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Die innere Hochzeit

Die innere Hochzeit

Selbstliebe ist die Voraussetzung dafür, der Welt und unseren Mitmenschen das zu geben, was sie am meisten benötigen.

Ohne Liebe ist alles nichts. So heißt es seit biblischen Zeiten. In der Benutzung des Wortes machen wir keinen Unterschied zwischen Menschen und Dingen, zwischen der Liebe unseres Lebens und einer Pizza. Das Altgriechische ist da präziser: Es unterscheidet Eros — die romantische Liebe —, Ludos — die erobernde Liebe —, Storge — die freundschaftliche Liebe — und die sich daraus ableitenden Untergruppen Pragma — die zweckmäßige Liebe —, Mania — die besessene Liebe — und Agape — die selbstlose Liebe.

In der aktuellen Forschung unterscheidet der britische Psychologe Tim Lomas 14 „Geschmackssorten“ in der Liebe. Er analysierte für sein Projekt hunderte Wörter in über 50 verschiedenen Sprachen (1). Meraki etwa ist die Leidenschaft für Aktivitäten und Choros die für Orte. Es gibt Worte für die Heimatliebe, für die fürsorgende Liebe, die mitfühlende Liebe, die Liebe unter Freunden, die göttliche Liebe und die Selbstliebe.

Selbstliebe hat für viele einen befremdlichen Beigeschmack. Ist es nicht egoistisch, sich selbst zu lieben? Leidet unsere Gesellschaft heute nicht vor allem daran, dass wir uns zu sehr auf uns selbst konzentrieren? Noch zweifelhafter erscheint da nur die Feindesliebe. „Liebe deine Feinde, heißt es im neuen Testament. Hier wird es richtig kompliziert.

Vergleichen statt gleich sein

Und so beschäftigen wir uns meistens weniger mit der Liebe, die wir zu geben haben, als mit der, die wir zu empfangen wünschen. Wir wollen von anderen gemocht und anerkannt werden und die wenigsten geben sich mit Meraki und Choros zufrieden. Wenn die eine, die große, romantische, leidenschaftliche Liebe nicht kommt, dann wollen wir wenigstens freundschaftlich geliebt werden. Oder wenigstens akzeptiert. Respektiert. Und wenn das auch nicht klappt, dann soll man uns zumindest fürchten.

Ohne Bindung ist alles nichts. Wir können nicht sein ohne die anderen. Nur über die Saiten, die sie in uns anschlagen, erkennen wir uns selbst.

Doch anstatt uns auf unser Instrument zu konzentrieren, lassen wir uns Messlatten anlegen und in Skalen einordnen. So haben wir es ja auch von Anfang an gelernt. Seit frühesten Kindertagen verbringen wir unser Leben damit, uns mehr oder weniger freundlich gegeneinander auszuspielen.

Hier geht es vor allem um Komparative und Superlative. Ich will besser sein als du, schneller, stärker, sportlicher, liebenswerter, unkomplizierter, sensibler, großzügiger. In jeder Lebenslage versuchen wir, uns gegenseitig zu überholen. Ein paar von uns greifen nach den Plätzen ganz oben, an der Spitze einer der Pyramiden, die wir überall aufgestellt haben. Hier wähnen sie sich über alle anderen erhaben. Sollen die da unten doch herumkrepeln, wenn die sich das gefallen lassen. Es muss schließlich auch Verlierer geben.

Ganz oben

Wer sich auf andere stützt, um selbst grösser zu wirken, der hat für sich selbst nicht viel übrig. Er traut sich nicht einmal, den anderen auf Augenhöhe zu begegnen. Mit großer Wahrscheinlichkeit haben Mutter oder Vater diesen Menschen während ihrer Kindheit ihre Liebe und Anerkennung verwehrt. Um mit dem Schmerz leben zu können, versuchen sie zu erhaschen, was ihnen doch niemand geben kann als sie selbst.

Damit niemand merkt, wie wüst und leer es in ihnen aussieht, müssen sie zumindest von außen gesehen ordentlich etwas hermachen. Sie verstecken sich hinter Erfolg, Macht und materiellen Werten und bleiben dabei doch immer hungrig. Denn sie haben nie gelernt, aus sich selbst heraus zu schöpfen. Sie brauchen die anderen, um sich von ihnen zu ernähren. Wie Vampire auf der Suche nach frischem Blut sind sie darauf angewiesen, andere auszusaugen, zu manipulieren, zu unterdrücken, zu misshandeln, zu zerstören. Nie finden sie Ruhe. Unerbittlich hält sie die Angst im Griff, die Krücken zu verlieren, die sie sich herbeigesucht haben.

