Der Evangelische Pressedienst berichtet (1) dieser Tage, dass Forschern der dortigen Universitäten etwas gelungen sei, was ein weniger zurückhaltendes Medium vermutlich als „spektakulären Durchbruch“ bezeichnet hätte. Der „Sprachtechnologe“ Tom De Smedt aus Antwerpen und die „Medienlinguistin“ Sylvia Jaki aus Hildesheim haben nämlich „eine neue Technologie entwickelt, die deutschsprachige Hassbotschaften in sozialen Medien erkennen“ kann. Das Computerprogramm sei in der Lage, „in Echtzeit hetzerische Wörter und Wortkombinationen in Twitter-Botschaften“ zu identifizieren.
„Die Software lernt selbstständig, Hasskommentare aufzuspüren, und kann auch mit der Tatsache umgehen, dass sich die Sprache des Hasses sehr schnell verändert“, erläutert Tom De Smedt. „Wir haben unser Programm bereits getestet: In 80 Prozent der Fälle liegt es richtig.“
Die Forscher räumen zwar ein, dass Twitter seit 2016 bereits Hunderttausende Profile wegen „Hate Speech“ blockiert habe, machen aber darauf aufmerksam, dass bislang ganz überwiegend englischsprachige Tweets ins Netz der Ermittler gegangen seien. Vergleichbare deutsche, französische oder niederländische Botschaften seien hingegen weitgehend unbemerkt geblieben.
Was die deutschen Hasskommentare angeht, so hat das Rechenprogramm herausgefunden, dass sie sich „häufig gegen Flüchtlinge aus Afrika, Muslime, Juden und einige andere Bevölkerungsgruppen wie gebrochen Deutsch Sprechende, Obdachlose oder Linksextremisten richten“. Geradezu typisch seien folgende Ausdrücke der Gewalt: „schlagen“, „schießen“, „überfallen“, „bekämpfen“. Dazu natürlich der Klassiker: „Widerstand“. Und keinesfalls vergessen dürfe man Beschimpfungen wie „Scheißdeutschland“. Schließlich: Auch die nonverbale Kommunikation – also Bilder oder Emojis – gelte es zu berücksichtigen.
So beachtenswert die Erkenntnisse der Forscher zweifellos sind und so sehr sie im Einklang mit den Bestrebungen des Netzwerkdurchsuchungsgesetzes stehen mögen – ein paar kritische, allerdings durchweg konstruktiv gemeinte Anmerkungen seien erlaubt.
Zunächst: Tom De Smedt und Sylvia Jaki gehören zu einer noch relativ jungen Forschergeneration. Solche Menschen laufen infolge ihrer Unbedarftheit immer Gefahr, das Rad neu zu erfinden. Es mangelt ihnen in der Regel an fundierten historischen Kenntnissen. Und mit den Klassikern der Literatur sind sie, wenn überhaupt, nur unzureichend vertraut.
Wäre es anders, hätte der Begriff „Scheißdeutschland“, spätestens aber die Erkenntnis von der Bedeutung nonverbaler Kommunikation bei De Smedt und Jaki unwillkürlich Assoziationen wecken müssen. Ein halbwegs gebildeter Mensch hätte sich sofort an Jonathan Swifts Roman Gullivers Reisen erinnert (1726 erschienen) und daran, dass schon damals verantwortungsbewusste Wissenschaftler mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert waren wie jetzt De Smedt und Jaki. Und dass sie schon damals Lösungsansätze entwickelten, die auch heute noch von Nutzen sein könnten.
So erzählt Lemuel Gulliver – erst Schiffsarzt, dann Kapitän mehrerer Schiffe – im dritten Teil seines Reiseberichts, wie er auf die Insel Balnibarbi verschlagen wird. In der Hauptstadt Lagado wird ihm die Ehre zuteil, die große Akademie des Landes zu besichtigen und aufschlussreiche Gespräche mit dort tätigen Professoren zu führen.
Nun war der Begriff „Hate Speech“ seinerzeit zwar noch unbekannt. Nicht aber das eigentliche, das große, das im Hintergrund lauernde Problem: staatsfeindliche Umtriebe, Komplotte, Verschwörungen. Und schon damals suchten die Gelehrten nach Mitteln und Wegen, wie ihnen beizukommen wäre.
Einer der Akademie-Professoren zeigte sich besonders erfinderisch oder – wie man heute sagen würde – innovativ. Er hatte eine umfangreiche Abhandlung zum Thema verfasst, die er Gulliver zu lesen gab und die dieser als „stilistisch einwandfrei und höchst scharfsinnig“ charakterisiert.
