Es ist amtlich: Das Raumflug-Planetarium „Sigmund Jähn“ in Halle darf nicht mehr „Sigmund Jähn“ heißen. Eine vereinte neoliberale Front aus CDU, Grünen und AfD verhinderte in der letzten Februarwoche in Halle, dass das wiedererbaute Planetarium den Namen „Sigmund Jähn“ trägt. Zuvor wollte die geballte spätkapitalistische Politprominenz der Großstadt in Sachsen-Anhalt den Neubau allen Ernstes noch „Neil-Armstrong-Planetarium“ nennen. Dafür hätte es wohl einige Bienchen im Fleißheft der Atlantikbrücke gegeben.
Eine Umfrage in der Mitteldeutschen Zeitung, in der sich die überwältigende Lesermehrheit von 80 Prozent für den Namen „Sigmund Jähn“ aussprach, nannte die hallenser CDU-Stadträtin Ulrike Wünscher: „unseriös“. Das kennen wir mittlerweile: Auch Medien, die nicht in den Lobgesang der Mächtigen einstimmen, Journalisten, die nicht agendakonform wie ihre gleichgeschalteten Kollegen der Schreibsöldnerzunft agieren, Presse, die Diskurse zulässt, wo sie von oben nicht gewünscht sind, gelten im Duktus der Partei-Eliten ebenso als: unseriös.
Gibt es eigentlich tatsächlich eine Definition des Terminus „Seriosität“, die über die Beschreibung „im Einklang mit dem Establishment“ hinausgeht? Wohl nicht ...
Aber zurück zum post mortem diffamierten Raumfahrer. Der Grund, warum das Planetarium in Halle nicht mehr den Namen Jähns tragen darf, ist einzig und allein dass der erste Deutsche im Weltall „zu 100 Prozent im Dienste des Systems DDR“ gestanden habe, so der O-Ton der CDU-Stadträtin Wünscher.
Das hat übrigens ein Großteil der mehr als 16 Millionen Menschen in diesem Land auch. Und viele davon gern und ohne Reue. Eine tiefe Beleidigung und ein Schlag ins Gesicht all dieser Menschen, von denen viele bis zuletzt durchaus an die real durchführbare Reform des „Arbeiter- und Bauernstaates“ glaubten — bis die von der BRD-Regierung forcierte Annexion der DDR einen Teil ihres Lebenswerkes hinwegfegte.
Warum mich die Farce um Sigmund Jähn so berührt: Er war der bescheidene, kluge Held meiner Kindheit. Wie in zigtausenden DDR-Kinderzimmern hing ein Wimpel von ihm auch in meinem. Als unsere Helden Thomas Müntzer, Nelson Mandela, Fidel Castro, Thomas Sankara, Ernst Thälmann, Juri Gagarin und eben Sigmund Jähn hießen. In einer Zeit, als Kids noch Kosmonauten und Kosmonautinnen werden wollten, Ingenieure, Wissenschaftler, Forscher, Archäologen — nicht Influencer.
Meine Schwester traf einst — wie viele tausend DDR-Kinder — den gutmütigen Herrn mit großem Herzen. In der Raumfahrtausstellung Morgenröthe-Rautenkranz, dem Geburtsort Jähns, hatte der alternde Kosmonaut in den 1980er Jahren für alle Kids Zeit. Und für jedes Kind einige liebevolle Worte übrig.
Damit war bereits 1990 Schluss. Nach der von der CDU generalstabsmäßig durchgeführten Annexion der DDR und dem folgenden Ausverkauf des Volkseigentums von 16 Millionen Menschen, wurde auch der „stellvertretende Leiter des Zentrums für kosmische Ausbildung“ von der neuen Elite verkauft. Die neue Führung hatte keine Verwendung mehr für den ausgemusterten Helden.
Denn dieses Deutschland der feudalen Ausbeuter und transnationalen Raubtierkapitalisten will im Osten ganz offenbar 14 Millionen steuerzahlende und gehorsame Konsumenten, die nicht aufbegehren und ihren Mund halten. Aber nicht deren Vergangenheit, nicht deren Helden, nicht deren Errungenschaften, nicht deren Werte, und schon gar nicht deren ehrendes Andenken an kleine, aber bedeutende Siege.