So bestehen die Eliten, die Menschen ganz oben, die danach trachten, sich das Lebendige untertan zu machen, vor allem aus kleinen, traurigen, verlassenen Kindern.

Sie haben in ihrer Kindheit zu wenig Liebe bekommen, um sich selbst zu lieben, und müssen sich nun ein Leben lang beweisen. Sie sind ebenso traumatisiert wie all jene, die sich deren zerstörerische Machenschaften gefallen lassen und sich ihnen nicht entgegenstellen. Am Zustand unserer Welt können wir erkennen, wie vielen von uns es an Selbstliebe mangelt.

Aufeinander zugehen

Wer sich selbst liebt, der muss sich nichts beweisen. Er muss nicht besser sein als andere. Er muss nicht andere anklagen und sich selbst rechtfertigen. Er erhebt sich nicht über andere und muss nicht einkaufen gehen, um seine Fassade zu polieren. Er achtet die anderen, weil er begriffen hat, dass wir alle gleich sind, aus demselben Holz geschnitzt. Er schützt das Lebendige, weil er weiß, dass er Teil seiner Umwelt ist und nur leben kann, wenn es dem Gesamten gut geht.

Er glaubt nicht die Geschichten vom Mangel. Er lässt nicht zu, dass sein Lebensraum dafür zerstört wird, dass überall auf der Welt Einkaufszentren aufgestellt werden, in denen es schön blinkt. Er geht einfach nicht mehr dort einkaufen und auf seinen Nachbarn zu. Mit ihm zusammen legt er Gärten an, pflanzt Bäume, Kräuter, Obst und Gemüse. Er setzt sich mit ihm an einen Tisch, ganz egal, was er vorher gemacht hat und ob er Vampir oder Mitläufer war. Denn er hat verstanden, dass jede Art von Spaltung unsere Probleme nicht lösen wird.

Verzeihen lernen

Um das umsetzen zu können, müssen wir verzeihen: jenen, die sich uns entgegenstellen und nicht so wollen wie wir, und in letzter Konsequenz auch jenen, die unser Leben und das aller Lebewesen auf unserem Planeten aufs Spiel setzen. Bedingungslose Liebe lässt niemanden draußen stehen. Das ist starker Tobak. Doch die größte Herausforderung steht uns noch bevor: Wir müssen uns selbst verzeihen, die zu sein, die wir sind. Wir müssen lernen, nicht nur mit dem Teil in uns auszukommen, der wir sein wollen, sondern auch mit dem, was wir in diesem Moment sind.

So wie ich jetzt bin, so ist es in Ordnung. Ich erkenne in mir das Stachelige, Verhärtete, Strenge, Unnachgiebige, Hochmütige an, das Launische, Gierige, Kleinliche, Eifersüchtige, Neidische, Unsichere, Nachtragende, Aufgebrachte, Aggressive, Rastlose, Verzweifelte, Traurige, ... — all das Ungeliebte in mir, was ich nicht haben will. Nur so kann ich in mir Frieden finden und nur so werde ich den Frieden auch nach außen tragen können.

Wenn ich aufhöre, um mich zu schlagen, mich zu rechtfertigen und zu verteidigen, dann kann ich erkennen, was sich hinter all meinen Abwehrmechanismen verbirgt: das Gefühl einer tiefen Schuld.

Unterschwellig fühle ich mich schuldig dafür, eine unwürdige Mutter zu sein oder als Vater versagt zu haben, in meinen Partnerschaften zu scheitern und beruflich keinen Erfolg zu haben, den Erwartungen der Eltern nie gerecht geworden zu sein, zu dünn zu sein oder zu dick, zu schnell oder zu langsam, und es bei all dem nicht mal zu schaffen, den Kopf klar zu kriegen und anständig zu meditieren.

Nur die Kraft der Liebe vermag uns Zugang zu dem verletzten Wesen in uns zu verschaffen und die tiefen Wunden zu pflegen, die über viele Generationen hinweg in uns gerissen wurden. Liebe kann das. Liebe, das sind keine Geigen am rosa Himmel oder balsamierende Worte zum Sonntag. Liebe, das ist der Mut, im Dreck zu waten und darauf zu vertrauen, dass irgendwo das Licht ist. Liebe gibt uns den Mut, einen Schritt ins Leere zu setzen und alles zu wagen. Liebe ist ein Orkan, ein Erdbeben, ein Vulkanausbruch und ein Flächenbrand auf einmal. Sie macht vor nichts halt, auch nicht vor dem Schlimmsten.