Er rekapituliert sie wie folgt:
„Er [der Professor] schlug den Staatsmännern vor, die Speisen verdächtiger Personen zu untersuchen, ihre Essenszeiten zu überwachen, zu erforschen, auf welcher Seite sie schliefen, mit welcher Hand sie sich den Hintern abwischten, und schließlich ihre Ausscheidungen zu prüfen, um sich nach deren Farbe, Geruch, Geschmack, Beschaffenheit und dem Grad der Verdauung ein Urteil über die Gedanken und Pläne der Betreffenden zu bilden. Denn die Menschen seien, wie er experimentell festgestellt habe, nie nachdenklicher, gesammelter und ernster, als wenn sie auf dem Abort säßen. Er habe herausgefunden, dass die Ausscheidungen eines Mannes, der mit dem Gedanken spiele, einen König umzubringen, einen Stich ins Grünliche hätten, während sie völlig anders gefärbt seien, wenn er nur einen Aufstand zu entfesseln oder eine Stadt niederzubrennen gedächte.“
Wiewohl Gulliver von derlei Erkenntnissen ehrlich angetan war, fühlte er sich verpflichtet, den Professor darauf hinzuweisen, dass dessen Abhandlung der Vollständigkeit entbehre. Und so erzählte er ihm, dass er [Gulliver] vor längerer Zeit im Königreich Tribnia gelebt habe. Tribnia biete reichlich Anschauungsmaterial, denn dort bestehe der größte Teil der Bevölkerung aus Spionen, Gerüchtemachern, Anklägern, Denunzianten und Meineidigen, die ihrerseits wiederum die Handlanger und Hehler unter sich haben und alle zusammen im Auftrag von Staatsministern und Abgeordneten arbeiten.
„Verschwörungen kommen dort meistens dadurch zustande, dass gewisse Leute ihren Ruf als Politiker erhöhen, einer korrupten Verwaltung durch Zuführung neuer Kräfte Rückenstärkung geben, die allgemeine Unzufriedenheit niederschlagen oder ablenken, ihre eigenen Taschen mit Staatsgeldern füllen oder das Ansehen des Staates je nach ihrem Gutdünken und ihrem eigenen Vorteil entweder fördern oder herabsetzen möchten.“
Soweit nichts Neues. Aber wie werden die Verschwörungen nun genau bewerkstelligt?
„Zuerst machen sie unter sich aus, welche Personen als verdächtig angeklagt werden sollen, dann bemächtigen sie sich der Schriftstücke und Papiere dieser Personen und lassen sie ins Gefängnis werfen. Die Papiere werden einer Kommission von Sachverständigen [hier wird es für Tom De Smedt und Sylvia Jaki interessant!] übergeben, die es fertig bringt, den noch so verschlüsselten Geheimsinn gewisser Wörter, Silben und Buchstaben herauszufinden. Diese Leute sind bevollmächtigt, Worte willkürlich auszulegen und ihnen einen Sinn zu geben, der ihrer wahren Bedeutung widerspricht oder sie sogar ins genaue Gegenteil verkehrt. So gelingt es ihnen zum Beispiel, mit untrüglicher Sicherheit festzustellen, dass
- ein Nachtgeschirr einen Geheimen Rat bedeutet,
- eine Gänseherde das Parlament,
- ein lahmer Hund einen angreifenden Feind,
- die Pest ein stehendes Heer,
- der Maikäfer einen Minister,
- die Gicht einen hohen Geistlichen,
- der Galgen einen Staatssekretär,
- der Nachttopf eine Oberhauskommission,
- ein Sieb eine Hofdame,
- der Besen eine Revolution,
- die Mausefalle ein Amt,
- der bodenlose Brunnen den Staatsschatz,
- eine Dunggrube den Hof,
- die Schellenkappe einen Günstling,
- das zerbrochene Rohr einen Gerichtshof,
- die leere Tonne einen General
- und ein eiterndes Geschwür die Staatsverwaltung.“
Sollte diese Methode versagen, gibt es noch zwei weitere: die Methode der Akrostiche und die der Anagramme.
Mit der Methode der Akrostiche lässt sich in jedem Anfangsbuchstaben ein politischer Sinn entdecken. An Beispielen veranschaulicht: N bedeutet eine Verschwörung, B ein Kavallerieregiment, L eine Flotte auf See…
Mit der Methode der Anagramme wiederum lassen sich aus verdächtigen Schriftstücken durch Umstellung der Buchstaben die geheimsten Pläne einer staatsfeindlichen Partei herauslesen. Also: Wenn man in einem Brief an einen Freund schreibt: „Mein Bruder Tom hat die Hämorrhoiden“, dann wird ein geschickter Schriftleser die niedergeschriebenen Worte zu folgendem Satz umdeuten können: „Leistet Widerstand – eine Verschwörung ist im Gange – der Turm.“
Um es zu wiederholen: Diese Hinweise wollen keineswegs als Kritik an den bahnbrechenden Forschungen Tom De Smedts und Sylvia Jakis verstanden werden, sondern als konstruktive Anregungen. Zu wünschen wäre, dass es den beiden jungen Forschern gelingt, die Ausführungen Lemuel Gullivers in ihre Software zu integrieren. Der Kampf gegen Hate Speech und – im weiteren Sinne – gegen Komplotte und Verschwörungen aller Art ist viel zu wichtig, als dass man auf die Erkenntnisse und Erfahrungen dieses weit gereisten Engländers aus dem 18. Jahrhundert verzichten könnte.
Quellen und Anmerkungen: