Marco Junghänel: Vorurteil — Diskriminierung — Entmenschlichung. Würde diese Kausalkette einen universell gültigen Rassismus als Basis der kapitalistischen Gesellschaft beschreiben? Wenn ja — welche menschliche Eigenschaft führt zu dieser Negierung einer universellen Menschenwürde?
Rainer Mausfeld: Rassismus in dem weiteren Sinne, wie er heute in der Rassismusforschung verstanden wird, ist keineswegs eine universelle menschliche Erscheinung. Er stellt also keine natürliche Reaktion auf „Überfremdung“ dar, sondern entwickelte sich erst in dem Maße, in dem man es als notwendig erachtete, soziale Ungleichheit zu rechtfertigen. Seine Entstehung hängt, wie besonders Immanuel Wallerstein (1) aufgezeigt hat, eng mit der Entstehung kapitalistischer Organisationsweisen zusammen.
Rassismus unterscheidet sich also grundlegend von Phänomenen der Fremdenangst oder Fremdenfeindlichkeit, die vermutlich Ausdruck allgemeiner Eigenschaften der Beschaffenheit unseres Geistes und in diesem Sinne universell sind. Historische Analysen wie die von Immanuel Wallerstein zeigen, dass Rassismus keine Reaktion auf Andersartigkeit und Fremdheit ist, sondern gerade diese „Andersartigkeit“ erst behauptet und somit erzeugt. So bringt auch der antiislamische Rassismus die Art der wesensmäßigen „Andersartigkeit“ von Muslimen erst hervor, die die „westliche Wertegemeinschaft“ für ihre eigene politische Identitätsstiftung und für die Legitimation ihrer Herrschaftsbedürfnisse benötigt.
Rassistische Diskriminierung als eine systematische Form der Entmenschlichung lässt sich also keineswegs einfach als Ausdruck einer allgemein-menschlichen Neigung verstehen oder auf individuelle Vorurteile reduzieren.
Rassismus hat sich erst unter spezifischen historischen und ökonomischen Bedingungen entfaltet. Natürlich muss auch der Rassismus — wie alle Produktionen unseres Geistes — eine geeignete Grundlage in bestimmten Eigenschaften und Neigungen unseres Geistes haben. Unser Geist zeichnet sich dadurch aus, das wir von Natur aus über eine einzigartige Flexibilität verfügen, auf der Basis nahezu x-beliebiger Merkmale, sei es Hautfarbe, Religion, Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung et cetera, andere aus der sozialen Kategorie „meinesgleichen“ auszugrenzen. In welcher Art und in welcher Weise eine solche Ausgrenzungsbereitschaft aktiviert wird, hängt jedoch wesentlich von kulturellen Faktoren ab. Dennoch stellt unsere Bereitschaft, auf der Basis nahezu x-beliebiger Merkmale anderen das zu verwehren, was wir an Eigenschaften und Rechten für uns und die als „unseresgleichen“ Empfundenen beanspruchen, im gesellschaftlichen Bereich eine Art Schwachstelle unseres Geistes dar, die sich leicht für Zwecke der politischen Manipulation nutzen lässt. Der „Rassismus von oben“, mit dem jeweilige Machteliten diese Neigungen unseres Geistes strategisch für ihre Belange ausnutzen, ist also anders zu behandeln als Erscheinungsformen eines „Rassismus von unten“.
Die psychischen Widerstände gegen die Idee einer universellen Menschenwürde und damit einer Gleichwertigkeit aller Menschen haben ihre Wurzeln in dieser natürlichen Neigung des Menschen, den als fremd empfundenen anderen nicht in vollem Umfang das zu gewähren, was er an Menschenwürde ganz selbstverständlich für sich selbst beansprucht. Daher bedurfte es eines langen Prozesses und schmerzlicher kollektiver Erfahrungen, bis eine solche Idee mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 als moralische Leitnorm kodifiziert werden konnte.
Gemeinschaft stiften durch Ab- und Ausgrenzung. Gründen sich Nationalstaaten/Nationen also zwangsläufig auf Exklusivität? Welches Modell kann dem entgegengesetzt werden, um Barbarei zu verhindern?
