Eine Meinung kann nur insoweit als „eigen“ bezeichnet werden, als die Summe der Informationen, die in sie miteinfließen, ein gewisses, individuelles Maß erreicht. Oder konkreter: Neben der reinen Summe spielt auch die Varianz des abgebildeten Informationsspektrums eine zentrale Rolle. Wo liegt diese kritische Informationsvielfalt? Dies empirisch zu quantifizieren ist schwer, doch das Ergebnis eines wahren Informationskriegs zeigt sich etwa in einer Studie der Universität Salzburg, durchgeführt vom Psychologie-Professor und Bewusstseinsforscher Manuel Schabus vom Zentrum für Kognitive Neurowissenschaften, in der unter anderem in Deutschland 3.600 Bürger nach dem Risiko befragt worden waren, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren und anschließend auf einer Intensivstation zu landen.
Wenig überraschend: Die subjektive Gefahr wurde je nach Altersklasse um das 7- bis 38-Fache (!) überschätzt. Auffällig dabei ist, dass besonders junge Menschen zwischen 18 und 29 beziehungsweise zwischen 30 und 39 Jahren ihr Risiko am wenigstens realistisch einschätzen konnten, was sicherlich auch auf das generell stark altersabhängige reale Risiko, schwer an COVID-19 zu erkranken, zurückzuführen ist.
Mit Angst lässt es sich bequem regieren
Doch wie kommt es zu so gravierenden Fehleinschätzungen der Gefahrenlage? Oder ganz ergebnisoffen gefragt: Ist es denn überhaupt schlimm, wenn der Bevölkerung auch noch ein Jahr nach Beginn der Krise größtenteils keine realitätsnahe Einordnung des Risikos möglich ist? In den Augen eines differenziert und kritisch denkenden Bürgers scheint eine unverhältnismäßig verängstigte Bevölkerung nicht gerade vorteilhaft. Wenn es aber darum geht, Politik zu machen, erleichtert einem die Angst definitiv den Alltag. Ein verunsicherter Bürger strebt nach Sicherheit, nach jemandem, der konsequent durchgreift, nach einer klaren Linie ― und gibt dafür gern sein kritisches Denkvermögen ab, wie etwa Erich Fromm in „Haben oder Sein“ schon vor 45 Jahren herausarbeitete:
„Die in der (…) politischen Propaganda angewandten hypnoseähnlichen Methoden stellen eine ernste Gefahr für die geistige und psychische Gesundheit, speziell für das klare und kritische Denkvermögen und die emotionale Unabhängigkeit dar.“
Es fällt nicht schwer, Parallelen zur Coronakrise zu erkennen ― sofern man sich nicht Augen und Ohren zuhält.
Man nehme eine grundlegend auf Emotionalität basierte Nachrichtenvermittlung, geprägt durch dramatische Bilder, füge Horrorszenarien und Modellrechnungen ausgewählter (!) Wissenschaftler sowie moralisierende Reden an, vermische alles mit Grundkenntnissen der Massenpsychologie (Gustave Le Bon), und schon entsteht eine Welle der Solidarität „im Krieg“ gegen das Virus.
Die Pandemie der Wort-Perversion oder Orwell‘sches Neusprech à la 1984
Der Begriff Solidarität, in meinen Augen eines der Unworte des Jahres, gehört seit März 2020 fast schon zum täglichen Gebrauch. Doch was heißt Solidarität denn eigentlich? Eine geläufige Definition könnte lauten: „Solidarität beschreibt ein bewusstes, intrinsisch motiviertes Verbundenheitsgefühl basierend auf gemeinsamen Werten und Zielen.“ Kann man demnach noch von Solidarität sprechen, wenn diese zu nicht unerheblichen Teilen auf einem hohen Maß an irrationalen Fehleinschätzungen der Realität basiert?
Kann man mit Recht von Solidarität sprechen, wenn man Menschen fast weltweit für das angeblich Gute instrumentalisiert und dabei ― laut inzwischen in Fülle vorhandenen, nahezu radikal verschwiegenen wissenschaftlichen Studien und Abschätzungen ― weitaus mehr Schaden anrichtet, als man abzuwenden vorgibt? Wie kann es sein, dass man zum Zwecke der „Gesundheit“ moralisiert und doch mittels fast weltweit größtenteils akzeptierter Lockdowns und anderer Maßnahmen laut den Vereinten Nationen oder Oxfam weitaus mehr Menschen in Armut schickt, als etwa Deutschlands Bevölkerung umfasst?
Transkribiert in Orwell’sches Neusprech könnte man sagen: „Gesundheit ist Krankheit“ oder „Gesundheit ist Armut“.
Und dass zwischen Armut und erhöhter Todesrate ein signifikanter kausaler Zusammenhang besteht, ist im Vergleich zum verbreiteten Narrativ „Lockdowns retten Leben“ ― wenn auch erst einmal vorstellbar, aber inzwischen schon mehrfach widerlegt – keine Falschmeldung.
