Einen guten Tag wünsch ich Ihnen! Nicht so schüchtern, treten Sie ein. Desinfizieren Sie bitte Ihre Hände. Und dann zeigen Sie mir Ihr Covid-Zertifikat, ja, was zittern Sie denn so? Lassen Sie mich den Code einscannen. Und nun werde ich Ihre Temperatur messen, bitte stillhalten. Das wär’s auch schon, danke. Nehmen Sie Platz, wenn Sie wollen, können Sie sich gleich hier hinlegen. Machen Sie es sich bequem.
Ihre Hausärztin hat Sie an mich überwiesen. Ja, ja, ich weiß. In der nächsten Stunde geht es darum, dass wir uns ein bisschen kennen lernen. Wie fühlen Sie sich zurzeit? Geht das schon länger so? Aha. Ich werde später darauf eingehen, vorerst möchte ich Ihre Krankengeschichte erfahren. Aus Ihrer Sicht. Wann und vor allem wie haben die Beschwerden angefangen? Erzählen Sie! Kalte Füße, sagen Sie, hin und wieder ein kurzes Unwohlsein abends. 1972, da waren Sie gerade 16 geworden. Interessant. Sie waren frisch verliebt, zum ersten Mal verliebt und meinten, die kalten Füße hätten Sie wegen der Schmetterlinge im Bauch, so als ausgleichendes Gegengefühl. Und das wiederkehrende Unwohlsein führten Sie auf was zurück? Aha. Das waren noch Zeiten, damals.
In das psychedelische Weltgefühl platzten „Die Grenzen des Wachstums“, der alarmierende Umweltbericht des „Club of Rome“. Haben Sie nicht mitbekommen? Da ging es um die dringlichsten Probleme der Menschheit und des Planeten. Stichwort Ökologie. Es wurden Risikoanalysen evaluiert und alternative Zukunftsszenarien entwickelt. Sagt Ihnen nichts? Dann machten Sie das Handelsdiplom und fanden einen Job bei einem Berner Unternehmen. Buchhaltung. Sie trafen da Ihre spätere Frau, mit der Sie zwei Kinder hatten, einen Jungen und ein Mädchen. Wurden schnell zum Chefbuchhalter befördert, alles lief bestens, konnten sich bald einen Wagen anschaffen und schon Anfang Dreißig ein eigenes Haus bauen. Ist schon toll!
Doch 1992 ging’s Ihnen gesundheitlich schlecht: Notfallstation, Kreislaufkollaps, Spitalaufenthalt. Zu viel Arbeit, zu viel Stress. In welchem Spital lagen Sie? Im „Sonnenhof“, soso. Fand 1992 nicht der Umweltgipfel in Rio statt? Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich denke, dass da die Klimarahmenkonvention vereinbart wurde. Als Institution dieser Konvention finden seit 1995 die weltweiten UN-Weltklimakonferenzen statt. Erster Tagungsort war Berlin. 1997 wurde das Kyoto-Protokoll beschlossen und 2015 in Paris eine internationale Klimaschutz-Vereinbarung verabschiedet. Die sieht eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf möglichst 1,5 °C im Vergleich zu vorindustriellen Levels vor. Wussten Sie nicht? Wahnwitzige sommerliche Temperaturen: 16 Grad in Deutschland und in der Schweiz und 48 Grad in Italien, Griechenland und der Türkei. Hier Überschwemmungen, dort Waldbrände, doch die Menschen rasen weiter durch den Alltag, fliegen weiter in den Urlaub: CO2 rausgeblasen, ein schlechtes Gewissen eingesogen!
Sie sehen blass aus. Möchten Sie ein Glas Wasser? Gerne. Rechts stehen Kleenex-Tücher bereit. Wo waren wir stehengeblieben? Ja, fahren Sie bitte fort. 2018 wurde bei Ihnen Krebs diagnostiziert, ohne Metastasen, Sie möchten nicht ins Detail gehen. Kein Problem, das versteh ich. Sie wurden erfolgreich operiert, in der „Insel“, hatten eine Chemotherapie, die anschlug. Bisher kein Rückfall. Ich drück Ihnen die Daumen, nicht mehr lange und Sie gelten als geheilt. In jenem Jahr, das wird Ihnen wohl bekannt sein, trat die fünfzehnjährige Klimaaktivistin Greta Thunberg ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Sie haben den Namen noch nie gehört. Thunberg, das schwedische Mädchen mit dem Asperger-Syndrom? Nein? Sie initiierte die „Schulstreiks für das Klima“, die zur internationalen Bewegung „Fridays for Future“ anwuchsen. Sie meinte: „Einige Leute sagen, dass ich studieren sollte, um Klimawissenschaftlerin zu werden, damit ich ‚die Klimakrise lösen‘ kann. Aber die Klimakrise ist bereits gelöst. Wir haben bereits alle Fakten und Lösungen. Alles, was wir tun müssen, ist, aufzuwachen und uns zu verändern.“
Nie gehört? Thunberg ist es zu verdanken, dass die Klimakatastrophe, gemeinhin Klimawandel genannt, in unser Bewusstsein drang. Eine historisch wichtige Zeit!
Die Menschheit ringt sich zu einem Bewusstsein der globalen Einheit durch. Dieses Bewusstsein wird umweltbewusstes Handeln ermöglichen. Dieses Weltbewusstsein wird uns retten.
Die deutsche Schriftstellerin Luise Rinser schrieb: „Bewusstsein schafft nicht nur Veränderung der Zustände, es ist bereits Veränderung.“ Sagt Ihnen „Extinction Rebellion“ was? Auch nicht. Diese Aktivisten fordern eine an den Erkenntnissen der Wissenschaft orientierte, konsequente Klimapolitik. Kennen Sie nicht — wollen Sie gar nicht kennen. Warum denn nicht? Darauf wäre ich nie gekommen. Sind Sie wirklich davon überzeugt? Na, wenn Sie meinen. Nehmen Sie ruhig ein neues Glas, ich habe genügend Flaschen da.
Und wie ging’s weiter? 2020 fuhren Sie mit Ihrer Frau in Urlaub nach Lugano, eine Airbnb-Wohnung am Fuße des Monte Brè. Flüge ins Ausland gestrichen, die Corona-Pandemie war ausgebrochen. Also begnügten Sie sich mit einem Trip in den Süden der Schweiz, auch in der Heimat kann es schön sein. Und Sie waren wirklich willkommen. Die Tessiner Tourismusbranche darbte und empfing Sie mit offenen Armen. Dennoch war es nicht vergleichbar mit früheren Ferien auf Sardinien oder am Strand von Miami. Klar. Und da hat es Sie erwischt. Ja, was hat Sie denn erwischt? Sie hatten einen Herzinfarkt. Am zweiten Urlaubstag. Schlimm! Im „Instituto Cardiocentro Ticino“ stellte man Sie wieder her. Was für nette Pflegerinnen!
Und danach waren Sie einen Monat in der „Casa di Cura“ in Ascona. Anthroposophisches Kurhaus. Da konnten Sie endlich einmal weinen. Jahrelang nie geweint — und dann, nach einer therapeutischen Massage, heulten Sie hemmungslos drauflos. Beeindruckend! Sie haben es wieder gepackt. Doch im Winter kam die zweite Welle mit Lockdown. War kein Zuckerschlecken. Die Freunde fehlten Ihnen sehr, Ihre Nerven lagen blank. Sie wurden sogar ein klein wenig depressiv. Wie gingen Sie damit um? Aha. Und gleich im Frühjahr 2021 die beiden Impfungen: BioNTech-Pfizer. Nichts gespürt. Und dann die nächste Welle. Sie nennen Sie die Dauerwelle. Haha, wenn wir den Humor nicht hätten!
