Ersatzfreiheitsstrafe
Als Anfang dieses Jahres neun Gefangenen die Flucht aus der Berliner Justizvollzugsanstalt Plötzensee gelang, kam auch das Thema der Ersatzfreiheitsstrafe wieder einmal in die Öffentlichkeit. In der Anstalt verbüßten damals 102 Männer eine Ersatzfreiheitsstrafe, davon 69 wegen Erschleichens von Leistungen, sie fuhren wiederholt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Ticket. Sie wurden dann zu einer Geldstrafe verurteilt, konnten oder wollten diese aber nicht zahlen und mussten daher die Freiheitsstrafe antreten. In Berliner Gefängnissen sitzen derzeit mehr als 900 Menschen wegen nicht bezahlter Strafen ein.
Ende Oktober 2018 war ein 59-jähriger Gefangener in der Justizvollzugsanstalt Werl gestorben. Er hatte sich zuvor eine Auseinandersetzung mit Justizbeamten geliefert. In diesem Zusammenhang wurde bekannt, dass der Mann in Werl eine Ersatzfreiheitsstrafe von 100 Tagen absitzen musste und nach der körperlichen Auseinandersetzung mit Gefängnis-Bediensteten einem plötzlichen Herztod erlag.
Beide Fälle zeigen die Unangemessenheit dieser Bestrafung auf, bei der die Menschen in unglaubliche Stresssituationen versetzt werden, auch deshalb, weil bei den Bagatelldelikten wie das Schwarzfahren für gewöhnlich keine Pflichtverteidigung bestellt wird, sodass die angeklagten Personen auf sich allein gestellt sind.
Rechtlich fraglich
Die Ersatzfreiheitsstrafe wird in der Regel nach typischen Armutsdelikten verhängt, sie ist im deutschen Strafrecht nach § 43 des Strafgesetzbuchs in ihrer aktuellen Konzeption und ihrer praktischen Anwendung ein Instrument der Diskriminierung von einkommens- und vermögenschwachen Menschen.
An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt dann in der Regel die Freiheitsstrafe. Einem Tagessatz entspricht ein Tag Freiheitsstrafe. Das Mindestmaß der Ersatzfreiheitsstrafe ist ein Tag. Konkret heißt das, wenn jemand zu 30 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt wurde und diese nicht begleichen kann, muss er für 30 Tage ins Gefängnis.
Das Ganze ist aus verfassungsrechtlicher Sicht aber höchst problematisch, denn die ursprünglich durch das Gericht (Judikative) verhängte Geldstrafe wird ohne richterliche Mitwirkung durch die Staatsanwaltschaft (Exekutive) in eine Freiheitsstrafe umgewandelt. Es wird hierbei keine Prüfung vorgenommen, ob die Person zahlungsunfähig oder zahlungsunwillig ist.
So eine Praxis steht in Konflikt mit der Gewaltenteilung nach Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes. Die in der Regel nicht juristisch vorgebildeten betroffenen Menschen, die vom Gericht zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt werden und unter Umständen in der mündlichen Eröffnung der Urteilsgründe erfahren haben, weshalb das Gericht von einer Freiheitsstrafe absieht, können nicht verstehen, dass die Staatsanwaltschaft wegen der Nichtbezahlung dieser Geldstrafe trotzdem die Freiheitsentziehung anordnen kann. Denn die Ersatzfreiheitsstrafe wird in der Urteilsformel und den Urteilsgründen nicht erwähnt.
Diese Vorgehensweise trifft die Menschen, die sich keinen Anwalt leisten können und bei denen keine Pflichtverteidigung bestellt ist, besonders hart und das Rechtsschutzbedürfnis der natürlichen Person gilt hier nicht mehr.
2020 wurde der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafen wegen der Corona-Infektionswelle in einigen Bundesländern ausgesetzt und brachte ein wenig Entspannung. Doch nach und nach läuft diese Schonzeit für mittellos zu Geldstrafen Verurteilte aus. So werden seit Mai 2022 in Berlin wieder Ersatzfreiheitsstrafen verhängt und bei der aktuellen Inflationsrate entflammt sofort die Diskussion, wie in Zukunft Inhaftierungen vermieden werden könnten.
Ersatzfreiheitsstrafen für arme Menschen
Ersatzfreiheitsstrafen werden in der Praxis überwiegend gegen mittellose, erwerbslose bzw. mehrfach (durch Abhängigkeit, psychische Probleme, Wohnungslosigkeit etc.) belastete Menschen verhängt.
