Objektbeziehung
Die meisten von uns wurden als Kind nicht als das einzigartige Subjekt, das wir sind, wahrgenommen und behandelt. Das hat Spuren hinterlassen. So haben auch wir, wie schon unsere Eltern und Lehrer vor uns gelernt, andere zum Objekt zu machen, zum Beispiel: „Der/Die andere ist doof“ und/oder uns selbst zum Objekt zu machen, zum Beispiel: „Ich bin doof.“
In diesem Sinne äußert sich auch der Neurobiologe Gerald Hüther in seinen Büchern. Wir benutzen andere unbewusst und bewusst oft so, wie wir auch materielle Objekte benutzen: Was kann das Objekt mir geben? Wie kann es mein Leben verbessern, bereichern? Welchen Vorteil habe ich durch das Objekt? Dies kann auch heißen: Wie passe ich mich so gut an, wie mache ich mich so gut zum Objekt, dass zum Beispiel Konflikte vermieden werden und/oder der andere mir zu nahe kommt und so meine Subjektivität erfährt.
Sich dies immer wieder in Situationen des Alltags bewusst zu machen, kann bedeuten, dass es manchmal nicht so viel braucht, den Fokus zu verschieben, um dadurch die anderen und mich selbst ganzheitlicher wahrnehmen zu können.
Und wir lassen es zu, von anderen auf diese Weise benutzt zu werden. Zum Beispiel in der Medizin oder in Lehr- und Lernsituationen findet das Subjekt — der ganze Mensch — oft zu wenig oder gar keine Berücksichtigung. Natürlich hat es in großen Gesellschaften viele Vorteile, uns selbst und die anderen so zu reduzieren. Es ist also ein Normalzustand, an den wir uns längst gewöhnt haben und den wir täglich erleben und mitgestalten. Leider merken wir deshalb auch meist nicht mehr, dass wir durch diese Art des Gebens und Nehmens auch immer wieder in der Tiefe verletzt werden und verletzen, uns nur begrenzt einlassen und Vertrauen oft keine Tiefe mehr hat.
In nahen Beziehungen jedoch sind wir empfindsamer, wenngleich wir auch hier „Verträge“ eingehen, deren dahinter liegende „deals“ uns meist verborgen bleiben. Dennoch oder gerade deswegen erspüren wir hier meist hochsensibel die offenen und verborgenen Machtansprüche unseres Gegenübers und reagieren darauf mit unseren eigenen.
Der offene „Machtanteil“ und der verborgene „verletzliche Anteil“
Eine der wichtigsten Aufgaben der machtvollen Anteile unserer Psyche ist es, die verletzlichen Anteile in uns zu schützen. Wenn wir in einem Konflikt mit einem uns nahe stehenden Menschen einen Machtanteil von uns offen zum Ausdruck bringen, zum Beispiel, indem wir ironisch werden oder versuchen, ihm Furcht einzuflößen, ist es gut und heilsam, den verletzlichen Anteil, der immer dahinter steht, so bald wie möglich in uns aufzuspüren.
Wenn wir uns dann nach dem Konflikt mit beiden Anteilen allein und intensiv beschäftigen, identifizieren wir uns meist nicht mehr voll mit dem Machtanteil und auch nicht mit dem verletzlichen Anteil. Das erkennen wir daran, dass wir uns in Bezug auf den Konflikt unserem Gegenüber weder überlegen noch unterlegen fühlen. Wenn wir dazu bereit sind, ist es dann möglich, den verletzlichen Anteil, den wir vorher noch unbewusst geschützt haben, unserem Gegenüber — ohne einen Anspruch — offen zu legen.
Dadurch kann ein Raum entstehen, in dem wir uns selbst und den anderen in seiner Ganzheit wahrnehmen können und in dem es nicht mehr darum geht, Recht haben zu wollen.
Auf dieser Grundlage können dann beide — meist ganz leicht — gemeinsam nach einer Lösung für die inhaltlichen Aspekte des Konfliktes suchen.
Der offene „verletzliche Anteil“ und der verborgene „Machtanteil“
Leider tragen die meisten von uns unbewusst noch „offene Rechnungen“ mit sich herum, wie einen alten Rucksack, der die Fortbewegung erschwert. Diese „Rechnungen“ sind alt, manchmal sehr alt, sie können unserer Mutter, unserem Vater gelten, oder auch noch aus früheren Generationen in uns aktiv sein — dies konnte die Epigenetik inzwischen belegen — oder ... oder ...
Hier wartet ein unbewusster Machtanteil auf die passende Gelegenheit „zuzuschlagen“, immer und immer wieder, denn niemand mehr kann diese offenen Rechnungen begleichen. Es ist ein Versuch der Psyche nach Ausgleich.
Dazu benutzt ein eigener unbewusster Machtanteil in uns einen eigenen verletzlichen Anteil als Objekt.
Das ist leider eine häufige und für alle Beteiligten sehr schmerzhafte Strategie.