Ich hab da eine Frage: Im neuesten Bericht des Weltklimarates … Nein, das stimmt nicht, ich lass Sie doch ausreden. Sie haben die Nase voll von Spinnern, die Corona leugnen, von Querdenkern und Covidioten, von Verschwörungstheoretikern, die ihre Schutzmasken verbrennen und auf Demos randalieren. Was für ein Affentheater! Einmal wollten diese Chaoten das Bundeshaus stürmen, was für ein Pöbel! Wer heute nicht durchdreht, ist schon durchgedreht. Die Nase voll von QAnon-Anhängern, die uns weismachen wollen, dass Bill Gates und seine jüdischen Lakaien Kinder in unterirdischen Lagern gefangen halten, um ihr Blut zu trinken. Lauter Verschrobene und Verrückte! In einer Pandemie hat Trotz, der sich als Freiheitsliebe tarnt, tödliche Folgen. Die gilt es doch zu verhindern. Geht’s dir an den Kragen, entsorge dein Hemd!
Ich lass mal frische Luft ins Zimmer, so. Entspannen Sie sich, atmen Sie tief durch. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Nein, ich will Sie nicht unterbrechen. Nun beruhigen Sie sich doch! Sie wollen sich nicht beruhigen? Was wollen Sie dann? Die Nase voll von massiven Neuinfektionen, von verheerenden Inzidenzwerten, von steigender Hospitalisierungsrate. Und dann die Nachricht von der neuen Variante, Oki…, Okrim… Sie können sich den Namen nicht merken? Omikron. Vielen Dank. Sie frohlockten, als die Mehrheit der Schweizer Stimmbürger das Covid-Gesetz annahm. Nun schöpften Sie wieder Hoffnung und im Januar 2022 ließen Sie sich boostern. Man muss sich doch schützen! Ohne Eigensinn kein Gemeinschaftssinn — und nur beide vereint ergeben einen Sinn. Ist doch so?
Und nun wünschen Sie sich die 3G-Regel am Arbeitsplatz und in öffentlichen Verkehrsmitteln. Und eine generelle Impfpflicht. Ich dachte, Sie seien schon Rentner. Trotzdem … oder gerade deshalb. Die Alten, die haben noch ein Wörtchen mitzureden. Ja, da bin ich ganz Ihrer Meinung, aber alt? Sie fühlen sich manchmal sehr alt und sehr erschöpft. Dieses verdammte Virus, das sich in immer neue, noch ansteckendere Varianten verwandelt, macht müde. Manchmal fällt es Ihnen schwer, morgens aus dem Bett zu kommen. Und schleppen sich dann lustlos durch den Tag. Fast apathisch. Und manchmal glauben Sie, Fieber zu haben. Manchmal hüsteln Sie, manchmal tun Ihnen die Glieder weh. Was Sie nicht sagen! Und manchmal … Aha. Und dann … Aha.
Hier sollten wir innehalten. Ich denke, ich habe genug gehört. Vielen Dank für Ihre Offenheit. Wie geht es Ihnen jetzt? Manchmal desinfizieren Sie ihre Hände vierzig Mal am Tag — oder mehr. Tatsächlich? Und wenn Sie von einem Spaziergang heimkehren, behalten Sie die Maske für den Rest des Tages an, auch wenn Ihre Frau nicht zu Hause ist. Glauben Sie, dass das nötig sei? Aha. Und manchmal meinen Sie, den Sinn für den Geschmack der Speisen zu verlieren. Und manchmal … Aha. Aha. Aha.
Verzeihen Sie, aber nun muss ich Sie unterbrechen. Wir wollen doch nicht, dass wir den Faden verlieren. Als Arzt kann ich Sie bezüglich Viren beruhigen. Unzählige Virenarten tummeln sich in den menschlichen Schleimhäuten und auf der Haut, im Blut gibt es Herpesviren, Adenoviren und so weiter, im Stuhl leben Masernviren, Noroviren, Astroviridiae und so weiter. Nein, da liegen Sie falsch, die meisten völlig harmlos. Millionen Viren leben mit dem menschlichen Organismus in Symbiose, manche stärken ihn sogar. Zwei Beispiele: Herpesviren schützen vor Asthma, das Zytomegalie-Virus fördert die Gewebe-Regeneration. Und ob Sie’s glauben oder nicht, unser Immunsystem ist aus Viren aufgebaut. Doch, doch, vertrauen Sie mir.