Der Fall der Frau M.
Als die alte Frau in einem Rollstuhl zur Anklagebank geschoben wurde, sollte ihr sechstes Delikt verhandelt werden. Sie sollte Puder, Wimperntusche, Haarklammern, Reinigungscreme und Sahnesteif im Gesamtwert von unter 20 Euro gestohlen haben.
Sie habe nicht gestohlen, versicherte die 85-jährige Frau, wie schon in den vergangenen Prozessen auch, sie sagte: „Das habe ich getan, weil ich sonst verhungert wäre“.
Ihr Einkommen betrug damals inklusive Witwenrente 725 Euro monatlich, die Grundsicherung hatte sie nicht beantragt.
Beim ersten Diebstahl wurde sie erwischt, als sie Gulasch aus der Fleischtheke in einen Gefrierbeutel füllte. Nach dem fünften Delikt musste sie im Oktober 2017 erstmals ins Gefängnis. Das zuständige Amtsgericht hatte Frau M. im August 2018 zu einer Gefängnisstrafe von vier Monaten verurteilt — ohne Bewährung. Die Verteidigung meinte, das Urteil sei zu hart für eine Frau in ihrem Alter, zu milde für eine Wiederholungstäterin, befand die Staatsanwaltschaft und beide Seiten legten Berufung ein.
Das Landgericht Memmingen wies letztendlich beide Sichtweisen als unbegründet ab und die Frau musste wieder in Haft.
Neue Entwicklungen in Dortmund
Die Stadtverwaltung in Dortmund ist sehr daran interessiert, dass innerhalb des Walls bzw. rund um die Konsummeile Hellweg Armut nicht sichtbar wird. Hier geht es um Vertreibung, damit die Konsumenten ohne schlechtes Gewissen die Kassen der Geschäftsleute klingeln lassen.
Damit dies ungestört gewährleistet ist, kommt es immer wieder vor, dass obdachlose Menschen mit einem Bußgeld überzogen werden. So geschehen, als ein Mann an einem Kiosk am Wall übernachtete und von Mitarbeitern des Ordnungsamts aufgeweckt wurde. Man verpasste ihm ein Knöllchen wegen „Lagern und Campieren“ in Höhe von 20 Euro, zu überweisen innerhalb von 7 Werktagen. Geht das Geld bei der Stadt nicht ein, droht dem Mann eine Ersatzfreiheitsstrafe. Erst nach massivem öffentlichem Druck wurde diese Praxis eingestellt.
Das Vorgehen der Polizei, Ordnungskräfte und Behörden im Rahmen der Kontrollen der „Corona- Maßnahmen“ gegen einen obdachlosen Mann, der auf den Rollstuhl angewiesen ist und für das Treffen draußen mit Bekannten in die Mühlen der Ordnungsbehörden geriet, wurde kürzlich endlich einmal in größerer Öffentlichkeit diskutiert. Dies wurde allerdings erst dadurch möglich, dass das Amtsgericht Dortmund ein sensationelles Urteil fällte und die Erzwingungshaft gegen den Mann abgelehnt hatte.
Der Mann hatte im vergangenen Jahr vom Ordnungsamt mehrere Ordnungsgelder wegen Verstöße gegen die Coronaschutzverordnung und wegen Bettelns erhalten. In relativ kurzer Zeit kamen insgesamt 7.325 Euro plus Verfahrenskosten zusammen, aus insgesamt 17 Delikten, von jeweils 25 Euro bis zu 2.200 Euro Bußgeld. Als der Mann nicht zahlte, wollte die Stadt Dortmund ihn ins Gefängnis schicken, um ihn zur Zahlung zu zwingen. Die Behörde stellte Anträge auf Erzwingungshaft.