Von der Dualität zur Einheit

Für das Ego ist das ein harter Brocken. Denn für den Teil in uns, der uns Konturen gibt, ist lieben wie sterben. Wenn wir lieben, akzeptieren wir es, uns etwas Größerem hinzugeben, was uns übersteigt. Die Grenzen zwischen innen und außen, ich und du verwischen. Wir lösen uns auf. Es ist, als fiele ein Wassertropfen ins Meer. An seinem Wesen verändert das nichts. Aber er kann sich nicht mehr mit seinen Formen identifizieren.

Was für das Ego wie der Tod aussieht, ist für das liebende Selbst eine Hochzeit, bei der die Gegensätze sich miteinander vermählen. Sie gehen aufeinander zu, schließen sich in die Arme und erkennen, dass sie in Wirklichkeit zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Während in der dualen Welt, der Welt der Relativität, die Dinge sich misstrauisch und oft einander ausschließend gegenüberstehen — Mann und Frau, Stärke und Weichheit, Körper und Geist — führt die Liebe in die Welt der Einheit.

1 + 1 = 3

Aus der Vereinigung gleichwertiger Teile heraus kann etwas Neues geboren werden. Die Mutter öffnet die Arme und gibt dem Kind das uneingeschränkte Gefühl, willkommen zu sein. Der Vater erkennt es in seiner Ganzheit an und gibt ihm die Orientierung, sich in voller Größe aufzurichten. In der Erfüllung des mütterlichen und des väterlichen Prinzips treffen sich die Horizontale und die Vertikale und bilden das Kreuz, an dem vor 2000 Jahren unsere Zivilisation entstand.

Heute halten viele den Christus, den Kristall, der das Licht durch sich hindurchscheinen ließ, für einen Schwächling, der nicht den Mut hatte, sich zu wehren. Er war so blöd, seinen Angreifern beide Wangen hinzuhalten. Er kannte weder Hass noch Vergeltung und verteidigte sich nicht, als man ihm den Prozess machte. Sein Körper starb und eine neue Religion wurde geboren, als er von seinem Kreuz herunterrief: „Vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.“

An einem Tisch zusammenkommen

Im Gegensatz zu damals können wir heute genau wissen, was wir tun. Wir haben uns aus der Sklaverei befreit, Frauen und Männern die gleichen Rechte zugesprochen und alle zusammen lesen gelernt. Wir haben Zugang zu den Informationen, die wir brauchen, um zu erfahren, was gerade in unserer Welt geschieht. Wir wissen um das Unrecht und wir kennen seine Verursacher. Vor allem aber haben wir die Macht, die Dinge zu verändern. Wenn wir es wollen, können wir dem Lebensvernichtenden sofort ein Ende machen und aus der Hölle ein Paradies.

Dieses Geschenk können wir dem neugeborenen Kind in der Krippe machen, und mit ihm jedem Kind, das auf diesem Planeten geboren wird.

Wir können uns daran erinnern, dass Weihnachten ein Fest der Liebe ist, eine Einladung, das Kind zu lieben: das Kind, das wir selbst waren, die hungernden Kinder, die Kinder, die protestierend auf die Straße gehen, das verletzte Kind in jenen von uns, die zu Verbrechern geworden sind, und das unschuldige Kind, das in uns allen darauf wartet, in die Arme genommen zu werden.

Mit dem Kind zusammen können wir zu Tisch gehen. Alle kommen bei diesem Festmahl zusammen: Familie, Freunde, Fremde. Alle tragen etwas dazu bei. Jeder bringt mit, was er selbst zubereitet hat. Alle zusammen empfangen wir das Geschenk des gemeinsamen Essens. Voller Dankbarkeit, Genuss und Freude teilen wir Agape, das Liebesmahl, die höchste Form der Liebe, in der das Körperliche sich mit dem Geistigen verbindet, die Erde mit dem Himmel.

Und während es uns himmlisch schmeckt, sehen wir uns an unserem Tisch um. Alle sind sie gekommen: Eros, Ludos, Storge, Pragma, Mania, Meraki, Choros und all die anderen Formen der Liebe. Wir können nicht schlecht lieben. Es fehlen uns vielleicht nur die Worte für das, was wir empfinden, wenn sich unser Herz öffnet. Mag unser Fühlen auch zögerlich sein, unsicher, ungeduldig, ungeschickt — es ist, was es ist: Liebe.



Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.researchgate.net/publication/322241158_The_flavours_of_love_A_cross-cultural_lexical_analysis

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