Mehrere Autos stehen vor meiner Haustür, dahinter häufen sich Dinge aller Art, so viele, dass ich oft vergesse, was da aus meinen Schränken quillt. Ich besitze mehr Kleidung, als ich tragen kann, Gadgets und Dekoartikel aller Art und in meinen Vorratsschränken vergammelt bisweilen die Nahrung. Ich shoppe Schnäppchen und fliege Low Cost. Obwohl ich in Bioläden und auf Flohmärkten einkaufe, meine Waschmittel selbst herstelle und auf Fleischkonsum weitestgehend verzichte, bin ich ein Kind meiner Zeit.
Keine Frage: Ich lebe in Überfluss und Verschwendung, in einer Gesellschaft, deren Motor seit langem nicht mehr das Bedürfnis ist, also das, was wir wirklich zum Leben brauchen, sondern das Sehnen, Wünschen und Begehren. Bedürfnisse sind endlich. Sind sie erfüllt, brauchen wir erst einmal nichts mehr. Mit einem Dach über dem Kopf, Kleidung am Leib und einer Suppe auf dem Feuer hätte ich eigentlich genug. Schließlich kann ich nur eine begrenzte Menge essen und nur ein Kleid auf einmal tragen.
Als sie jung waren, hatten meine Mutter und meine Großmutter ein paar Arbeitskleider und ein Sonntagskleid. Ihre Habe passte in eine Kommode. Das Brautkleid meiner Großmutter wurde so viele Male umgeändert, bis es als Putzlappen sein Leben aushauchte. Eine Katastrophe für die Wirtschaft, nicht für meine Großmutter — die war zufrieden. Denn wenn die Leute sich mit dem zufriedengeben, was sie haben, kann es kein Wachstum geben. Deshalb erfand man Obsoleszenz, schlechte Qualität und neuerdings auch nachhaltige Mode — ein Oxymoron, denn das künstliche Erschaffen ständig neuer Gelüste steht im kompletten Widerspruch zum ökologischen Denken.
Die meisten von uns glauben es tatsächlich: Ohne Konsum kann es uns nicht gutgehen. Stellen wir uns vor: In den ärmsten Gegenden dieser Welt gibt es noch Menschen, die mitten in der Natur in einfachen Hütten leben! Ohne Strom, ohne fließend Wasser, ohne elektronische Gadgets. Dass sie dabei oft gesünder sind und zufriedener als viele Großstadtmenschen, ist dabei irrelevant. Obwohl sich heute mancher in ein einfaches Leben zurücksehnt: Ausschlaggebend ist die Anzahl der Güter und Trips, die wir uns leisten können.
Unersättlichkeit als Motor für wirtschaftliches Wachstum
Verlangen, Habsucht, Raffgier — lange waren sie verpönt. In der christlichen Glaubenslehre zählte die Gier sogar zu den Todsünden. Doch seit sich die Gesellschaft vom Joch des Klerus befreit hat, sind Hochmut, Völlerei, Rachsucht, Neid und Feigheit sozusagen stubenrein geworden. Mehr noch: Wenn wir sie nicht hemmungslos ausleben würden, entzögen wir unserer Gesellschaftsform ihr Fundament.
Kapitalismus funktioniert umso besser, je mehr wir uns unseren größten Schwächen und dunkelsten Trieben hingeben.
Auch wenn heute Geiz geil ist, würde sich doch kaum jemand gern als faulen und arroganten Geizhals bezeichnen lassen. Nein, so wollen wir nicht gesehen werden. Doch Hand aufs Herz: Wenn ich mich in meinen eigenen vier Wänden umsehe, dann muss ich mir eingestehen, dass ich nicht frei bin von Eitelkeit, Neid, Begehren, Maßlosigkeit und Eifersucht. Damit bin ich ein gefundenes Fressen für eine Wirtschaft, die sich danach die Finger leckt, dass wir immer mehr, immer höher hinaus wollen — und das möglichst vor unseren Nachbarn.
Den sozialpsychologischen Unterbau dafür, unsere Schwächen und Laster salonfähig zu machen, lieferte ein holländischer Arzt und Philosoph: Bernard de Mandeville. Ende des 17. Jahrhunderts erfindet er das Konzept eines neuen Menschen. Ständig ist er auf der Suche nach Anerkennung von anderen, die ihm das erhöhte Bild seiner selbst bestätigen. Self-liking nennt Mandeville die Sucht danach, von anderen geschätzt und bewundert zu werden. Er spaltet die Selbstliebe in Stolz und Lust. Auf der einen Seite erhebt sich der Mensch über andere, um ihnen zu imponieren, auf der anderen wird er vom Trieb beherrscht, ständig neue Gelüste zu befriedigen.