Die Anträge auf Erzwingungshaft hat das Amtsgericht Dortmund im Dezember 2021 abgelehnt und war in seiner Begründung klar und deutlich: „Sinn und Zweck der Erzwingungshaft ist es, einen Zahlungsunwilligen — nicht Unfähigen — zur Zahlung einer Geldbuße zu zwingen.“ Der Betroffene verfüge „über keinerlei Einkommen“ und „lebt ‚von der Hand in den Mund‘“. Es sei „nicht ersichtlich, inwieweit der Betroffene denn seine Lebensführung bei derart hohen Geldbußen und derart bescheidenen Lebensverhältnissen noch einschränken können soll.“
Das Gericht kritisierte auch die konkrete Vorgehensweise des Ordnungsamtes. Bei der Ahndung der Verstöße „ist das Bußgeld in schematischer Anwendung teilweise enorm erhöht worden, was sogar zur Festsetzung eines einzelnen Bußgeldes in Höhe von 2.200 Euro geführt hat. Die offensichtlichen wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen sind dabei nicht berücksichtigt worden.“ Es sei aber „Sache der Bußgeldbehörde schon bei der Ahndung der Ordnungswidrigkeit nur solche Geldbußen festzusetzen, die unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse noch einen angemessenen Sanktionscharakter haben.“ Die Erzwingungshaft soll „ausdrücklich gerade nicht den Zahlungsunfähigen treffen“.
Das Gericht stellte explizit fest, dass eine Erzwingungshaft nicht als Ersatzfreiheitsstrafe missbraucht werden dürfe oder Gerichte das tun dürfen. Deshalb würden sich Rechtsdezernent und Rechtsamt gegenüber Obdachlosen rechtswidrig verhalten.
Initiative geht neue Wege
Es ist notwendig, Armutsdelikten zukünftig verstärkt mit sozialstaatlichen Maßnahmen zu begegnen statt mit Freiheitsentzug. Für die Betroffenen ist auf jeden Fall aus Resozialisierungsgesichtspunkten zudem eine kontinuierliche, professionelle soziale Begleitung sinnvoller als eine freiheitsentziehende Maßnahme.
Seit der Bundesgerichtshof 1990 eine Übernahme der Tagessätze bzw. die Auflösung der Hafttage akzeptiert hat, kauft die Initiative Freiheitsfonds Menschen frei, die eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen Fahrens ohne Fahrschein verbüßen. Wenn sie eingesperrt wurden, weil sie eine Geldstrafe nicht gezahlt haben, nicht zahlen konnten und auch nicht „abarbeiten“ konnten. Hauptsächlich, weil sie arm sind, in prekären Verhältnissen leben, oft wohnungslos und/oder suchtkrank sind. Mit Spenden hat die Initiative bisher für 28.420 Euro insgesamt 2.130 Hafttage ausgelöst, was laut Rechnung der Aktivisten dem Staat zugleich fast 320.000 Euro Haftkosten erspart hat.
Profiteure waren dabei vornehmlich jene, die ohnehin viel mehr Möglichkeiten haben, in unserem Rechtssystem glimpflich davonzukommen: Reiche und Wohlhabende. Der Freiheitsfonds macht sich die Praxis zu eigen, aber im Dienst derer, die am anderen Ende der sozialen Leiter stehen.
Belastung der Justizhaushalte als Argument der Politik
Jeder zehnte Häftling ist in Deutschland wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe im Gefängnis. Im Durchschnitt sitzen die Betroffenen laut Justizverwaltung 30 Tage in Haft und kosten das Land damit Millionen: Ein Hafttag kostet den Staat rund 160 Euro.
Durchschnittlich sitzen rund 1.120 Menschen in NRW mit einer Ersatzfreiheitsstrafe ein, ein Großteil davon wegen Schwarzfahrens. Dabei entstehen für die Landeskasse rund 56 Millionen Euro im Jahr. Diese Kosten führen dazu, dass etwas Bewegung in die Diskussion um die Ersatzfreiheitsstrafen kommt. Aber auch die Blockade der Justiz durch die Bagatelldelikte ist ein Grund, denn mehr als jedes zehnte Strafurteil in Nordrhein-Westfalen betrifft derzeit diese Delikte.
Während die Opposition in der letzten Legislaturperiode im Landtag die Form des Erschleichens einer Dienstleistung künftig nicht mehr als Straftat, sondern als Ordnungswidrigkeit gewertet haben will, setzt der Justizminister darauf, dass Betroffene die Möglichkeiten bekommen sollen, ihre Strafe in kleinen Beträgen oder zeitverzögert abzuzahlen. Damit will er auch verhindern, dass es zu keinen weiteren Ersatzfreiheitsstrafen mehr kommt und die Justiz entlastet wird.
