Heute wird in Berlin der Deutsche Filmpreis verliehen. Unter den nominierten Filmen befindet sich auch der Dokumentarfilm „Elternschule“, in dem die Behandlung „psychosomatisch erkrankter“ Kinder in einer Gelsenkirchener Kinderklinik gezeigt wird. Das möchte ich zum Anlass nehmen, auf einige bedenkenswürdige Hintergründe des Films hinzuweisen, die in der Diskussion keinesfalls verschwiegen werden sollten.
Das in Gelsenkirchen angewandte Behandlungskonzept, welches sich ursprünglich nur auf Neurodermitis und Asthma bezog, gibt es nur dort und wurde auch an dieser Klinik entwickelt. Es basiert auf den theoretischen „Erkenntnissen“ und praktischen Methoden des ehemaligen Abteilungsleiters und fachlichen Ziehvaters der derzeitigen psychologischen und ärztlichen Leiter, dem Düsseldorfer Prof. Ernst August Stemmann.
Dieser bewertete in einem Gutachten für die Universität Düsseldorf einst die sogenannte Germanische Neue Medizin des Dr. Ryke Geerd Hamer als positiv. Später distanzierte er sich jedoch von Hamer, baute aber dennoch auf dessen Ideen sein Behandlungskonzept, die sogenannte Gelsenkirchener Methode, auf. Hamer bezichtigte Stemmann daraufhin des Diebstahls seines geistigen Eigentums. Nachdem Stemmann sich von Hamer abwandte, rechnete er sich der esoterisch angehauchten „Metamedizin“ zu, die sich jedoch auch auf Hamer beruft.
Ich finde es höchst bedenklich, dass Krankenkassen eine Behandlungsform bezahlen, für die es weder Evidenz noch Langzeitstudien gibt, obwohl sich die Klinik einerseits auf 30-jährige Erfahrung beruft, sich andererseits mittlerweile aber auch von Stemmann distanziert, — eine Behandlungsform, deren „psychosomatische“ Grundlagen einem esoterisch-wahnhaften Denken eines verurteilten Straftäters und Antisemiten, Hamer, entspringen, der wahrscheinlich den Tod etlicher Krebspatienten zu verantworten hat.
Es gibt nur eine Studie mit 15 Teilnehmern ohne Kontrollgruppe, die Dietmar Langer — psychologischer Leiter — und Kurt-André Lion — ärztlichen Leiter der Klinikstation — noch zusammen mit Stemmann 2011 auf Onmed veröffentlichten. Langzeitstudien über mehrere Jahre scheint es nicht zu geben, trotz ihrer angeblich langjährigen Erfahrung. Ähnlich wie beim Hamer‘schen Vorgehen setzt auch die Gelsenkirchener Klinik bei Neurodermitis als erstes die konservativen Behandlungsmaßnahmen, wie zum Beispiel Kortison- und andere lindernde Salben, ab, sowie Maßnahmen, die verhindern sollen, dass sich die Kinder blutig kratzen. Im Film sagt der Therapeut Langer sogar: „Sie sollen sich ruhig kratzen“.
Auch wird im Film gesagt, es würden nur Kinder aufgenommen bei denen alle herkömmlichen Behandlungen versagt hätten. Aber niemand sollte sich von dem exklusiven Heilsversprechen blenden lassen. Es gibt genügend alternative Kliniken und Schreiambulanzen in allen größeren Städten, nur bringen diese Ihr Kind vielleicht nicht innerhalb von drei Wochen zum „Schweigen“.
Ich zitiere im Folgenden ein paar Aussagen aus der Schrift „Selbstheilung (Spontanheilung) der Neurodermitis“ von Ernst August Stemmann und Sibylle Stemmann 2002, in der er sein theoretisches Konzept darlegt und auf dessen Grundlage die heutige Gelsenkirchener Behandlung immer noch basiert. Bitte achten Sie auch auf die Ausdrucksweise, die sicher einige Rückschlüsse auf Denkart und Menschenbild zulässt. Darin heißt unter anderem:
- „Er (der Kranke) möchte sich seinen Aufgaben und Pflichten entziehen. Es ist fatal, dass der Neurodermitiskranke (…) intensive Hilfe und Zuneigung erfährt und dass dadurch Missempfindungen beseitigt werden.“ Er nennt das dann „positive Verstärkung von Nichtgehorchen“(!) und weiter :
- „Der Betroffene versucht … seine Krankheit einzusetzen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen …(seine) Inaktivität (…) ist für ihn zu einem Gewohnheitsrecht geworden.“
- „Der Neurodermitiskranke erlangt Macht über die gesunden Familienmitglieder.“
- „… dann sinnt es (das Kind) auf eine Verhaltensstörung, durch die es seine Kontaktpersonen gefügig macht. Sein Ziel ist die Belohnung, der Vorteil.“
- „Das kranke Kind ist voll verantwortlich“ (!!!)
- „(…) Eltern, wenn sie von dem Kind ausgenutzt und gequält werden.“
- „(…) das kranke Kind ist nicht seelisch zerbrechlich, (es) erleidet auf Dauer Schaden, wenn es nicht gehorcht und dann die Ablehnung seiner Bezugspersonen erfährt.“
- „Erziehung soll das neurodermitiskranke Kind auf den Überlebenskampf vorbereiten“.
- „Widersetzt sich das neurodermitiskranke Kind den Anweisungen, so hat es die Konsequenzen zu tragen“.