Der neue Mensch will alles — Terrain, Paläste, elegante Kleider, Möbel und Accessoires, kulinarische Genüsse, Unterhaltung — und stellt seinen Besitz entsprechend zur Schau. Da er ständig Gefahr läuft, von seinem Nachbarn überholt zu werden, will er immer mehr. Stets damit beschäftigt, sich nicht von ihm einholen zu lassen, wird Self-liking zu einem Motor, der durch Imitation auf der einen und Unterscheidung auf der anderen Seite in ständiger Bewegung gehalten wird. Immer neue Moden werden erfunden, um einerseits dazuzugehören und sich andererseits zu distinguieren.
Das Opfer der Unterprivilegierten
So wird aus der Wirtschaft der (begrenzten) Bedürfnisse eine Wirtschaft der (unbegrenzten) Gier, die stetiges Wachstum garantiert. Sie braucht auf der einen Seite Konsumierende, die Lust haben, immer mehr zu besitzen, zu unternehmen und bereit sind, dafür zu bezahlen, sowie auf der anderen Seite Produzierende, die Produkte und Dienstleistungen möglichst günstig herstellen. Für die Produktion sieht Mandeville Arme, Kranke und Kinder vor, die gerade so viel verdienen, dass sie überleben können, um am nächsten Tag weiterzuarbeiten.
So entsteht das, was Mandeville eine „glückliche Gesellschaft“ nennt. Hiermit ist eine kleine Elite gemeint, ernährt vom Rest, der bewusst arm und unwissend gehalten wird. Der Nutzen der Armen liegt allein darin, den Reichen zu ermöglichen, ihr Geld auszugeben.
In einer Gesellschaft, deren Prosperität auf der billigen Arbeit der Unterprivilegierten basiert, sind altruistische Taten ausdrücklich zu vermeiden. Nächstenliebe ist nach Mandeville eine gefährliche Heuchelei, die das wirtschaftliche Wachstum auf das Schlimmste behindert.
Das neue Gesellschaftsmodell wurde den potenziellen Nutznießern mit einer Geschichte schmackhaft gemacht. In seiner 1714 erschienenen Bienenfabel veranschaulicht Mandeville seine Thesen für das wirtschaftliche Modell des Kapitalismus. Da es unsere Triebe und Affekte sind, die uns nach Macht und Reichtum streben lassen, bedeute ihre Förderung nicht nur, der Wirtschaft zu Aufschwung zu verhelfen, sondern auch, der Nation Gutes zu tun. Nachdrücklich fordert Mandeville die Eliten dazu auf, so egoistisch, gierig und verschwenderisch wie nur möglich zu sein. So werden nicht nur Triebe zu Tugenden, sondern Diebstahl, Prostitution, Drogenhandel und Krieg geradezu notwendig, um immerwährend für neues Wachstum zu sorgen.
Ball der Eitelkeiten
Die Französische Revolution und ihr Ruf nach sozialer Gerechtigkeit hat nichts daran geändert, dass wir heute in einem System leben, das Bernard de Mandevilles Vorstellungen Ehre macht. Alles läuft nach Plan. Bewusst werden ganze Bevölkerungsgruppen den Gelüsten der Eliten geopfert. Gezielt werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse der vergangenen Jahrhunderte ausgefiltert und dazu genutzt, hierarchische Strukturen, das Gesetz der Stärkeren und die Ohnmacht des Einzelnen zu konsolidieren.
Während Mandeville weitestgehend in Vergessenheit geraten ist, klingt der Name eines seiner Zeitgenossen bis heute nach: Jean-Jacques Rousseau. Dem großen Menschenfreund waren die Schriften Mandevilles bekannt. Doch anstatt dagegen zu argumentieren, schöpfte er aus den zu Tugenden gewordenen Lastern eine geniale Idee: Er regte an, eine Steuer auf Eitelkeiten einzurichten, auf alles, was dem Schein, dem Amüsement und dem Luxus dient. So sollten die Reichen ärmer, die Armen reicher und soziale Ungerechtigkeiten aufgehoben werden.
