die Europäer, zumal die Deutschen, in Europa eine klare Chance, wenn sie ergriffen würde.

Wenn, dann…

Ja, wenn! Das ist natürlich der Punkt, der die meisten Fragen zu Steiners „Kernpunkten“ wie überhaupt bei der ganzen Diskussion um mögliche Alternativen heute aufwirft. Dazu noch einmal Steiner selbst:

„Auch der ganz radikal Denkende kann Vertrauen zu einer sozialen Neugestaltung unter Wahrung der überkommenden Werte gewinnen, wenn er vor Ideen sich gestellt sieht, die eine wirklich gesunde Entwickelung einleiten können. Auch wird er einsehen müssen, dass, welche Menschenklasse auch immer zur Herrschaft gelangt, sie die bestehenden Übel nicht beseitigen wird, wenn ihre Impulse nicht von Ideen getragen sind, die den sozialen Organismus gesund und lebensfähig machen. Verzweifeln, weil man nicht glauben kann, dass bei einer genügend großen Anzahl von Menschen auch in den Wirren der Gegenwart Verständnis sich findet für solche Idee, wenn auf ihre Verbreitung die notwendige Energie gewandt werden kann, hieße an der Empfänglichkeit der Menschennatur für das Gesunde und Zweckentsprechende zu verzweifeln. Es sollte diese Frage, ob man daran verzweifeln müsse, gar nicht gestellt werden, sondern nur die andere: was man tun soll, um die Aufklärung über vertrauenerweckende Ideen so kraftvoll als möglich zu machen“ (10).

Haben wir heute die Möglichkeit, Energie in dieser Weise aufzubringen? Und worin müsste diese Energie bestehen? Das ist eine Frage, die vermutlich jede/r zuerst mit sich selber klären muss.

Darüber hinaus ist klar, dass die Idee der Dreigliederung natürlich durchzogen ist von der Vorstellung, dass der Mensch nicht nur auf der Erde lebt, sondern kosmisch eingebunden ist. Es ist heute nicht üblich davon zu sprechen, dass der Mensch nicht nur da sitzt, wo er gerade sitzt, isst und konsumiert, sondern dass der Mensch auch noch in einem größeren Zusammenhang steht. Aber ohne sich bewusst in diesen Zusammenhang zu stellen, wird es wohl nicht in eine lebendige Zukunft gehen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Dieses und alle folgenden Textstellen aus der Ausgabe der „Kernpunkte…“ aus der Ausgabe der „Rudolf Steiner Taschenbücher aus dem Gesamtwerk“, 20. – 30. Tausend 1981
(2) Kernpunkte, S. 9
(3) Kernpunkte, S. 13 und 17
(4) Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Überflüssigen, Bod 2017, über www.kai-ehlers.de
(5) Kernpunkte, S. 7
(6) Kernpunkte, S. 49 ff
(7) Kernpunkte, S. 87 ff
(8) Kernpunkte, S. 108
(9) Rudolf Steiner, Weltsilvester und Neujahrsgedanken, Verlag freies Geistesleben 1962, S. 9 ff
(10) Kernpunkte, S. 96

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