- „Soll die Neurodermitis heilen, müssen die alten evolutionären Strukturen wieder hergestellt werden …“
- „(…) letztlich schafft es das neurodermitiskranke Kind Mitleid (…) bei seinen Eltern hervorzurufen, die somit zu Sklaven ihres kranken Kindes werden, die Eltern müssen sich von Mitleid (…) befreien.“
- „Widersprüche seitens des Kranken werden nicht akzeptiert. (…) Es gibt keine Diskussionen (nicht ein einziges Wort) und keine zweite Chance“.
- „(…) dass ein derartiges Training, wenn es konsequent durchgeführt wird, nur wenige Tage benötigt. Danach gehorcht das Kind …“.
- „Wenn sie den Kranken ernst nehmen und seine Selbstheilung fördern wollen, müssen sie ihn die Folgen seines Fehlverhaltens spüren lassen. Nur diese Erziehungsmethode funktioniert …“.
- „Wenn das kranke Kind protestiert und sich zerkratzt, erleidet die Kontaktperson heftige Qualen“.
- „In der Klinik erhält die Kontaktperson Beistand durch die Therapeuten“.
Immer wird nur auf das Leiden der Kontaktperson eingegangen. Sie erhält Beistand durch die Therapeuten. Auf das Leiden der Kinder, oder dass auch sie Beistand benötigen, wird mit keinem einzigen Wort eingegangen. Er scheint nicht im Geringsten fähig zu sein, sich auch in die Gefühlslage von Kindern einzufühlen. Das spricht im Grunde für sich. Mit den Stemmann‘schen Zuschreibungen werden die Kinder zu Tätern gemacht und sie, beziehungsweise ihre ungehörigen Bedürfnisse, sind schuld.
Solch eine Art der Erziehung — und Stemmann nennt sie explizit „Erziehungsmethode“ — erinnert mich stark an Methoden, wie sie zu Anfang des 20. Jahrhunderts beinahe flächendeckend üblich waren. Kinder hatten zu gehorchen, Widerworte waren nicht erlaubt, der Schwächere hatte sich bedingungslos der Macht des Stärkeren zu unterwerfen und Säuglinge wurden nächtelang hindurch schreien gelassen. Und wenn Kranke voll für ihre Krankheit selbst verantwortlich sein, Kinder „auf den Überlebenskampf vorbereitet“ werden und „alte evolutionäre Strukturen wieder hergestellt“ werden sollen, so erinnert mich das auch eher an eine nicht minder unsägliche Epoche unserer Geschichte als an eine zeitgemäße Kindererziehung.
Der Münchner Eltern-Kind-Bindungsexperte und Kinderpsychiater Prof. Karl Heinz Brisch sagt es in seiner Stellungnahme vom 9. November 2018 etwas drastischer, Zitat: „Die im Film in der Kinderklinik Gelsenkirchen gezeigten Behandlungen mit emotionaler Gewalt, Zwangstraining und Methoden, die leider mehr faschistoiden Erziehungsmethoden zugerechnet werden müssen, sind für Kleinkinder traumatisierend und hinterlassen bei den Kindern Spuren von Angst, Ohnmacht und Hilflosigkeit, wie Längsschnittstudien (…) auch in Kernspinuntersuchungen des Gehirns, (…) nachweisen konnten.“ Hirnforscher sprechen neuerdings sogar von regelrechten „Narben im Gehirn“, die solche Erziehungsmaßnahmen bei den Kindern hinterlassen — dazu später mehr.
Im Folgenden zitiere ich nun einige Stellen aus dem Vortrag „Großeltern“ des Diplompsychologen Dietmar Langer, abgedruckt im Mitgliederbrief April 2011 der Arbeitsgemeinschaft Allergie- und Umweltkrankes Kind, die eng mit der Klinik verbunden ist. Darin heißt es etwa:
- „Letztlich darf man aber auch nicht vergessen, dass Eltern wie Großeltern es im Umgang mit dem Kind mit einem Wesen zu tun haben, welches zu den besten Strategen auf diesem Planeten zählt. Und Erwachsene, besonders Eltern und Großeltern, gegeneinander auszuspielen gehört zu den leichtesten Übungen eines kindlichen Vollblutstrategen (…). Abstimmung und Einigkeit sind hier die geeigneten Gegenstrategien der Erwachsenen.“
- „Da die Gruppe blind dem ,Leitwolf‘ folgt, muss es ein effektives Ausleseverfahren geben, welches nur den starken Tieren die Führung und damit das Recht zur Fortpflanzung gibt. Gesellschaften sind wie Arten in der Natur.“
- „Denn schon die nächste oder übernächste Generation könnte so schwach sein, dass sie möglicherweise aus dem genetischen Pool der Gesellschaft ausscheidet.“
- „Für jeden einzelnen Menschen stellt sich die Frage: welchem Prinzip folge ich: dem Prinzip der Schwäche oder dem Prinzip der Stärke?“
- „Stark wird man nicht durch Geschenke; stark wird man dadurch, dass man sich etwas erkämpft. Die eigene Autonomie muss man sich erkämpfen, nur dann ist sie unantastbar. Der starke autonome Mensch wird seine Kinderstube verlassen, sich seinen eigenen Lebensraum schaffen und irgendwann Kinder in die Welt setzen. Der Schwache wird bleiben und versuchen, die Erwartungen seiner Eltern zu erfüllen und seine Ambitionen auf ein eigenes Leben zurückstellen.“
Redestil und Wortwahl erinnern hier doch auch sehr an die Stemmann‘schen Ausführungen. Das Kind scheint von vorne herein als Feind zu gelten mit durch und durch schlechten Absichten, dem ein Bollwerk aus konsequenter Einigkeit entgegenzusetzen ist, bevor die armen Eltern vollends überrollt werden. Es gib nur schwarz oder weiß, Schwäche wird verachtet und die Stärke zum alleinigen Maßstab erhoben. Despektierlich heißt es „der Schwache wird versuchen die Erwartungen seiner Eltern zu erfüllen“. Aber genau das erzwingt er ja von den Kindern, die unbedarfte Eltern seiner Obhut anvertrauen.