Ich kann Ihre Angst verstehen, sie ist ein wildes Tier und will umarmt sein.
Sie finden den Vergleich daneben und möchten jetzt bitte gehen. Bleiben Sie liegen, ja? Nein, wir müssen noch etwas klären. Das ist wichtig, einfach liegen bleiben! Sie haben mir Ihre Geschichte erzählt und ich werde nun meine Diagnose stellen. Ich werde kein psychologisches Kauderwelsch reden und mich kurz fassen. Sie müssen jetzt stark sein. Danke.
Sie haben Ihre Angst vor der Klimakatastrophe, das heißt vor der Selbstauslöschung der Menschheit, das heißt vor dem eigenen Tod, sukzessive verdrängt und in körperliche Krankheiten abgeleitet, wobei hier Verdrängung einen Abwehrmechanismus bezeichnet, der innerseelische Konflikte reguliert, indem bedrohliche Sachverhalte oder Vorstellungen von der bewussten Wahrnehmung ferngehalten werden. Schauen Sie mich an und hören Sie mir zu! Als die Corona-Pandemie ausbrach, verdrängten Sie die Angst vor den körperlichen Krankheiten und leiteten sie auf die Corona-Problematik ab. So gelang es Ihrer Seele, mit der Angst vor dem Coronavirus die weit bedrohlichere Angst vor körperlichen Krankheiten, das heißt vor der Klimakatastrophe, auszutricksen.
Folgen Sie mir? Ich fahre fort. Sie entwickelten zudem eine Zwangsstörung, die sich sowohl in Zwangsgedanken rund um die Pandemie und Zwangshandlungen wie ständige Händedesinfektion und exzessives Maskentragen manifestieren. Damit einher gehen depressive Zustände und eine soziale Phobie. Die gute Nachricht: Ich bin überzeugt, dass Ihr psychisches Problem der Verdrängung psychotherapeutisch mit Erfolg zu behandeln ist. Die zweite gute Nachricht: Die Zwangsstörung ist von der Persönlichkeitsstörung klar zu unterscheiden. Auch sie ist therapierbar. Allerdings sollte die empfohlene Kognitive Verhaltenstherapie mit Expositionen und Reaktionsmanagement in Kombination mit einer medikamentösen Therapie durchgeführt werden.
Haben Sie verstanden, was ich Ihnen gerade gesagt habe? Bestens. Noch ein Wort zu Klima und Corona: Krankheit weckt Gesundheit. Die Corona-Pandemie bewirkt eine ökologische Umkehr, eine soziale Umgestaltung und einen politischen Umbau, kurz: einen gigantischen gesellschaftlichen Umbruch. Was der französische Philosoph Albert Camus über die geschichtliche Aufgabe des Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg formulierte, gilt auch für uns Zeitgenossen der Klimakatastrophe: „Wir stehen an einem Wendepunkt: entweder der Tod oder eine neue Zivilisation; es ist die Aufgabe unserer Generation, also der Menschen, die heute leben, den Boden für sie zu bereiten.“
Sie nicken, das freut mich. Ich werde Sie auf Ihrem Weg begleiten, wir stehen das gemeinsam durch. Wie es jetzt weitergeht? Sie können auf die Unterstützung der „Universitären Psychiatrischen Dienste Bern“ zählen, sie betreiben eines der renommiertesten Psychiatriespitäler der Schweiz. Wenn Sie einverstanden sind, weise ich Sie gleich ein. Sie sind dagegen, Sie wollen nach Hause. Das habe ich mir schon gedacht. In diesem Fall muss ich auf einer fürsorgerischen Unterbringung bestehen — zu Ihrem eigenen Schutz. Ich rufe die Pfleger. Mit Ihrer Frau habe ich gesprochen, sie hat grünes Licht gegeben. Nein, das fällt unter die ärztliche Schweigepflicht. Ihre Personalien und die Angaben zur Krankenversicherung habe ich von der Hausärztin erhalten. Meine Herren, treten Sie ein. Hier ist der Patient. Vorname: Homo. Nachname: Sapiens. Kopf hoch und auf Wiedersehen!
Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.