Dokumente, darunter der 275-seitige Abschlussbericht des Bundesjustizministeriums über eine 2016 eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur „Prüfung alternativer Sanktionsmöglichkeiten und Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen“, der 2019 fertig gestellt wurde, werden unter Verschluss gehalten. Aus dem Bericht geht hervor, dass vor allem arme Menschen wegen Fahrens ohne Fahrschein hinter Gitter landen — vor einer Entkriminalisierung warnt er dennoch ausdrücklich: Es sei „in hohem Maße sozialschädlich“, treffe nicht nur „die Vermögensinteressen der Verkehrsbetriebe, sondern mittelbar auch die Allgemeinheit“.
Auch der neue Bundesjustizminister Marco Buschmann will prüfen, ob der Bund helfen kann, die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen zu verringern. Er verweist aber auf die Aktivitäten der Länder und möchte gemäß dem Koalitionsvertrag prüfen, ob bundesrechtlich etwas beigesteuert werden kann, um zu weniger Vollstreckungen zu kommen. Buschmann kündigt an, auch die Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein anzugehen.
Wir brauchen kein besseres Strafrecht, sondern etwas Besseres als das Strafrecht
Wenn man staatliches Strafen in Zusammenhang mit sozialen Ungleichheiten setzt, wird schnell deutlich, dass die Gefangenenraten eines Staates umso höher liegen, je größer die Einkommensunterschiede in der Gesellschaft sind, Arme härter bestraft werden als Reiche und schon für Bagatelldelikte drakonische Bestrafungen erfahren.
Die Versuche des zunehmend autoritär auftretenden Staates, die entstandenen Kontrollverluste mittels verschärften Strafrechts wieder herzustellen, führen in die Sackgasse. Um die Ruhe im Land zu wahren, muss die Dosis immer wieder erhöht, die Überwachung noch umfassender, die Polizeigesetze verschärft und zur Durchsetzung des Gewaltmonopols wie jetzt geschehen, die Sicherheitskräfte militärisch aufgerüstet werden.
Überlegt werden sollte, ob eine Lösung nicht in einem besseren Strafrecht, sondern in etwas Besserem als dem Strafrecht bestehen könnte. Beispielsweise ist es möglich, eine frühe Konfliktlösung im und durch das soziale Umfeld von Schädigern und Geschädigten zu suchen, die sich an Wiedergutmachung und Entschuldigung orientiert.
Bekannt geworden ist das Konzept der „Restorativen Justice“ nach dem insbesondere das Opfer an der Suche nach alternativen Formen der Konfliktlösung beteiligt wird. Das Konzept könnte eine Alternative zu gängigen gerichtlichen Strafverfahren darstellen oder auch gesellschaftliche Initiativen außerhalb des Staatssystems entwickeln. Untersuchungen ergaben, dass dadurch der Rückfall reduziert und die Zufriedenheit der am Konflikt Beteiligten erhöht werden kann.
Ähnlich ausgerichtet waren die Gesellschaftlichen Gerichte in der DDR, die im Kern für eine Rückverlagerung der Konfliktregulierung auf vorjustizelle Institutionen bei Beibehaltung strafprozessualer Schutzrechte standen. Den Gesellschaftlichen Gerichten gehörten nur Laienrichter an und die festgelegten Maßnahmen waren auf die Beseitigung materieller und ideeller Konflikte zwischen dem Täter und dem Geschädigten gerichtet, wobei in den Entscheidungen die konkreten Lebenssituation der Betroffenen berücksichtigt wurde. Etwa 25 Prozent aller Strafsachen wurden in der DDR durch dieses Gericht erledigt.
Bei der Alternative zum strafenden, autoritären Staat muss es um eine Politik gehen, die auf allen Gebieten gegen den sozialen Ausschluss gerichtet ist. So eine Politik umzusetzen kommt im weltweit expandierenden Neoliberalismus schon der Quadratur des Kreises gleich.
Was schrieb Friedrich Engels im Jahr 1845:
„Die Verbrecher konnten nur einzeln, nur als Individuen durch ihren Diebstahl gegen die bestehende Gesellschaftsordnung protestieren; Die ganze Macht der Gesellschaft warf sich auf jeden einzeln und erdrückte ihn mit ihrer ungeheuren Übermacht.“
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Über die konkrete Lebenssituation armer Menschen in der Großstadt — Immer wieder drohen Ersatzfreiheitsstrafen“ im Gewerkschaftsforum.
Quellen und Anmerkungen:
Quellen: WAZ, Lorenz Böllinger, Martin Lemke, VRR, zeit-online, monitor.de, Volkmar Schöneburg, BTM-Gesetze