Ich meine, wir wollen sicher nicht wieder Menschen heranzüchten, die keinen eigenen Willen mehr haben und sich stattdessen wie Rudeltiere bereitwillig dem Stärksten und Skrupellosesten unterordnen. Das wäre reine Schwarze Pädagogik und die ist heutzutage nicht einmal mehr bei der Hundeerziehung erwünscht.
So etwas darf nicht wieder die Blaupause für „eine gute Erziehung“ werden, wie die Süddeutsche Zeitung die im Film propagierte Methode betitelt. Auch nicht durch eine unbemerkt subtile Unterwanderung der Erziehungskultur. Für unsere gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen der Zukunft brauchen wir empathische Menschen und keine Menschen, denen schon in frühester Kindheit das natürliche Gefühl für sich selbst ausgetrieben wurde und die in der Folge dann natürlich auch kein Gefühl für ihre Mitmenschen entwickeln konnten.
Die Würde unserer Kinder ist die wichtigste Ressource für eine lebenswerte Zukunft. Langer und Lion sowie auch die Filmemacher Jörg Adolph und Ralf Bücheler treten sie mit Füßen, wenn sie diese Methode mit ihrem Film unters Volk bringen wollen — nicht zuletzt, indem sie die Kinder ohne unkenntlich zu machen öffentlich vorführen. Wir sollten uns unsere Kinder und unsere Zukunft nicht von ihnen aus der Hand nehmen lassen, denn Kindererziehung ist Zukunftsgestaltung. Es ist erschreckend, dass wir gegen diese Art des Denkens immer noch nicht immun geworden sind und sich kaum jemand dagegen wehrt.
Pseudomedizin
„Pseudomedizin — Gallilei aus Gelsenkirchen“ so überschrieb der Spiegel bereits in seiner Ausgabe 10/2005 einen Artikel, in dem Stemmann schon heftig von Medizinerkollegen kritisiert wurde.
Die Klinik selbst hat in den letzten Wochen ihre Webseite überarbeitet und alle „Fachtermini“, die auf die zweifelhaften Wurzeln ihres Konzepts schließen lassen könnten, zum Beispiel Diagnosen wie „Revierangst bei Asthma“ oder namentliche Bezüge auf Prof. Stemmann, entfernt; die Seite von Dietmar Langer ist zur Zeit gar nicht mehr erreichbar. Die Klinikabteilung rühmt sich stattdessen mit positiven Bewertungen und Dankesschreiben der Eltern (!) ehemaliger Patienten, während sie negative oder unzufriedene Verlautbarungen anderer Patienten und Stellungnahmen verschiedener Fachleute mit Unterlassungserklärungen zu eliminieren versucht.
Um den wahren Ursprung ihrer „Therapie“ zu verschleiern, missbraucht man meiner Meinung nach nun eine an sich hoch anerkannte Therapiemethode, die auf der erfolgreichen Lerntheorie beruht. Im Übrigen so erfolgreich, dass sich verhaltenstherapeutisch und/oder mit der Klinik assoziierte Fachgesellschaften scheinbar genötigt sehen, nichts Beanstandungswürdiges an dem Verfahren zu erkennen, vielleicht um selber nicht das Gesicht zu verlieren?
Die Eltern werden in Gelsenkirchen, im Gegensatz zu den Kindern, sehr verständnisvoll umsorgt, manche nehmen vielleicht nach drei Wochen ein „braves“ Kind mit nach Hause, andere brechen die Therapie ab und fahren vorzeitig wieder nach Hause. Neurodermitis ist jedoch eine Erkrankung, die in Schüben verläuft — im Kleinkindalter meist ausgeprägter, dann oft auch über Jahre symptomfrei, ohne dass man genau festmachen könnte, woran es liegt; von Heilung sollte man also noch nicht sprechen. Daher ist es verständlich, dass manche Eltern sich durchaus subjektiv zufrieden zeigen mit der dreiwöchigen Behandlung. Einigermaßen sicher scheint zu sein, dass Stress, wie bei vielen anderen Erkrankungen auch, eine fördernde Rolle bei der Entwicklung der Symptome und eine hemmende Rolle bei der Genesung spielt.
Nach einem heftigen Ausbruch folgt mit einiger Sicherheit irgendwann auch wieder eine Remission. Wenn zu Anfang der Therapie eine starke Verschlimmerung der Symptome infolge des anfänglichen Therapiestresses eintritt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass in drei Wochen eine deutliche Besserung eingetreten und das Kind dann auch wesentlich stressfreier ist, da einerseits die körperlichen Symptome nicht mehr so quälen und das Kind nach der Stemmann‘schen Behandlung sich dem Willen der Eltern beziehungsweise der Therapeuten vollkommen gebeugt hat.