Ein Beispiel: In einem Konflikt fühle ich mich hilflos und verletzt. Mein Gegenüber sieht zwar, dass ich weine und verletzt bin, doch gleichzeitig klagt mein eigener Machtanteil mein Gegenüber an — laut oder leise. Die Macht, die mich bedroht, erlebe ich in meinem Gegenüber. Die eigene Macht, die zum Beispiel in meinem Vorwurf steckt, erkenne ich in meiner akuten Verletzung nicht.
Mein Gegenüber erlebt die Bedrohung durch meinen unbewussten Machtanteil. Darauf reagiert mein Gegenüber unbewusst und „wehrt“ sich.
Mein verletzlicher und aktuell verletzter Anteil erlebt nun etwas, das er auch schon früher erlebt hat: „Ich werde in meinem Leid nicht gesehen, nicht verstanden.“ So hat mein eigener unbewusster Machtanteil nun erneut einen Grund, sich schützend vor den verletzlichen Anteil zu stellen, den er gerade noch für seine Zwecke benutzt hat. So entziehe ich mich zum Beispiel räumlich.
Und da es oft auch in meinem Gegenüber ein solch altes Thema gibt, das sich nach Ausgleich sehnt, entsteht nicht selten ein Kampf der „unbewussten Machthaber“, während sich beide Kontrahenten gerade mit einem verletzten „Inneren Kind“ identifizieren. Die Verzweiflung, die die Beteiligten in solchen Konflikten meist empfinden, entsteht meines Erachtens auch durch die Verwirrung, die diese unbewusste innere und äußere Dynamik mit sich bringt.
Eine Chance, diesen Kreislauf zu durchbrechen ist, dieses Muster in uns selbst zu beobachten: fühlend, forschend, offen...... und mit Selbstmitgefühl. Auch hier geht es darum, beide Anteile in mir aufzuspüren, die an dem Konflikt mit meinem Gegenüber beteiligt sind: den verletzlichen Teil, den ich schon fühle und erlebe, und den Machtanteil. Es ist herausfordernd und gleichzeitig entlastend, den eigenen verborgenen Machtanteil wahrzunehmen und zu erkennen, welche Haltung dahinter steckt und wie dieser Anteil zum Ausdruck kommt, zum Beispiel mit welchem Tonfall, welchen Blicken, Gesten, Worten und Themen.
Es geht darum, differenziert herauszufinden, welche Rolle mein unbewusster Machtanteil im Konflikt mit meinem Gegenüber spielt. Geht es ihm zum Beispiel um Abgrenzung, Herabsetzung, Verurteilung, Verachtung, Ignoranz, Rache oder ...?
Warum verhält sich die Psyche so?
Eine solche innere Haltung offen zum Ausdruck zu bringen, wäre riskant. Deshalb wählt das System diese Form der Selbstsabotage als vorläufigen Ausweg.
Entspannung
Nach einem solchen Konflikt und der Bewusstwerdung der eigenen widersprüchlichen bewussten und unbewussten Anteile, löst sich die volle Identifizierung mit dem verletzlichen Anteil und dem Machtanteil meist auf. Allerdings erstmal nur aktuell, bis zum nächsten Mal. Dennoch lohnt es sich, da auf diese Weise bereits Entspannung im eigenen System und dadurch auch im System des Gegenübers entsteht.
Langfristig kann das wiederholte Erleben dieses Bewusstseinsprozesses zu einer tieferen, nachhaltigen und positiven Veränderung führen. In einem solchen forschenden Erkenntnisprozess geht es letztlich auch darum, sich fühlend und erkennend dafür zu öffnen, welche tiefen ursprünglichen Verletzungen diesem inneren Konflikt zugrunde liegen. Dafür ist es meist sinnvoll, sich professionelle Unterstützung zu holen. Der verletzliche Anteil möchte seine alten Verletzungen nicht immer wiederholen. Er macht es, glaube ich, damit wir das Muster und den Ursprung dahinter endlich erkennen.
Mein verletzlicher Teil sehnt sich heute danach, bewusst und tief mitfühlend in seinem ursprünglichen Leid von mir — von meinem bewussten Sein — erkannt und angenommen zu werden.
Dieser Prozess wirkt tief entspannend und erfüllend. Dass wir uns darauf meist nicht einlassen, liegt wohl daran, dass wir dies in unserer Kultur bisher nicht gelernt haben. Und vielleicht können wir deshalb auch nicht glauben, dass es möglich ist.
Quellen und Anmerkungen:
Erhellendes zu Psyche und Beziehung:
- Artho Wittemann, „Die Logik der Liebe“, Vortrag auf YouTube, „Die Intelligenz der Psyche“, Kösel
- Gerald Hüther, „Wir müssen uns zu Subjekten, nicht zu Objekten machen, Vortrag auf YouTube
- Christiane Haase, „Die Spaltung der Psyche beenden, Teil 1 und 2“, Interview auf You Tube
- Franz Ruppert, „Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft“, Klett Cotta
- Katja Kaiser, „Die Liebe ist das Allerwichtigste“, Theseus