Revolutionäres Potenzial
Im aktuellen Frankreich ist von Rousseau und der revolutionären Parole Liberté, égalité, fraternité nicht mehr viel zu spüren. In der Grande Nation — die sich selbst als die Wiege der Menschenrechte sehen möchte — sind alle großen Medien fest in unternehmerischer Hand, werden Kinder zwangsgeimpft und gegen soziale Missstände Demonstrierende niedergeknüppelt und verstümmelt. Im Land der Gastronomie hat einer von fünf Menschen nicht genug zu essen (1). Als Präsident Emmanuel Macron 2018 die Reichensteuer abschaffte, brüskierte er nicht nur einen großen Teil des Landes. Er ermöglichte den Franzosen, sich ihres schlummernden revolutionären Potenzials zu entsinnen.
Noch sind die Menschen gespalten und zerrissen. Doch es ist eine Bewegung zu spüren, ein Summen wie in einem Bienenstock. Da geht es anders zu als in Mandevilles Fabel. Wir kennen heute nicht nur die Intelligenz der Bienen etwa bei der Orientierung und Nahrungssuche, sondern auch ihre Sensibilität und Gefühlsfähigkeit (2). Die fleißigen Bienen, so scheint es, ermächtigen sich ihrer selbst und sind nicht mehr bereit, die Eliten zu mästen.
Ihr Bewusstsein ist dabei zu erwachen. Verklebtes wird aufgelöst und verstopfte Kanäle werden frei. Noch sind wir durcheinander und haben nicht alle Sinne bei uns. Doch schon erkennen immer mehr von uns, was gespielt wird. Wir lassen uns nicht mehr die Geschichten von Schlechtigkeit und Ohnmacht erzählen, besinnen uns auf unsere hellen, lichtvollen Seiten. Wir stecken nicht mehr fest in Gier, Neid und Eifersucht. Wir haben sie durchquert und sind auf die andere Seite gelangt, dort, wo sich unser wahres Potenzial entfalten kann.
Neues Denken
Um zu unseren Stärken zu gelangen, müssen wir durch unsere Schwächen „hindurch“. So gestaltete es ein burgundischer Meister im ausgehenden 15. Jahrhundert auf einem Fresco, das die gesamte Westwand der Kathedrale von Albi einnimmt. Es ist eine Darstellung der Todsünden und des Jüngsten Gerichts. Bis zu den Knien stecken die Menschen in ihren Schwächen und waten durch sie hindurch wie durch einen Sumpf. Erst danach kommt die Erlösung. Wir alle tragen in uns Neid, Eifersucht, Gier, Hochmut, Zorn, Selbstsucht und Ignoranz. Das nicht zu erkennen, zeugt nur davon, wie sehr unsere Sinne noch verklebt und unser Bewusstsein unentfaltet sind.
„Bewusstsein über den individuellen und kollektiven Schatten herzustellen, ist die beste Methode, die Schatten aufzulösen. Bewusstsein heilt. Die Interpretation der Schatten ist eine Notwendigkeit für den nächsten Schritt in die Evolution“.
So formuliert es der amerikanische Philosoph Ken Wilber. In gewisser Hinsicht können wir damit sagen, dass uns Mandeville mit seinem abscheulichen Gesellschaftsmodell einen Gefallen getan hat: Er hat uns geholfen, der dunkelsten Schatten in uns gewahr zu werden, um sie schließlich überwinden zu können.
In diesem Bewusstsein entwickeln wir uns, wie der Physiker Hans-Peter Dürr es beschrieb, vom Homo oeconomicus zum Homo oriens, dem nach Orientierung suchenden Menschen (3). Wir wenden uns ab vom materiellen Weltbild der vergangenen Jahrhunderte, das uns — basierend auf unseren niedrigsten Trieben — nach Waren aller Art jagen ließ und suchen einen neuen Sinn, eine neue Richtung im Leben. Dabei überwinden wir das von Galileo Galilei, René Descartes und Isaac Newton geprägte Denken des 17. Jahrhunderts und halten nicht mehr an Objekten fest. Wir erkennen, dass es die Materie eigentlich gar nicht gibt, und wenden uns der geistigen Dimension des Lebens zu.
Vor mehr als 100 Jahren entdeckten die Physiker Max Planck, Albert Einstein, Werner Heisenberg und Niels Bohr, was nur ganz langsam in unsere Köpfe und Herzen sickert: Es gibt im Grunde nur den Geist. Alles Materielle ist, wie Hans-Peter Dürr es formulierte, eine Art Schlacke, verkalkter Geist. Die Nicht-Materie versteht er als Informationen, die in einem gigantischen Netzwerk miteinander kommunizieren und unsere Lebenswelt steuern. Hier ist alles offen, alles möglich. Auch das starre alte Denken in ein neues fließendes, verbindendes Denken zu verwandeln und dem Kapitalismus damit auf friedliche Weise den Boden zu entziehen.