Da Unsicherheit eine recht unangenehme Sache für uns Menschen ist, wollen wir natürlich gerne für alles eine Ursache finden, die uns das Gefühl gibt, da ist etwas, das wir selber — oder andere für uns — in der Hand haben und kontrollieren können. Aber leider ist es eben häufig wie mit einem grippalen Infekt. Mit dem ersten Kratzen im Hals geht man noch zur Arbeit. Dann kommt der unangenehme Schnupfen. Aus Rücksicht auf die Kollegen bleibt man ein paar Tage zu Hause, aber dann kommt der hartnäckige Husten dazu, man fühlt sich matt und lustlos und bleibt also drei Tage im Bett liegen.
Am 10. Tag denkt man vielleicht, es wäre wohl doch besser, mal zum Arzt zu gehen. Der verschreibt dann ein paar Mittelchen und schon am nächsten oder übernächsten Tag fühlt man sich etwas besser, die Medizin scheint also angeschlagen zu haben. Es ist dabei völlig egal, welches Mittel mir mein Arzt verschrieben hat, ein teures Hammerpräparat oder etwas Sanfteres, ein Naturheilpräparat, vielleicht etwas homöopathisches oder auch nur ein bewährtes Hausmittel. Als Patient bin überzeugt, der Arzt hat die richtige Wahl getroffen, und fortan wird er zum Hausarzt für die ganze Familie erkoren und das Mittel, das er verschrieben hat wird bei jeder zukünftigen Erkältung das Mittel der Wahl sein.
Aber die tiefere Wahrheit, die dahinter steckt ist ein ganz andere, eine viel unspektakuläre: Unbehandelt dauert so ein Infekt ganze zwei Wochen, behandelt aber nur 14 Tage! Ich will damit sagen, wenn ich auf dem Höhepunkt meiner Beschwerden irgendetwas dagegen mache, dann wird es mir mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit danach besser gehen. Der verschnupfte Patient hätte auch ein lauwarmes Fußbad in verdünntem Mäuse-Urin nehmen können oder eine heilige Messe auf Bibel-TV ansehen und anschließend drei Kreuzzeichen machen können, er wird überzeugt sein, dass genau das ihn geheilt hat.
Nebenwirkungen
Nun wissen wir aber auch, dass die meisten Behandlungen, besonders die mit einem Hammerpräparat, auch Nebenwirkungen haben. Manche durchaus erwünschte, wie zum Beispiel im Fall von Viagra — ursprünglich ein Herzmedikament —, aber auch unerwünschte bis hin zu wirklich gefährlichen. Und auf diese möchte ich die Eltern, die glauben und hoffen, dass ihnen und ihren Kindern ein solches Erziehungsverfahren beim täglichen Umgang mit ihren Kindern zuhause hilft, ausdrücklich hinweisen.
Was mit dem Stressverarbeitungssystem der Kinder geschehen kann, deren Eltern bis zum Schluss vielleicht widerwillig durchhalten und die durch die emotional gewaltvollen Behandlungen mit dem Schlaf- und Trennungstraining gegangen sind, kann das noch recht junge medizinische Fachgebiet der Neuro-Psycho-Immunologie beziehungsweise die Hirnforschung heute schon gut erklären. Der Gehirnforscher Gerhard Roth beschreibt in seinem Buch „Wie das Gehirn die Seele macht“ (1) ausführlich, wie kindliche Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung, also verschiedenste Traumatisierungen, in eine sogenannte atypische, chronische Depression hineinführen können mit den Symptomen eines braven, folgsamen und ruhigen Kindes, das gerade wegen seiner Unauffälligkeit psychisch schon wieder auffällig ist.
Die ganze Stemmann-/Langer‘sche Prozedur zielt auf genau diese Symptome eines pflegeleichten Kindes ab, das in Wirklichkeit nur aufgegeben hat, als eigenes Individuum mit eigener Würde gesehen zu werden und in einen authentischen Kontakt mit den eigenen Eltern zu kommen. Das resignierte Kind hat dann natürlich keinen akuten Stress mehr mit den Eltern, denn es passt sich an und ordnet sich ihrem Willen vollkommen unter (vergleiche Stemmann und Stemmann, 2002).
So ist es leicht zu verstehen, dass kurzfristig durch die Minderung des akuten Stresses die Symptome mal wieder erneut zurückgehen und die Therapie erfolgreich zu sein scheint — es sieht suggestiv und vorübergehend aus wie Heilung, ist aber keine. Erkauft wird dieses überangepasste Verhalten des Kindes aber mit einer im Tagesverlauf chronisch erhöhten Aktivität der Stressachse (HPA-Achse). Der Körper stellt sich darauf ein, wobei ein weiterer Anstieg nach oben dann nicht mehr möglich ist und schnelle Reaktion auf einen akuten Stressor, wie zum Beispiel eine Trennungsituation, dann kaum noch stattfinden kann. Das Kind reagiert also auf akute Stresssituationen weniger aggressiv und damit scheinbar auch weniger verletzlich.