Solange wir eine kapitalistische Wirtschaftsordnung haben, wird sich Barbarei nicht verhindern lassen — weder innenpolitische Barbarei in Form einer psychischen und materiellen Verelendung großer Teile der Bevölkerung noch außenpolitische Barbarei in Form von Neoimperialismus, Neokolonialismus und Krieg. Der Kapitalismus benötigt Kriege zu seinem Überleben; für die Völker des Südens hat — wie Jean Ziegler bemerkte (2) — der dritte Weltkrieg längst begonnen.
Was Erscheinungsformen von Rassismus betrifft, so lässt sich eine Beziehung zur Idee des Nationalstaates nicht leugnen, auch wenn die historischen Beziehungen zwischen der Entwicklung europäischer Nationalstaaten, imperialem Kolonialismus und Rassismus außerordentlich komplex sind. Denn Nationalstaaten fußen ja auf der Idee — oder besser auf der Fiktion — einer weitgehend unveränderbaren ethnischen, kulturellen und sprachlichen Homogenität (3). Insofern gründen sich Nationalstaaten ihrem Wesen nach ganz selbstverständlich auf Exklusivität. Diese Exklusivität als solche beinhaltet jedoch nicht zwangsläufig eine rassistische Exklusion.
Wir müssen uns jedoch immer wieder klarmachen, dass die Vorstellung einer Übereinstimmung von Volk — als einer ethnischen und kulturellen Gemeinschaft —, Territorium und Staat weder natürlich noch zwangsläufig ist, sondern durch bestimmte historische Konstellationen entstanden ist (4). Im Gefolge der Aufklärung sah man zunächst in Nationalstaaten eine natürliche Basis, eine Demokratisierung voranzutreiben.
Dem lag die Auffassung zugrunde, dass nur Nationalstaaten wegen ihrer ethnischen Homogenität eine natürliche Grundlage für eine Demokratie bilden könnten. Mittlerweile hat sich jedoch die Vorstellung, dass eine Demokratisierung eines weitgehend homogenen ethnischen Volkskörpers bedarf, als unzutreffend herausgestellt. Zudem haben schon im 19. Jahrhundert die Versuche, Nationalstaat und die zum Erhalt des Kapitalismus notwendige Globalisierung miteinander in Einklang zu bringen, zu Formen des Imperialismus geführt, die die Idee des Nationalstaates unterminierten. Ebenso wird in jüngerer Zeit der Nationalstaat umgebaut durch die willentlich und systematisch herbeigeführte Entbettung transnationaler Konzerne aus dem Bereich nationalstaatlicher Regulierungssysteme. All dies hat dazu beigetragen, dass sich der Nationalstaat in seiner traditionellen Form nicht mehr als brauchbares Vorbild oder Modell für die Entwicklung einer ernsthaft demokratischen Gesellschaft ansehen lässt.
Die Frage, welches Modell einer gesellschaftlichen Organisationsform der menschlichen Natur angemessen ist und zugleich geeignet ist, Barbarei zu verhindern, bezieht sich auf das wohl größte und drängendste Problem unserer Zivilisationsgeschichte. Auch wenn wir immer noch weit davon entfernt sind, klare Vorstellungen über mögliche Lösungen dieses Problems zu haben, lässt sich zumindest vor dem Hintergrund geschichtlicher Erfahrungen eine wichtige Eingrenzung vornehmen:
Je autoritärer eine gesellschaftliche Organisationsform ist, um so eher neigt sie dazu, zu menschenunwürdigen Zuständen und Barbarei zu führen. Das gilt auch für Organisationsformen innerhalb demokratischer Gesellschaften, etwa von Großkonzernen, die in höchstem Maße totalitär organisiert sind.
Umgekehrt — und dies war nach langen blutigen Erfahrungen gerade die Einsicht der Aufklärung — verspricht eine Gesellschaftsorganisation, die auf der Anerkennung einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen, also auf einem universellen Humanismus, beruht, am ehesten, die Schaffung einer menschenwürdigen Gesellschaft zu ermöglichen. Diese Einsicht, die wir bisher trotz aller Lippenbekenntnisse kaum im erforderlichen Maße ernst genommen, geschweige denn politisch umgesetzt haben, stellt uns auch weiterhin die Leitideale bereit, durch die wir am ehesten hoffen können, uns gegen Rückfälle in die Barbarei zu schützen.