Wie kann es sein, dass Menschen, die auf in der Geschichte einmalige Grundrechtsübertritte und eklatante Mängel in der Nutzen-Risiko-Abwägung von gravierend einschneidenden Maßnahmen hinweisen und infolgedessen auf eine realitätsnahe Verhältnismäßigkeit der Politik pochen, in einem geschichtsgeprägten Land plötzlich als Nazis und Leugner diffamiert werden? Wie kann es sein, dass in einem vermeintlich so aufgeklärten Land friedliche Demonstrationen medial derart verzerrt aufbereitet werden, die furchtbaren Geschehnisse aus dunklen Zeiten derart instrumentalisiert und relativiert werden, dass Menschen mit Hass auf allergrößtenteils friedliche Demonstranten aufgehetzt werden?
Woher kommt dieser Gehorsam, der sogar darin mündet, dass Vertrauen in mediale Berichterstattung mehr Gewicht erhält als das Vertrauen in engste menschliche, freundschaftliche oder gar familiäre Beziehungen und die Macht hat, diese Beziehungen nachhaltig zu beschädigen? Kann dabei nicht etwa eine irrational hohe Angst, eine Klammerung an eigene Vorstellungen von Realität, an das eigene Weltbild, das Vertrauen in die Politik, der es doch angeblich um die Gesundheit geht, eine signifikante Rolle spielen? Oder habe ich auch hier versäumt, Neusprech zu lernen, denn „rechtsextrem“ steht nun in Wirklichkeit für „demokratisch“?
Deutschland, eine tolerante Gesellschaft?
Es könnte auch der Eindruck entstehen, ein Zeitalter des Desinteresses sei angebrochen. Ein Zeitalter des schein-solidarischen Egozentrikers, des bequemen, neugierdelosen Weltbild-Erhalters, der die Ohren nur für Dinge öffnet, die eine geringstmögliche Neuorientierung bedeuten. Zugegeben etwas provokativ, aber umso eindringlicher formulierte es Berthold Brecht einmal: „Unsichtbar macht sich die Dummheit, indem sie sehr große Ausmaße annimmt.“ Ist eines der Hauptprobleme der Deutschen, dass sie sich und ihre Einstellungen zu wichtig nehmen? Dass man von Offenheit und Toleranz spricht, aber unterbewusst in potenziell Weltbild-erschütternden Angelegenheiten absolut reziprok dazu agiert? Steht „Toleranz“ inzwischen für „intellektuelle Selbstisolation“?
Trust the Science!
Zu Beginn der Coronakrise war ich stolz auf den eingeschlagenen Weg. Endlich hörte die Regierung auf die (!) Wissenschaft. Wenn das doch schon im letzten Jahrzehnt der Fall gewesen wäre! Womöglich wären wir dann immer noch Weltmarktführer in der Solarindustrie. Womöglich wären unsere Kohlekraftwerke schon längst alle vom Netz und Deutschland inzwischen einen großen Schritt näher an der Emissionsfreiheit. Dachte ich. Doch dann kamen die Leugner ― pardon, die differenzierten Denker. Und schnell wurde sichtbar, dass „trust the science“ die abgekürzte Version ist von „trust science executed only by scientists propagating our policies despite having apparent deficiencies sticking to the scientific method” (deutsch: “Vertraue nur den Wissenschaftlern, die politisch auf Linie der Regierungen sind, obwohl sie offenkundig große Schwierigkeiten dabei haben, nach wissenschaftlichen Kriterien zu arbeiten.“). Letzteres wäre auch einfach zu lang und dem unmündigen Bürger nicht zuzutrauen gewesen.
Eine klare Sache, eigentlich, dass es den scheinbar so überwältigenden wissenschaftlichen Konsens nicht gibt, der uns präsentiert wurde. Doch so sichtbar, wie es bei unvoreingenommener Betrachtung scheint, war die Sache dann leider doch nicht. Warum sollte jemand auf Wissenschaftler hören, die von den Vertretern des scheinbaren Konsenses als Verschwörungstheoretiker tituliert wurden? Stimmt, gerade deswegen! Doch statt dem nachzugehen, radikalisierte sich ein Großteil der Bevölkerung und verschrieb sich der Meinungsdiktatur. Trust the science!
Das Spiel mit den Zahlen
Was nach einem Jahr bleibt, ist durchaus beachtlich. Eine Nation, die sich als Musterschüler in Sachen Bildung sieht, lässt sich auf der Nase herumtanzen und versteht noch nicht einmal, dass eine Standardisierung des Grenzwerts für die PCR-Methodik nach wie vor nicht erfolgt, geschweige denn transparent kommuniziert ist. Wer reales exponentielles Wachstum beobachten will, der sollte sich eine Polymerase-Kettenreaktion anschauen. Mit jedem Zyklus, ausgedrückt im Ct-Wert, verdoppelt sich die detektierte Viruslast.
Erwähnte etwa die Epidemiologin Angela Spelsberg in der Talkrunde eines österreichisches Fernsehsendern Ende August einen sinnvollen Grenzwert bei 24, ist im Corman-Drosten-Papier, das zu Beginn der Krise in weltrekordverdächtiger Schnelle durch das Peer-Review kam, von bis zu 45 Zyklen die Rede. Schwellenwert? Fehlanzeige. Transparenz? Mangelware. Wo der goldene Schnitt zwischen positiv und negativ liegen soll, vermag ich als Laie nicht zu sagen. Viele Stimmen sprechen von einem sinnvollen, vermutlich recht defensiven Ct-Wert, der um eine Zyklenzahl von 30 liegen sollte.