Weiterhin wird vermutet, dass diese chronische Überschwemmung mit dem Stresshormon Cortisol die Zellen des Hippocampus — zuständig für Emotionen und Gedächtnisbildung — schädigt, ihn sogar schrumpfen lässt und so einen Teufelskreis auslöst, der eine Herunterregelung dieser Stressachse nachhaltig verhindert (2). Die Neurogenese in diesem Bereich — Bildung neuer Hirnzellen — nimmt ab und das Kind verliert die Fähigkeit, adäquat mit Stress umzugehen. Es muss seine schmerzlichen Gefühle dann vom Bewusstsein abspalten und verfällt bei Stress innerlich in eine Art Schockstarre. Langfristig ist demnach mit weiteren körperlichen und/oder psychischen Krankheitssymptomen zu rechnen.
So urteilt auch Kerstin Konrad, Vorstandsmitglied der DGKJP und Professorin an der Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Aachen. Auf die Frage „Wer heilt hat Recht?“, die sich auf die Aussage einer ehemaligen Patientenmutter bezieht, ihr Sohn höre jetzt auch viel besser auf sie: „(…) in gewissem Masse ja. Wenn nur die Eltern glücklich sind und die Kinder Schaden nehmen, darf der Satz nicht so stehen bleiben“ (3). So fragt man sich, kann die Klinik denn auch Dankesschreiben ehemaliger Patienten vorweisen? Davon sind viele doch heute schon erwachsen.
Kinder sind keine Erwachsenen
Darüber hinaus möchte ich noch Folgendes zu bedenken geben: Die eher verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Fachgesellschaften wie auch die zuständige Ärztekammer beurteilen, wie bereits oben angedeutet, das auf der Lerntheorie beruhende Schlaftraining und das sogenannte Bindungs-Trennungstraining — von Langer als Stressimpfung bezeichnet — als regelgerecht und wissenschaftlich fundiert. Dabei muss man aber berücksichtigen, dass diese Verfahren zwar in der Therapie von erwachsenen Angst- und Phobiepatienten durchaus seit vielen Jahren erfolgreich eingesetzt werden.
Jedoch die Eins-zu-Eins-Übertragung von Erwachsenen auf Kinder und Kleinkinder, sogar Säuglinge, von nur einem Teil der Therapietechnik, nämlich der Angstkonfrontation, während der andere Teil, die simultane Unterstützung durch den Therapeuten, einfach weggelassen wird, halte ich für nicht statthaft aus folgendem Grund: Erwachsene werden in der langen Vorlaufphase der sogenannten Konfrontationstherapie kognitiv ausführlich auf die Exposition mit ihrer Angst vorbereitet. Der Klient muss erst ein absolutes Vertrauensverhältnis zum Therapeuten aufbauen und geht dann zusammen mit diesem in die Angstsituation hinein. Der Erwachsene ist in der Stresssituation also nicht allein, er genießt den Beistand und die Beruhigung durch den Therapeuten.
In der Arbeit mit den Kindern im Gelsenkirchener Verfahren ist das vollkommen anders. Dort werden die Kinder beim Trennungstraining wie auch beim Schlaftraining total allein gelassen und bleiben ihren Angst- und Panikgefühlen hilflos ausgeliefert. Weder wurde vorher ein belastbares Vertrauensverhältnis zum Kind aufgebaut — wie sollte das auch innerhalb von ein paar Tagen möglich sein —, noch wurde es aus naheliegenden Gründen kognitiv darauf vorbereitet. Beim Trennungstraining ist zwar Aufsichtspersonal vorhanden, aber es widmet sich nicht den Kindern, tröstet sie nicht und schaut sie noch nicht einmal freundlich an. Schließlich ist ja gerade Sinn und Zweck der Therapie, dass die Kinder mit ihren Angstgefühlen allein bleiben und so „lernen“ sollen, sie — zu überwinden — Langer nennt das Selbstberuhigung.
Um das Zurückgeworfensein auf sich selbst noch zu unterstützen, werden den Kindern bei der Trennung von der Mutter — wie es im Film zu sehen ist — sogar Beruhigungsschnuller und Teddybär abgenommen. Bei den Erwachsenen sind heutzutage alle angstlindernden Hilfsmittel ausdrücklich erwünscht, wie zum Beispiel auch die Beruhigungspille in der Hosentasche. Hier liegt also ein ganz wesentlicher Unterschied zur Therapie mit Erwachsenen und im Resultat eine meines Erachtens eklatante Kindeswohlgefährdung vor.
Meiner Meinung nach werden hierdurch verängstigte und traumatisierte Kinder zwecks „Therapie“ neuen und weiteren Traumatisierungen ausgesetzt; Langer gebraucht dafür auch häufiger den Ausdruck „flooding“. Es handelt sich also nicht um ein langsames Heranführen an die Angst, sondern um ein Überfluten mit Angst. Der Beistand, den jeder Erwachsene in einer Angsttherapie wie selbstverständlich genießt, wird den Kindern vollkommen verwehrt. Das halte ich für ethisch höchst bedenklich. Der Unterschied, der hier gemacht wird zwischen dem wertschätzend fürsorglichen Schutz der Erwachsenen und dem Schutzbedürfnis von noch viel verletzlicheren Kindern, ist der eigentliche Skandal, der in unserer Gesellschaft scheinbar immer noch viel zu wenig wahrgenommen wird. Es öffnet Eltern Tür und Tor zur unwissentlichen Kindesmisshandlung unter angeblich professionell-wissenschaftlichem Anspruch.