Die Leitidee eines universellen Humanismus mag auf den ersten Blick als schlicht erscheinen, doch hat sie gewaltige Konsequenzen. Sie beinhaltet, dass ein jeder einen angemessenen Anteil an allen Entscheidungen hat, die das eigene gesellschaftliche Leben betreffen, und verlangt somit nach einer radikal demokratischen Gesellschaftsorganisation. Zudem beinhaltet sie, dass alle Machtstrukturen ihre Existenzberechtigung nachzuweisen und sich der Öffentlichkeit gegenüber zu rechtfertigen haben, sonst sind sie illegitim und somit zu beseitigen. Sie beinhaltet ferner, dass wir moralische Kriterien, nach denen wir Handlungen anderer bewerten, auch zur Bewertung unserer Handlungen heranzuziehen haben und missbilligt somit moralische Doppelstandards. Vor allem aber schließt die Leitidee eines universellen Humanismus alle Ideen einer Vorrangstellung der eigenen biologischen, sozialen, kulturellen, religiösen oder nationalen Gruppe aus, und somit also Rassismus, Nationalismus und alle Formen eines Exzeptionalismus.
Frantz Fanon hat in seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde“ unter anderem formuliert: „In den kapitalistischen Ländern schiebt sich zwischen die Ausgebeuteten und die Macht eine Schar von Predigern und Morallehrern, die für Desorientierung sorgen.“ Was bedeutet diese Feststellung für unsere mediatisierte Welt und die Macht-/Besitzverhältnisse darin?
Das Unsichtbarmachen von Macht- und Besitzverhältnissen ist natürlich in einer „marktgerechten Demokratie“ wichtiger denn je. Ein ganz zentrales Hilfsmittel dazu ist die affektive und kognitive Desorientierung all derjenigen, die nicht zur besitzenden Klasse — oder, wie es im 18. Jahrhundert hieß, zur „verzehrenden“ Klasse — gehören. Um die tatsächlichen Machtverhältnisse zu verdecken, bedienen sich die Machteliten einer großen Schar bereitwilliger Intellektueller, die mit hohem gedanklichen Aufwand Interpretationsrahmen und Manipulationstechniken bereitstellen, durch die sich die Interessen der herrschenden Klasse als gesellschaftliche Allgemeininteressen darstellen lassen oder durch die sich politische Lethargie erzeugen lässt. Die entsprechenden Mechanismen einer politischen Desorientierung sind strukturell tief in alle Sozialisationsinstanzen unserer Gesellschaft eingewoben, insbesondere in Schulen und Universitäten. Folglich sind gerade diejenigen, die diese Sozialisationsinstanzen am längsten durchlaufen haben, in einer so tiefen Weise indoktriniert, dass sie die Indoktrination zumeist gar nicht mehr als solche wahrnehmen, sondern sie als kaum noch hinterfragbare Selbstverständlichkeiten ansehen. Im Bereich des Journalismus hat dieser Effekt gegenwärtig Ausmaße erreicht, die für eine Demokratie und die mit ihr verbundenen Ziele, wie soziale Gerechtigkeit oder eine Friedenssicherung, verhängnisvoll sind.
Sind neue Rechte von AfD über Pegida bis zur Identitären Bewegung letztlich offen sichtbarer Beleg einer auf exakter Scheidbarkeit der Kulturen beruhenden Annahme von Welt, die automatisch eine Rangfolge dieser Kulturen festlegt?
Der kulturalistische Rassismus oder „Rassismus ohne Rassen“ (5), der diesen Bewegungen konstitutiv zugrunde liegt und der sich nur notdürftig mit dem Konzept des „Ethnopluralismus“ tarnt, geht von der Vorstellung eines als weitgehend homogen zu verstehenden „Volkskörpers“ aus. Statt Rasse-Identitäten sind es nun „kulturelle Identitäten“ oder „nationale Identitäten“ — Konzepte, die ebenso Fiktionen sind wie der biologische Begriff von Menschenrassen.
Der Kulturrassismus behauptet die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen und die Schädlichkeit einer jeden Grenzverwischung zwischen unterschiedlichen Kulturen und geht stets mit der Vorstellung einer unveränderlichen kulturellen Rangordnung einher.
Und nun? Wo liegt das Modell der Zukunft, oder gibt es gar keines?