Doch was auch Laien inzwischen klar sein müsste: Ob man der Orientierung Spelsbergs recht gibt oder weitere 21 Zyklen durchführt und somit etwas metaphorisch ausgedrückt das Bild weitere 2.097.152-mal (!) vergrößert, ist womöglich nicht gerade irrelevant ― wäre es bei der Festsetzung von Promillegrenzen im Straßenverkehr wohl auch nicht, um es etwas plakativer zu sagen. Und das ist nur ein Aspekt des an vielen Stellen inkonsequenten Spiels mit den Zahlen.
Der Infektiologe und Medizinprofessor Matthias Schrappe drückte sich im Kontext der Teststrategie des Robert Koch-Instituts (RKI) in einem ZDF-Interview im November klar aus: „Diese Zahlen sind (…) das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben ist.“ Er fügte an: „Und schon gar nicht können Sie damit politisch steuern.“ Doch wie so oft gilt auch hier: An der Ignoranz und Selbstverherrlichung unserer Regierung und Regierungsinstitutionen perlen solche klaren Worte ab, und kritische Fragen in der Bundespressekonferenz nach der Aussagekräftigkeit der aktuellen Test-Strategie werden schlicht nicht klar beantwortet. Stattdessen hat man den Eindruck, Inzidenzgrenzen werden gewürfelt, wenn man etwa einen Lothar Wieler sagen hören muss, dass ein Wert von zehn „cool“ wäre.
Gleichzeitig ist auf der Website des Gesundheitsministeriums die Definition einer seltenen Erkrankung wie folgt nachzulesen: „In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen in der EU von ihr betroffen sind.“ Was bei über 6.000 anderen Krankheiten als selten bezeichnet wird, definiert im neuen Zeitalter des Homo Hygienicus die Grenze zum Corona-Risikogebiet. Dunkelziffer hin oder her, hier soll es um die Größenordnung gehen. Zweierlei Maß, ein Thema, das in den letzten zwölf Monaten ganze Bücher hätte füllen können.
Bei allem Respekt und dem nötigen Ernst, der im Umgang mit der Erkrankung COVID-19 angebracht ist: Es ist erschreckend, wie inkonsequent, intransparent und auch inkompetent die „Causa Corona“ breitgetreten wird und ein Großteil der Bevölkerung angesichts der scheinbaren Ohnmachtsstarre ihr kritisches Denkvermögen (siehe oben Zitat Erich Fromms) über Bord geworfen hat, für das eine solche Vorführung wohl ― im wahrsten Sinne des Wortes – absolut fantastisch wäre.
Unterm Strich
Ein Land der Dichter und Denker transformiert zu einem Land, in dem der Debattenraum und das Denken eindimensional zu sein scheinen. Unter dem Strich wird Leben mit Leben abgewogen, die ignorante Wohlstandsgesellschaft will es nur nicht wahrhaben.
Unter dem Strich ist die Regierung gescheitert beim Schutz der älteren Bevölkerung, zeichnet sich aber durch mangelnde Fehlerkultur aus und zeigt lieber mit dem Finger auf andere, die das von sich in einer differenzierten Reflexion zugeben wie Schweden, das auf der anderen Seite aber weniger Leid verursacht durch die Überdosierung einer Medizin ― als die der Lockdown und etwaige Maßnahmen bezeichnet werden können ―, die jegliches Maß verloren hat.
Unter dem Strich trainiert man der heranwachsenden Generation noch schneller den Humanismus ab, als dies eine noch so konsumorientierte und verschwenderische Gesellschaft zuvor ohnehin schon getan hätte (Hirnforscher Gerald Hüther über sogenannte hemmende Verschaltungen).
Unter dem Strich macht man unter dem Deckmantel des Gesundheitsschutzes eine Gesellschaft nachhaltig krank.
Unter dem Strich spielt man Gesellschaftsgruppen, die nüchtern betrachtet doch eigentlich sehr ähnliche Interessen haben, durch eine radikal unausgewogene öffentliche Abbildung des Meinungsspektrums gegeneinander aus ― in der Hoffnung auf den Gruppenzwang des Menschen, der lieber als identitätsloser Charakter dazugehören möchte, als wegen „politisch inkorrekten“ Überzeugungen ausgegrenzt zu werden.
An dieser Stelle frage ich mich ernsthaft: Geht es uns zu gut? Oder präziser: Werden wir denken gemacht, dass es uns zu gut geht? Haben wir ein schlechtes Gewissen ob unseres ausbeuterischen Lebens auf Kosten weniger privilegierter Menschen? Stimmen unsere humanistischen Bedürfnisse und Wünsche mit unserem Handeln überein, oder belügen wir uns selbst? Haben wir die Verbindung zum Leben mit all seinen Facetten verloren?