Um sein Vorgehen zu rechtfertigen betont Langer in Interviews immer wieder, erst durch das Schlaf- und Trennungstraining — er nennt es gerne Bindungs- und Trennungstraining — werde Bindung erst möglich. Aber was ist das für eine Bindung, in der die eine Seite vollkommen einseitig die Bedingungen diktiert und der Unterlegene sich dem Willen des Stärkeren aus purer Angst unterzuordnen hat? Jedenfalls ist es keine Bindung, in der das Kind gesund wachsen und reifen kann. Langers alternatives Bindungsverständnis heißt: Grenzen, Strukturen und Führung erzeugen Vorhersehbarkeit.
Das ist alles. Dies erzeugt zwar Sicherheit, das ist richtig, aber lebendige Entwicklung und Entfaltung sind darin nicht vorgesehen. Mit diesem Bezwingen von Kinderseelen werden sie zur Hörigkeit erzogen und schlimmstenfalls niemals richtig erwachsen, da sie nie lernen konnten, was Selbstverantwortung ist, denn sie haben ja immer das getan, was Andere von ihnen wollten. Der Kinderarzt Dr. Renz-Polster vergleicht es auf seiner Webseite treffend mit dem Stockholmsyndrom oder mit einer Ehekrise, die selbstverständlich nach wenigen Tagen beendet wäre, gäbe nur die Frau ihr schlechtes Verhalten auf.
Identitätstrauma
Die Floskel „liebevolle, konsequente Erziehung“, die Langer immer wieder bemüht, ist in Wirklichkeit nur ein Feigenblatt und bedeutet für das Kind: Wenn du immer das tust, was ich von dir verlange, wenn du also so bist, wie ich dich haben will, dann liebe ich dich und sonst eben nicht. Genau das bedeutet die „Konsequenz“ in der Langer‘schen Erziehungsphilosophie. Und damit bedeutet „liebevoll“, die Liebe ist an strikte Bedingungen geknüpft. Sie hat dann wirklich nichts mehr, aber auch gar nichts mit echter Liebe zu tun. Das Kind hat dann nur die Chance, sein eigenes individuelles Wesen und seine wahren Bedürfnisse zu verleugnen, denn es ist ja auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dass die Eltern zu ihm stehen.
Es wird dann zu jemand anderem werden als der, der eigentlich in ihm angelegt ist. Nun wird es zwar scheinbar von den Eltern geliebt — und vielleicht fühlt es sich sogar geliebt? —, aber die Eltern meinen in Wirklichkeit gar nicht das Kind, sondern ihre eigene Vorstellung vom Kind. Daher handelt es sich in Wahrheit nur um die narzisstische Eigenliebe der Eltern — und das spüren Kinder ganz genau, sofern sie noch ein natürliches Empfinden haben. Und dagegen protestieren sie auch zu Recht.
Nichts kommt von dieser „Liebe“ beim Kind an, weil es in gewisser Weise ja gar nicht mehr es selbst ist. Es ist gebrochen und merkt es irgendwann nicht einmal mehr selbst und darum wird es später das Vorgehen seiner Eltern auch noch verteidigen und schließlich sein Identitätstrauma an seine eigenen Kinder weitergeben, denn selbst früh traumatisierte Eltern werden blind für die Bedürfnisse und die wahren Motive ihrer Kinder.
Diese transgenerationale Traumatisierung, vermittelt infolge einer Gefühlsblindheit, wurde erst durch die Bücher von Sabine Bode Anfang der 2000er Jahre anhand der Kriegstraumata unserer Eltern- und Großelterngeneration einer breiten Öffentlichkeit bewusst gemacht. Dieser alltäglichen — und für viele kaum noch wahrnehmbaren — Traumatisierung wird nun durch den Film und der damit verbundenen Unterstützung der Täteridentifikation — psychoanalytisch: sich vom Opfer seiner Eltern zum Täter machen an den eigenen Kindern — Vorschub geleistet und droht damit das verdeckte Elend einer ganzen Kultur wieder zu vertiefen.
Wer sein Identitätstrauma von der Seele abspaltet und sich unbewusst dazu „entschließt“, selbst Täter zu werden, braucht die Ungerechtigkeiten, die ihm selbst einst widerfahren sind, die eigene Ohnmacht und den Schmerz nicht mehr zu spüren. Er lässt dann andere für sich spüren und leiden, solange bis er bereit ist, sein Trauma anzunehmen und in seine Persönlichkeit zu integrieren. Es braucht sehr viel Mut dazu, sein eigenes Leiden klar wahrzunehmen und viel Feigheit, sich auf die Täterseite zu schlagen (4). Es mag scheinbar Kinder geben, die sind hart im Nehmen, aber nicht ohne Folgen, oder auch Kinder, die keinen starken Willen haben, die sich bereitwillig manipulieren lassen.
Aber es gibt auch Kinder, die genetisch beziehungsweise epigenetisch etwas „vorbelastet“ sind. Das kann entweder genetischer Zufall sein oder aber sie haben auf ihren Genen, mittels eines sogenannten epigenetischen Aktivierungsmusters, negative eigene vorgeburtliche Erfahrungen oder entsprechende Lebenserfahrungen ihrer Eltern und Großeltern gespeichert. Damit haben sie die Fähigkeit, den Finger in die Wunde einer Gesellschaft zu legen, in die sie gerade hineingeboren wurden. Gerade solche emotional hochbegabten Kinder drohen durch solch eine Erziehungsweise nachhaltig Schaden zu nehmen.