Die abendländischen Kulturen, die heute in dem kulminieren, was sich selbst als „westliche Wertegemeinschaft“ zelebriert, haben den Weg der Gewalt kultiviert. Sie haben von den Kreuzzügen über den Kolonialismus und seiner „mission civilisatrice“ bis zum gegenwärtigen „humanitären Imperialismus“ die wohl größte Blutspur in der Geschichte des Menschen hinterlassen. Zugleich haben sie die ausgefeiltesten Formen von Doppelmoral und Heuchelei entwickelt, der zufolge selbst unsere größten Gräueltaten lediglich Ausdruck unserer gutwilligen und uneigennützigen Bemühungen um das Allgemeinwohl und den zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit seien.
Nur wenn wir uns unserer geschichtlichen Verantwortlichkeiten für diesen Weg der Gewalt bewusst werden, können sich Chancen eröffnen, die es überhaupt aussichtsreich machen könnten, von der Zukunft der Menschheit zu sprechen. Wollen wir also den bisherigen Weg der Gewalt, der zunehmend unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstört, nicht fortsetzen, so eröffnen die Leitideale, die in der Zeit der Aufklärung besonders prägnant formuliert wurden und die nun von uns weiterzuführen und umzusetzen sind, vielversprechende Perspektiven, angemessene Organisationsformen zu entwickeln, die die Bezeichnung „demokratisch“ verdienen. Das wird kein einheitliches und statisches Modell sein können, sondern es werden kontinuierliche und hochgradig situationsabhängige Prozesse von gelebten Formen einer Demokratisierung sein, die — auch ohne Anbindung an traditionelle Homogenitätskonzeptionen von Volk und Nation — von unten getragen wird. Derartige Entwicklungen in Richtung von Demokratisierungformen, wie sie in den politischen Wissenschaften unter Bezeichnungen wie „partizipatorische Demokratie“ oder „deliberative Demokratie“ diskutiert werden, lassen sich überall auf der Welt beobachten. Sie sind geeignet, der zunehmenden Entleerung der Idee von Demokratie entgegenzuwirken und ihr eine neue Strahlkraft zu verleihen. Dadurch bieten sie Hoffnung auf die Entwicklung einer menschenwürdigeren Gesellschaft.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Siehe beispielsweise Wallerstein (1992).
(2) Ziegler (2027, Seite 18).
(3) Diese Charakterisierung gilt nur für bestimmte historische Formen von Nationalstaaten und kann nicht als notwendiges Merkmal von Einzelstaaten allgemein angesehen werden. „Volk“ und „Nation“ in der Demokratiekonzeption der Französischen Revolution beruhen nicht auf einer inhaltlich bestimmten Identität, sondern sind rein verfassungsrechtliche Begriffe. Grundlegende Voraussetzungen von „Volkssouveränität“ und „Demokratie“ lassen sich nur auf Organisationsebenen unter halt eines „Weltstaates“ bereitstellen (siehe hierzu Seite 194), so dass sich die Etablierung eines solchen nur mit dem Preis eines Verzichtens auf das demokratische Leitideal erreichen ließe. Siehe hierzu insbesondere: Maus (2002); Maus (2015): Zürn (1998); Streeck (2013).
(4) Wallerstein (1992, Seite 273) betonte noch einmal, dass die Gemeinschaften, „denen wir alle angehören, aus denen wir unsere ‚Werte‘ beziehen, denen gegenüber wir unsere ‚Loyalität‘ bekunden und die unsere ‚soziale Identität“ bestimmen, samt uns sonders historische Konstruktionen (sind). Und es sind, was besonders wichtig ist, Konstruktionen, die sich permanent im Umbau befinden. Das bedeutet nicht, dass es ihnen an Festigkeit oder Dauerhaftigkeit gebräche, oder dass es bloße Übergangserscheinungen wären. Im Gegenteil. Aber es sind niemals ursprüngliche Gemeinschaften, und von daher ist jede historische Beschreibung ihrer Struktur und ihrer Entwicklung durch die Jahrhunderte hindurch eine Ideologie der Gegenwart.“
(5) „Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus in den Zusammenhang eines ‚Rassismus ohne Rassen‘, (...) eines Rassismus, der“ jedenfalls auf den ersten Blick „nicht“ mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf beschränkt, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweise und Traditionen zu behaupten.“, Balibar (1992, Seite 28).