Nackte Zahlen
Allein zwischen 2007 und 2017 bezogen gut 18 Millionen Bundesbürger mindestens einmal kurzzeitig Hartz IV, wie die Bundesregierung Anfang dieses Jahres auf Anfrage der Linksfraktion mitgeteilt hatte. Die Jahre 2005 und 2006 sowie 2018 hinzugerechnet, dürfte somit jeder vierte Bundesbürger Erfahrungen mit diesem System haben. Aktuell stecken rund sechs Millionen Menschen, inklusive Kinder, darin fest.
Das bedeutet: Alle Betroffenen mussten sich der rigiden Vermögensprüfung unterwerfen, viele ihr bis dahin erarbeitetes Hab und Gut zunächst zu Geld machen und alles auf Sozialhilfeniveau verbrauchen. Und sie waren vom repressiven Sanktionssystem mittelbar oder unmittelbar tangiert. Jedes Jahr kürzen Jobcenter etwa jedem zehnten „erwerbsfähigen Hilfebedürftigen“ die Grundsicherung. Dazu zählen Leistungsbezieher ab dem 15. Lebensjahr. Pro Jahr verhängen sie rund eine Million Sanktionen gegen 400.000 bis 500.000 Menschen.
Jeden Monat setzten die Jobcenter bundesweit bis zu 12.000 Menschen auf Null. Das heißt: Sie strichen ihnen alle Leistungen, inklusive der Miete. Aktuell betrifft dies rund 7.000 Menschen — Monat für Monat. Die Hälfte von ihnen ist zwischen 15 und 24 Jahre alt, mehr als jeder Dritte hat ausländische Wurzeln.
Seit 2007 werden unter 25-Jährige viel härter sanktioniert als ältere. Beim ersten „Vergehen“, das über ein mit zehn Prozent belegtes Terminversäumnis hinausgeht, streichen die Behörden ihnen für drei Monate den gesamten Regelsatz, beim zweiten Mal auch den Mietzuschuss. 2017 schätzte das Deutsche Jugendinstitut die Zahl der obdachlosen Jugendlichen auf 39.000 — Tendenz steigend, zuzüglich einer hohen Dunkelziffer.
Bekommen Flüchtlinge mehr?
Hartz IV erzeugt massiven Druck auf Leistungsbezieher. Um keine Sanktion und damit ihr Existenzminimum zu riskieren, müssen sie jeden Job annehmen. Jobcenter haben dabei kaum mehr zu bieten als Leiharbeit. Mit entsprechenden Firmen arbeiten sie eng zusammen. Damit übt das repressive Gesetz auch einen enormen Druck auf die Löhne aus. Lohnabhängige dulden aus Angst miserabelste Arbeitsbedingungen, ihre Verhandlungsposition gegenüber Unternehmen tendiert gen Null.
Hartz IV eignet sich bestens zur Erzeugung ethnisch-sozialer Spaltung der lohnabhängigen Klasse. So kursiert vor allem in rechten Filterblasen das hartnäckige Gerücht, dass Flüchtlinge bessergestellt seien als deutsche Hartz-IV-Bezieher. Das ist falsch.
In einigen Punkten geht es Geflüchteten sogar weitaus schlechter als einheimischen Hartz-IV-Beziehern.
Denn in den ersten 15 Monaten haben Asylsuchende nur ein Anrecht auf minimale medizinische Versorgung in akuten Fällen. Darüber hinaus erhalten sie, je nach Alter, bis zu 70 Euro weniger nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Dafür werden sie in Massenunterkünften, in der Regel in engen Mehrbettzimmern, untergebracht, wo sie Möbelreparaturen und Strom nicht selbst bezahlen müssen.
Sanktionen dürfen zudem auch Ausländerbehörden verhängen. Das tun sie auch tausendfach. Arbeitet beispielsweise ein Betroffener nach behördlicher Ansicht nicht ausreichend mit, streicht man ihm die Barleistung in Form des sogenannten Taschengeldes von — nach Alter gestaffelt — maximal 135 Euro.