Im vorigen Jahr feierten wir den siebzigsten Jahrestag der Verabschiedung der UN-Menschenrechte. In Artikel 1 heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie (…) sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Soll das etwa nicht für Kinder gelten? Und Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention fordert eine Berücksichtigung des Kindeswillens. Ob das Gelsenkirchener Verfahren auf der Stemmann‘schen Basis dem entspricht, kann nur bezweifelt werden. Und schlussendlich, haben Kinder kein Recht auf eine evidenzbasierte Medizin?
Das Kind als Fehler der Natur
Ich möchte es noch einmal wie folgt auf den Punkt bringen: Wir lernen aus dem Film „Elternschule“, dass es angeblich eine natürliche Feindschaft gibt zwischen Eltern und Kind, der zu begegnen sei mit dem behavioristischen Primat: wenn dein Kind nach Zuwendung verlangt, dann beachte die Signale möglichst nicht, denn sonst verstärkst du dieses „unerwünschte“ Verhalten nur noch. Aus den Ausführungen Stemmanns ist deutlich herauszulesen, dass das Verlangen des Kindes nach Zuwendung für ihn ein unerwünschtes Verhalten ist. Er gesteht dem Kind offensichtlich kein naturgegebenes Recht auf Zuwendung zu. Das Motto ist ganz einfach und schnell umschrieben: Kinder auflaufen lassen, bis sie aufgeben!
Um aber wieder auf die Neurodermitis zurückzukommen: Stemmann schreibt in seinem Pamphlet von 2002 auf Seite 78: „Bei chronisch Kranken verkehrt sich hingegen die Wirkung aller Maßnahmen (...) um Heilung zu erzielen (...) obwohl er (der Kranke) verstärkt Zuwendung erhält.“ Und auf Seite 92 weiter: „Die Tatsache, dass die gesamte gesunde menschliche Umgebung durch Zuwendung die Neurodermitis unterhält, ist erschreckend.“ Er sagt sogar, unsere gesamte Gesellschaft verhalte sich kollektiv falsch dem Kind gegenüber und dies sei abzulehnen. Das Kind dürfe niemals seinen Willen gegenüber den Eltern durchsetzen.
Es ist zwar unbestritten, dass es so etwas wie einen angenehmen Krankheitsgewinn gibt, aber er ist nicht die Ursache einer Krankheit und es gibt kein Gesetz, weder ein juristisches oder göttliches noch ein Naturgesetz, das verbietet, es sich oder einem anderen angenehm zu machen. Junge und nichtsahnende Eltern werden also hier unter wissenschaftlichem Anspruch verführt, die berechtigten, natürlichen und lebensnotwendigen Bedürfnisse ihrer Kinder zu ignorieren, indem sie allzu früh und willkürlich unverhandelbare Grenzen setzen. Das ist exakt das, was schon unsere Groß- und Urgroßeltern mit ihren Kindern gemacht haben: die totale Abwertung beziehungsweise Leugnung kindlicher Gefühle und Bedürfnisse.
Selbst wenn man sich hypothetisch einmal der Argumentation, die auch Langer im Film vertritt, anschließen würde und das Kratzen des Kindes tatsächlich als manipulativen Versuch betrachtet, Zuwendung zu erhalten, so ist es doch ganz offensichtlich, dass ein Kind, welches sich derartiger manipulativer Methoden bedienen muss, um seine Grundbedürfnisse zu stillen, ganz eindeutig zu wenig echte, angemessene Aufmerksamkeit und Zuwendung bekommt. In logischer Konsequenz dieser Betrachtungsweise müsste unsere Gesellschaft dem chronisch Kranken jede Hilfe und Solidarität verweigern, da diese Form von „Belohnung für das Kranksein“ die Krankheit selbst, die Schwäche und die Hilflosigkeit nur noch unterstützen würden (vergleiche Stemmann und Stemmann 2002). Wir dürften nicht einmal mehr einem Bettler etwas geben. Das käme in letzter Konsequenz — und Konsequenz ist ja ein hohes Gut in Gelsenkirchen — der Abschaffung des Sozialstaats, zumindest was chronisch Kranke betrifft, gleich.
Die Klinik hat unter Langer und Lion mit den Jahren dieses Konzept der Stemmann‘schen Behandlung von neurodermitischen Kindern nun auch auf Kinder mit anderen Verhaltensauffälligkeiten wie Ess- und Schlafstörungen ausgeweitet — was an sich schon völlig absurd ist: Unterschiedliche Erkrankungen mit ein und derselben Methode zu behandeln, das geht eben nur mit Brachialmethoden. Mit dem Film Elternschule hat sie es dann aus dem „therapeutischen“ Kontext herausgelöst und als allgemeines Erziehungskonzept mitten in die Öffentlichkeit platziert. Damit besteht die Gefahr, dass diese mit negativen Vorurteilen gegenüber Kindern behaftete Haltung in die allgemeinen Erziehungsgrundsätze ganz normaler und gesunder Familien, also in die Gesellschaft selbst, einsickert.
Um sein Vorgehen zu rechtfertigen, bemüht Langer die auf der Lerntheorie und der Verhaltenstherapie beruhende Argumentation, die durchaus — wenn auch in anderem Zusammenhang — mit der etablierten (Erwachsenen-) Verhaltenstherapie konform geht. Doch darf es im Bemühen um eine gesunde und sozialverträgliche Erziehung unserer Kinder niemals zum gesellschaftlichen Konsens werden, die natürlichen Bedürfnisse nach Nähe und Beziehung von Kindern in manipulierender Weise zu ignorieren, sie ihnen sogar in gezielter Art und Weise mit Hilfe einer Art Abhärtungsmaßnahme regelrecht abzutrainieren. Aber genau das befördert der Film.