Es liegt an uns — an jedem einzelnen von uns — sich diesem neuen Denken gegenüber zu öffnen und über unseren Schatten zu springen. Hier, auf der anderen Seite, finden wir unsere Tugenden. Wir müssen sie zunächst etwas abstauben, da sie ein wenig aus der Mode gekommen sind: Ehrlichkeit, Mäßigung, Wohlwollen, Mildtätigkeit, Gerechtigkeit, Sorgfalt, Geduld, Weisheit, Selbstkritik, Demut und Mut. Aber wenn wir sie uns etwas genauer anschauen, dann müsste es doch möglich sein, daraus etwas Schönes zu machen.
Jens Lehrich: „Nur Mut! Wenn wir uns ändern, verändert das die Welt!“
Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.
Stimmen zum Buch:
„Ich möchte allen Menschen raten, mutig zu sein, und sich nicht durch Angst erdrücken zu lassen. Wer mutig ist kann freudig und gewaltlos seinen Weg gehen. Das ist bestimmt nicht immer einfach. Aber Mut öffnet Türen, die sonst verschlossen bleiben. Die in diesem Buch abgedruckten Texte zeigen, wie wichtig Mut im 21. Jahrhundert ist.“
Dr. Daniele Ganser, Friedensforscher
„Das ist ein ganz besonders Buch, denn mit jedem seiner vielfältigen Beiträge werden Sie eingeladen, ermutigt und inspiriert, sich mit all jenen zu verbinden, die künftig nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander leben wollen.“
Dr. Gerald Hüther, Sachbuchautor und Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung
„In einer Zeit, in der regressive Kräfte sehr von den Verunsicherungen in unserer Gesellschaft profitieren, brauchen wir Mutmacher mit einem langen Atem. Menschen, die uns mit Fakten und Bildern speisen, die uns an unser eigenes Potential für Veränderung und Glück erinnern. Danke Rubikon! Für dieses Buch und für eure gesamte Arbeit.“
Veit Lindau, Autor und Bewusstseinsforscher
„Dieses einzigartige Buch macht großen Mut zur Veränderung. Es verwandelt Verzweiflung in Hoffnung, Wut in Liebe und ist ein kraftgebender Kompass durch schwere Zeiten. Für mich eines der wertvollsten Bücher der letzten Jahre.“
Jens Lehrich, Autor und Comedian
„‚Nur Mut!‘ ist ein Buch, das den Leser dazu auffordert, sich selbst zu ermächtigen. Wer sich im aufrechten Gang den Problemen dieses Planeten entgegenstellt, macht sich zwar angreifbar, kann von sich aber behaupten, in der Stunde der Bewährung seine eigene Angst besiegt zu haben. Ohne solche Menschen hat unsere Spezies keine Zukunft. Die Belohnung für gelebten Mut ist ein Leben, in dem die Angst nur noch eine untergeordnete Rolle spielt.“
Ken Jebsen, investigativer Journalist
„Nur, wenn wir uns selbst und unsere Gefühle erkennen, wenn wir unser Unbewusstes bewusst machen und aus dem kollektiven Stockholm-Syndrom, auf das man uns von Kindertagen an festgelegt und zu dem man uns erzogen hat, aussteigen, können wir wirkliche Liebe, vor allem aber unsere tägliche Unterdrückung erkennen. Dann können wir aus dem inneren wie äußeren Gefängnis aussteigen und unser eigenes Leben leben, in dem wir zu fühlen beginnen, was gut und ungut, was richtig und gelogen, was Liebe und was Ausbeutung und Unterdrückung ist. Wider den Gehorsam! Die Wahrheit schlummert in jedem von uns.“
Jens Wernicke, Autor und Publizist
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://blogs.mediapart.fr/alberteins/blog/110918/un-francais-sur-cinq-ne-mange-pas-sa-faim
(2) Für Interessierte dazu die Arbeit von Lars Chittka: http://chittkalab.sbcs.qmul.ac.uk
(3) Dazu Hans Peter Dürr: Was unsere Welt im Innersten zusammenhält, Scorpio-Verlag 2012.