Die meisten Geflüchteten stecken übrigens selbst bereits im Hartz-IV-System fest. Denn sobald die Behörden über ihren Asylantrag in irgendeiner Form positiv entschieden haben — meist eine zeitliche Duldung oder vorläufiger subsidiärer Schutz für Kriegsflüchtlinge — verlieren sie das Anrecht auf Asylbewerberleistungen. Sie müssen Hartz IV beantragen. Was dies schon für normal gebildete Muttersprachler bedeutet, weiß jeder, der dies schon einmal tun musste. Letztlich unterliegen damit auch Geflüchtete den strengen Regeln des Sanktionsapparats.
Teilen und Herrschen
Was zurecht für Ärger sorgt, ist allerdings folgendes: Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) schätzt die Zahl der Obdachlosen in Deutschland inzwischen auf 1,2 Millionen. Darin inbegriffen sind rund 400.000 Flüchtlinge in Sammelunterkünften, weil diese nach der Asylentscheidung diese verlassen müssen und eine Bleibe benötigen.
Allein in Berlin leben jedoch aktuell bis zu 10.000 Menschen — ungefähr die Hälfte davon sind verarmte ost- oder südeuropäische Arbeitsmigranten — komplett auf der Straße. Die Berliner Verkehrsbetriebe wollen, wegen durchaus verständlicher Sicherheitsbedenken, ihre U-Bahnhöfe diesen Winter nachts schließen. Die Politik hat keine Lösung, brüstete sich aber jüngst damit, nunmehr 1.000 Notschlafplätze für den Winter anzubieten. Wer rechnen kann, weiß: Tausende müssen bei Eiseskälte draußen bleiben. Da fragt man sich nicht ohne Grund: Was ist mit den vielen inzwischen leerstehenden Asylunterkünften passiert?
Eine Mutmaßung:
Auf die deutsche Flüchtlingspolitik schaute die ganze Welt. Da konnte es sich die Bundesregierung wohl nicht leisten, die Menschen auf winterlichen Straßen dahinvegetieren zu lassen. Obdachlose im Individualschuld propagierenden deutschen Nationalregime sind indes systemimmanent. Die Propaganda stempelt sie zu Versagern, zu Überflüssigen, die selbst schuld seien.
Da ist es einfacher, sie auf der Straße erfrieren zu lassen. Mindestens drei traf es in diesem Herbst. Und ganz nebenbei kann die Politik Hass auf Ausländer schüren, obgleich diese am allerwenigsten für diese Art der Spaltungspolitik können.
Das Faulheitsverbrechen
Im Kapitalismus dreht sich, wie der Name schon sagt, alles um eins: das Kapital. Wie ein automatisches Subjekt verleibt sich die große Kapitalverwertungsmaschinerie alles ein. Auch der Mensch wird zu „Humankapital“. Nun ist Lohnarbeit die einzig ausbeutbare Profitquelle, denn nur Menschen können zu kostenloser Mehrarbeit gezwungen werden. Massenproduktive Technologie senkt nur die Warenpreise.
Darum ist es nur folgerichtig, dass die staatliche Propaganda eines zum größten Verbrechen im Kapitalismus erklärt, und zwar noch vor Mord und Totschlag: das sogenannte „Faulheitsverbrechen“. Wer als Besitzloser also nicht seine Arbeitskraft an die Lohnarbeitsmaschine verkauft, aus welchem Grund auch immer, wird härter sanktioniert als jeder Mörder im Gefängnis: mit dem Entzug der kompletten Existenzgrundlage.
