Die Aussicht von meinem neuen Balkon aus ist unglaublich. Ich döse in der Sonne und genieße den Blick auf die Dorfkirche und die hinter den Ziegeldächern thronenden Berge und Felswände von Alaró. Bedrückende Melancholie liegt auf mir. Mein Gehirn gibt einfach keine Ruhe. Immer wieder diese bedrängenden Fragen nach dem Sinn. Nach dem, was das Leben lebenswert macht. Was wir hier als Menschheit veranstalten. Was ich in diesem absurden Theater soll.
Malen hilft. Schreiben auch. Zu beidem habe ich aber gerade keine Lust. Ich fühle mich schlapp und müde. Also greife ich zur Autobiografie von Kerstin Chavent, die ich schon seit Ewigkeiten lesen möchte: „Was wachsen will, muss Schalen abwerfen“. Ihre Biografie beginnt sie mit einem Erlebnis in Südfrankreich, wo sie mitten in der Natur einer unbekannten Frau begegnet und ihre Geschichte erzählt.
Meine Müdigkeit verfliegt und ich gehe mit Kerstin auf Reisen in ihre Vergangenheit. Alfred Hitchcock soll gesagt haben: „Das Drama ist ein Leben, aus dem man die langweiligen Momente herausgeschnitten hat.“ Im Fall meiner Kollegin und Freundin Kerstin Chavent scheint es eher so, dass ihr Leben eine Aneinanderreihung vieler Dramen ist, von denen sie sich jedoch nie hat bremsen lassen. Im Gegenteil. Sie suchte das Drama förmlich, glaubte an die große Liebe wie im Film — immer wieder — und sagte nach jeder Verletzung erneut Ja zum Leben.
Auf nicht einmal einhundert Seiten fasst sie ihre Lebenserfahrungen lebendig und rührend aufrichtig zusammen. Während ich ihre Zeilen lese, lösen sich meine Fragen nach dem Sinn in Luft auf, und ich fühle, was sie dort beschreibt ist das Leben.
Kerstin lebt vor, was es heißt, mutig seinem Herzen zu folgen, und auch die Verantwortung für die Enttäuschungen zu übernehmen, die sie immer wieder erlebte.
Sie zeigt, dass es nie falsch sein kann, da sie wirklich lebte, anstatt sich direkt, ohne über Los zu gehen, in die unlebendige Sicherheit eines mittelmäßigen Lebens einsperren zu lassen.
Ich identifiziere mich mit ihren Ängsten davor, zu einem lebenden Toten zu werden. Zu einem Menschen, der „das falsche Leben“ lebt, wie Hans-Joachim Maaz es in seinem gleichnamigen Buch beschreibt. Woher wissen wir, ob wir das falsche Leben leben? Falsch meint hier „fake“, unecht.
Immer wieder zog es Kerstin ins Ausland — nach Spanien, nach Frankreich. Doch sie kehrte jedes Mal nach Deutschland zurück, als das Leben, das sie sich in der Ferne aufgebaut hatte, zusammenbrach. Sie versuchte ein „vernünftiges“ Leben in Deutschland, doch fühlte sich damit einfach nicht glücklich.
Niemand verstand, warum sie nicht die verführerische Sicherheit wählte, die zu ihren Füßen lag. Und doch brachte sie den Mut auf, eine Stelle als Beamtin unter idealen Bedingungen abzulehnen. Diese Entscheidungen fallen niemandem leicht und ich kenne wenige, die so gehandelt hätten wie Kerstin.
Viele Menschen sagen, sie würden gern anders leben, aber folgen trotzdem nicht ihrem Herzen, sondern der Vernunft und rechtfertigen ihre Entscheidung dann mit vielen Argumenten.
Im Gegensatz zu ihnen beschreibt Kerstin ihre damalige Situation so:
„Ich kann mich nicht länger vor einer endgültigen Entscheidung drücken und muss Farbe bekennen. Ich will nicht! Alle waren so nett zu mir und ich will niemanden enttäuschen! Doch ich kann hier nicht bleiben! (…) Ich weiß, dass von dieser Entscheidung mein Leben abhängt. Ich weiß auch, dass es für mich nur eine Richtung gibt. (…) Als es endlich so weit ist, teile ich meinem fassungslosen Schulleiter auf der anderen Seite des Schreibtischs mit trockener Kehle, doch mit fester Stimme mit, dass ich diesen Vertrag nicht unterzeichnen werde. (…)
Nach sechs Monaten Hamburg bin ich mit fliegenden Fahnen, jubelndem Herzen und ohne die geringste Ahnung, wie ich mein zukünftiges Leben einrichten würde, wieder in den Süden zurückgefahren. Vor mir lag ein weites, leeres Feld der Unsicherheit. Doch ich spürte, dass ich genau das Richtige tat. Alles war wieder möglich!“
Auch ich bin bisher immer meinem Herzen gefolgt und nie der Vernunft, einfach weil meine Angst vor einem „sicheren Leben“ größer war als die aufregende Unsicherheit. Das ist natürlich eine Sache der Persönlichkeit. Gleichzeitig treffe ich immer wieder diese Menschen, die sagen, sie wünschten sich ein anderes Leben, sich dieses aber versagen. Und ich verstehe einfach nicht, warum?
Ist es unsere Erziehung? Unsere Gesellschaft, die uns einredet, dass das Leben nun einmal so oder so sei, und sind Menschen, die ihr Leben anders gestalten, einfach die Ausnahme? Dass andere nur auswandern, ihren Job kündigen, ein neues Projekt starten oder sich ein Leben in der Natur gönnen können, weil sie einfach Glück haben?
Alle diese Vorurteile und „Ausreden“ fegt Kerstin Chavent mit ihrer eigenen Lebensgeschichte zur Seite. Was bedeutet ein glückliches Leben? Was bedeutet das „Richtige“ tun? Es kann nur eine Antwort geben: dem eigenen Bauchgefühl vertrauen. Es ist keine leere Phrase, sondern gelebte Lebendigkeit.
„Nicht vor dem Tod sollten wir uns fürchten, sondern vor dem ungelebten Leben“, schrieb Jens Lehrich in seinem Artikel „Die Magie des Lebens“.
In ihrem Buch „Was wachsen will, muss Schalen abwerfen“ inspiriert Kerstin Chavent die Leser, genau dieser Furcht vor dem ungelebten Leben ins Auge zu blicken und ihr letztendlich in die Freiheit zu folgen, unser Leben so zu gestalten, wie es uns erfüllt.
Eine willkommene Abwechslung zu Lebensratgebern voller Tipps und Theorie. Eine wahre Lebensgeschichte über die Liebe, über Begegnung und Trennung, über einen unerfüllten Familienwunsch, über finanzielle Ungewissheit und die Suche nach einem Platz in der Welt und nach beruflicher Erfüllung und über das Überwinden von Krankheit. Eine Geschichte voller Leben.
Ich lese das Büchlein in einem Zug durch. Als ich es zuklappe, haben sich meine Gedanken beruhigt. Ich fühle mein Herz schlagen und habe endlich für eine Weile keine weiteren Fragen. Es ist, was es ist, sagt das Leben.