Wir dürfen unsere Kinder keinesfalls Leuten überlassen, die offensichtlich — wie es mir scheint — gar nicht an das Gute, sondern an das genuin Schlechte im Menschen glauben und ihre Vorurteile gegenüber Kindern in aller Öffentlichkeit ungehindert verbreiten wollen. In ihrem mutmaßlichen Glauben, mit jedem neugeborenen Kind komme das Schlechte wieder neu auf die Welt, machen sie sich blind für das Wesen des Kindes, verkehren seine Motive ins Gegenteil und belegen es mit einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, um das „Böse“ so nur immer wieder neu zu erschaffen. Und wenn sie später merken, dass sie mit ihrer Methode keinen Erfolg hatten, werden solche Leute sagen: Seht ihr, wir haben es ja immer gewusst, wir hätten noch viel härter durchgreifen müssen.
Sie werden nicht nachlassen in ihrem Bemühen, das vermeintlich „Böse“ mit immer nur noch mehr desselben zu bekämpfen. Herbert Renz-Polster drückt es in seinem neuen Buch etwas diplomatischer aus: „Denn im Grunde ist das Bild, das wir uns von unseren Kindern machen, eine Unterabteilung unseres Menschenbildes. Wer seine Mitmenschen als gundsätzlich ,gutwillig‘ empfindet — wird auch deren Kinder als vertrauenswürdig betrachten. Wer dagegen die Menschen als selbstsüchtig und böse ansieht, wird erst recht den Kindern Mängel und Defizite unterstellen“ (5). Darin befinden sich letztere leider in guter Gesellschaft mit politischen Machthabern aller Couleur und wenn wir ehrlich zu uns selbst wären, wüssten wir alle, wo es herkommt. Indem wir unsere Kinder seelisch verstümmeln, erzeugen wir genau das, was wir doch eigentlich bekämpfen wollen.
Darum darf der seit einigen Jahren in vielen Bereichen und auf der ganzen Welt spürbare Versuch, das Rad von Humanismus und Aufklärung wieder zurückzudrehen, nicht nun auch noch in der Kindererziehung Fuß fassen! In den weitaus meisten fachlichen Stellungnahmen zum Film sind sich die Experten einig, dass der Filmtitel irreführend und missverständlich gewählt wurde. Selbst Dietmar Langer betont neuerdings in Interviews immer wieder, der Film sei kein Erziehungsratgeber! Aus diesem Grund müsste meines Erachtens in der Sache Elternschule unser aller vordringliches Minimalziel sein, dass der Film nicht mehr in dieser missverständlichen Weise, nämlich unter dem Titel „Elternschule. Wie gehen wir richtig mit unseren Kindern um?“, unkommentiert und ohne jeglichen Warnhinweis aufgeführt und verbreitet werden darf.
Laut der psychologischen und ärztlichen Leiter, Langer und Lion, arbeitet die Klinik leitliniengerecht. Wenn dem so ist, dann müsste es also auch von den AWMF-Leitlinien zur psychiatrisch/psychologischen Behandlung von Kindern gedeckt sein, ein Kind mit seinem Gitterbett in einen dunklen Raum zu stellen und es die ganze Nacht schreien zu lassen, ohne dass die Mutter zu ihrem Kind darf — wie es in dem Film zu sehen ist. Die Naziärztin Johanna Haarer empfahl genau dies in ihren Erziehungsratgebern bereits im 3. Reich: „Nach wenigen Nächten, vielfach schon nach der ersten, hat das Kind begriffen, dass ihm sein Schreien nichts nützt und ist still“ (6). Wäre es da nicht an der Zeit, diese Richtlinien einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und gegebenenfalls an die heutige Zeit beziehungsweise die neueren Erkenntnisse der Bindungsforschung anzupassen?
Ich befürchte, je mehr Eltern sich die in diesem Film gezeigten Maßnahmen als Erziehungsmethode für ihre Kinder zu eigen machen, umso mehr wird es wieder Mainstream in Deutschland werden, die natürlichen Bedürfnisse und Ängste kleiner Kinder und Säuglinge zu ignorieren und sie nächtelang durchschreien zu lassen bis sie sich aufgeben, und das mit all den spezifischen Nebenwirkungen — schlimmstenfalls über Generationen hinaus. Ich vermute, die wenigsten von uns wünschen sich das. Wir sollten es nicht soweit kommen lassen. Um zu guter Letzt nicht missverstanden zu werden: Bevor Eltern ihre Kinder zu Tode schütteln, sollen sie meinetwegen Hilfe in dieser Klinik suchen, aber als allgemeine Erziehungsrichtlinie oder gar Elternschule taugt dieses Verfahren nicht.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Gerhard Roth, Nicole Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, Klett-Cotta 2018
(2) Ebenda, S.289 ff.
(3) taz 20.11.18 „Wer heilt hat Recht?
(4) vgl. Alice Miller - Am Anfang war Erziehung / Arno Gruen - Wider den Gehorsam
(5) Herbert Renz-Polster, Erziehung prägt Gesinnung, Kösel 2019
(6) Johanna Haarer, Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, 1938, S. 166