Die ewigen Tiraden seitens CDU, CSU, FDP, weiten Teilen der SPD und nun auch AfD sind bekannt: Wer nicht arbeitet, soll nicht essen. Oder: Sozialhilfe muss verdient werden. Es gebe kein Recht auf bedingungslose Existenz. So und ähnlich lauten die immer neuen Ausfälle aus diesen angeblich die „bürgerliche Mitte“ vertretenden Parteien. Und dies in einer Zeit, in welcher — dank fortschreitender Technologie — immer größere Mengen einer gigantischen Überproduktion zum Zwecke der Preisstabilität vernichtet werden und der Lohnarbeitsmarkt zugleich erodiert. Logisch ist das nicht, spricht aber direkt die Emotionen unzufriedener Niedriglöhner effektiv an.
Emotionen steuern
Aufgrund der Emotionen der Unzufriedenen alias „wenn ich von früh bis spät maloche, darf keine Existenzberechtigung haben, wer das nicht tut“ sträuben sich selbst Lohnabhängige, die nicht gerade zu den Managern gehören, gegen ein Ende des Sanktionsregimes. Darum kann auch der längst staatlich eingefriedete Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) weiterhin auf das Lügenmärchen der „Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmern und Arbeitern“ bauen und offiziell Sanktionen gegen „Faule“ befürworten. Was dessen spitzenbezahltes Spitzenpersonal auch tut, wie jüngst DGB-Chef Reiner Hoffmann kundtat.
Die Manager der gegenwärtigen, auf wirtschaftlichem Privateigentum basierenden Produktionsweise setzen also gezielt darauf, Emotionen zu steuern und zu kanalisieren. Nur so gewinnen sie Mehrheiten für ihre perfiden unmenschlichen Machenschaften auch innerhalb der lohnabhängigen Massen. Und ohne Zweifel ist es unmenschlich, für das Kapital unproduktiv gewordene Menschen verarmen und notfalls schlicht verhungern zu lassen. Mal davon abgesehen, dass dies die Kriminalität fördert. Der Staat setzt also gezielt auf Aggressionen erzeugende negative Emotionen im spätkapitalistischen Arbeitshaus.
Zurück zum Sklavenmarkt?
Darum erzürnen auch Forderungen nach sanktionsfreier Garantiesicherung oder lediglich „milderen Strafen“ die bürgerlichen Spitzenökonomen und politischen Wasserträger des Kapitals aufs Äußerste. Darum predigen diese in widersinnigster Weise sogar eine angeblich notwendige weitere Anhebung des Renteneintrittsalters. Die Kapitalmaschine soll wachsen und rollen, bis zum Crash.
Das Minimalgebot der Menschlichkeit, wonach jeder ein Existenzrecht haben sollte, unabhängig von seinen physischen oder psychischen Fähigkeiten dem Kapital zu dienen, stand im Kapitalismus immer in Frage.
Abstraktes Profitstreben hat keine menschliche Komponente. Jedes humane Gesetz, seien es erträgliche Arbeitsbedingungen, bezahlbarer Wohnraum oder diverse Sozialleistungen, musste hart erkämpft werden.
Unter der aktuell schwächelnden Profitrate, die einen regelrechten Produktivitäts-Extremismus gebiert, die Ausbeutung der Drittweltländer auf die Spitze treibt und den Arbeitsmarkt schleichend in einen Sklavenmarkt verwandelt, erleben wir seit der Jahrtausendwende auch in den industriellen Zentren einen fortschreitenden Rückbau dieser hart erkämpften sozialen Rechte. Nur ein Beispiel: Das Ringen um die 35-Stunden-Woche — angesichts der wachsenden Überproduktion ein richtiges Kurzziel — ist erfolglos geblieben. Heute geht es inzwischen wieder um Zwölfstundenschichten und drohenden Rückbau des staatlichen Rentensystems.
Aktuelle Rufe nach einer sanktionsfreien Mindestsicherung machen eines deutlich: Dem Kapital ist selbst minimale Menschlichkeit ein Dorn im Auge.
Einerseits ist es erfreulich, dass entsprechende Wünsche nun auch außerhalb der Linkspartei laut werden. Die Diskussionen darüber, ob man Menschen überhaupt eine Existenz zubilligt, die sich der Profitmaschine nicht unterwerfen wollen oder können, werfen dennoch ein Licht in die dunkelsten Abgründe unserer von Geld dominierten Zivilisation.
Bedingungslos trügerisch
Der soziale Kampf, wie jener um das bedingungslose Existenzrecht aber auch jener um höhere Löhne, ist zwingend notwendig. Gleichwohl muss er weitergedacht werden als bis zu einer Abschaffung der Sanktionen gegen die Ärmsten der westlichen Warenwelt. Der Blick gehört auf die globalen systematischen Ausbeutungsbedingungen, an denen soziale Reformen nichts ändern. Um sich mit dem Feind anlegen zu können, gilt es, ihn zu verstehen. Davon sind sowohl Grüne und SPD als auch die Linkspartei weit entfernt.
Auch ein Bedingungsloses Grundeinkommen ohne jede Bedürftigkeitsprüfung ist leider nicht kompatibel mit der kapitalistischen Realität. Einerseits ist der Wunsch, allen Menschen ein angstfreies Leben zu ermöglichen, unabhängig von irgendeiner Bedingung, Zeugnis eines fortschrittlichen Menschenbildes und der banalen Erkenntnis: Der technologische Fortschritt macht immer mehr menschliche Arbeit überflüssig. Anders ausgedrückt: Die Produktivkräfte haben die Produktionsweise meilenweit überholt.
Dennoch: Auch die Vorstellung vom BGE basiert direkt auf kapitalistischen Vorstellungen von Wirtschaft. Die Gemeinsamkeit der unzähligen Entwürfe ist jene, dass jeder Mensch eine Summe x an Geld erhält, ohne zu prüfen, ob er dieser bedarf oder nicht. Nehmen wir an, der Staat zahlte Erwachsenen 1.000 und Kindern 500 Euro, also eine Summe, die aktuell für die Grundbedürfnisse genügen könnte. Was würde passieren?
Die Mehrheit der deutschen Gesellschaft stellen Familien der unteren Mittelschicht. Eine Familie mit zwei Kindern und einem Nettoeinkommen 2.000 Euro (ohne Kindergeld) hätte dann also 5.000 statt 2.400 Euro zur Verfügung. Ein Alleinstehender mit einem Nettolohn von 1.500 hätte 2.500 Euro. Was würden die Kapitaleigentümer tun? Sie würden die Preise für Miete, Bahn, Benzin, Lebensmittel und alles andere drastisch erhöhen. Müsste dann einer ohne zusätzliche Lohnarbeit vom BGE leben, müsste er sich wohl einen Platz unter der Brücke suchen, wenn es dann keine Einraumwohnungen für unter 1.000 Euro gibt.
Stichwort Inflation: Sogar die bürgerlichen Vulgärökonomen wissen: Steigt die Geldmenge im realen Wirtschaftskreislauf unabhängig von der Warenproduktion, steigen auch die Preise. Das besagt sogar die reine Marktlehre. Mehr noch: Die sogenannten Arbeitgeber rechneten das BGE in ihre Lohnkalkulation ein. Sie würden die Reallöhne also drastisch senken. Das wäre die logische Konsequenz in einem Konkurrenzsystem, wo Kapitalisten Lohnarbeit ausbeuten und nach Maximalprofit streben (müssen).
Ein BGE unter kapitalistischen Bedingungen sorgt also keineswegs für eine Grundversorgung, solange es nicht an Bedürftigkeit und am besten an konkrete Grundbedürfnisse, wie Wohnen, Essen, Kleidung, soziale Teilhabe, unabhängig vom Preis, gebunden ist. Bestenfalls wäre es ein Nullsummenspiel, schlimmstenfalls kann es Millionen Menschen viel tiefer in den sozialen Abgrund reißen.
Mithin: Ein BGE könnte weder die sich zuspitzenden sozialen Unterschiede lösen, noch stoppt es die globale imperialistische Ausplünderung. Und darum geht es: Soziale Kämpfe gegen die spätkapitalistische Anarchie der Konkurrenz können nicht systemkonform und müssen international geführt werden.