Das macht mich wütend und traurig. Und einmal mehr bestärkt es mich in der Gewissheit, mit diesem verachtenswerten Staat nichts zu tun haben zu wollen. Und wenn wir schon beim Terminus „System“ sind. 30 Jahre nach meiner DDR-Kindheit kann ich voller Überzeugung sagen:
Nichts, was mir meine frühe politische Bildung in einem sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat über das „System“ BRD beibrachte, war gelogen. Dieses Gesellschaftssystem basiert auf der Bereicherung sehr weniger und auf der Ausbeutung vieler. Daran gibt es nichts zu rütteln, auch wenn der Großteil der letzten „Linken“ sich heute lieber mit Gendergaga die Zeit vertreibt — als mit Klassenkampf.
Es bleibt dabei: Kapitalismus ist immer ein Kampf oben gegen unten, alles andere ist nur Wrestling.
Das erkannte übrigens auch der „Fliegerkosmonaut“ Sigmund Jähn. Der Mann hielt sich zeit seines Lebens mit politischen Aussagen zurück. Zuletzt, nur wenige Wochen vor seinem Tod am 21. September 2019, sagte er in einem Interview jedoch treffend:
„Schon vor meinem Flug war mir bewusst, wie klein und verletzbar unser Planet ist. Aber erst als ich ihn vom Weltraum aus sah, in all seiner unglaublichen Schönheit und Zartheit, erkannte ich: Die dringendste Aufgabe der Menschheit besteht darin, für die Erde liebevoll zu sorgen und sie künftigen Generationen zu bewahren. Vielleicht hatte Marx doch recht. Vielleicht wird es noch mal eine menschliche Gesellschaft geben, in der nicht EINER Milliarden besitzt, während der ANDERE gerade so durchkommt.“
Wenn das sinnbildlich für Jähns „System DDR“ steht, aufgrund dessen das zerstörte und nun wiederaufgebaute Planetarium in Halle nicht mehr den Namen des ersten deutschen Raumfahrers tragen darf, dann bin ich mehr als je zuvor und mit Stolz #TeamDDR.
Im November 2014 beschloss der Stadtrat von Halle den Abriss des Planetariums. Nachdem vollendete Tatsachen geschaffen worden waren, gestand der Stadtrat 2018 ein, dass der Abriss ein „Missverständnis“ gewesen sei. Ein haarsträubender Vorgang. Mehrere Initiativen zur Rettung des Gebäudekomplexes wurden übergangen.
Nun wurde das ehrwürdige Planetarium an anderer Stelle in Halle neu errichtet — und soll nicht mehr den Namen „Sigmund Jähn“ tragen.
„Die hinterhältigste Lüge ist die Auslassung“ schrieb Simone de Beauvoir. Genau darauf basiert der Geschichtsrevisionismus des neoliberalen Establishments.
Wie sehr muss sich die Elite fürchten: hat sie doch nicht nur alle Errungenschaften des einzigen sozialistischen Staates auf deutschem Boden mittlerweile fast ebenso ausgelöscht wie die Erinnerung vieler Menschen daran, dass es sehr wohl Alternativen zu unserem aktuell gelebten politischen Irrweg gibt. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.
Wäre Sigmund Jähn Westdeutscher gewesen, gäbe es in jeder Universität einen „Sigmund-Jähn-Saal“, in jeder Stadt eine „Sigmund-Jähn-Straße“ und das Forschungsministerium der BRD würde alljährlich stolz die „Sigmund-Jähn-Medaille“ verleihen. So aber bekam der erste Deutsche im Weltall am 40. Jahrestag seines historischen Fluges von der Bundesregierung nicht mal ein Glückwunschschreiben, keinen Blumenstrauß — nichts.
Bereits kurz nach der Wende war eine ihm zu Ehren im DDR-Berlin aufgestellte Büste entsorgt worden.
Die Helden von gestern waren keine mehr.
Das war für mich — damals neunjährig — die erste Lektion des neuen Deutschlands 1990. Mein Sigmund-Jähn-Wimpel blieb trotzdem hängen.
Die Verachtung und die historische Auslöschung des Kapitels DDR galt auch für den ersten Deutschen, der den Planeten Erde Richtung All verlassen hatte. Das war nur konsequent, immerhin verhöhnte Die Welt den Pionier bereits 10 Jahre zuvor als:
„Trittbrettfahrer und Mitesser in einer Russenrakete“
Die russophoben Headlines aus dem Hause Springer haben bis heute wahrlich keinerlei Kreativität hinzugewonnen.
Sigmund Jähn war selbst schuld. Immerhin flog der gelernte Buchdrucker aus einem 800-Einwohner-Nest im Erzgebirge, spätere Pilot und Wissenschaftler für einen friedlichen, sozialistischen Unrechtsstaat ins All. So heißt es heute zumindest. Und so lautet auch die Begründung, warum ein Planetarium, das im Jahr seines Weltraumfluges auf seinen Namen getauft wurde, diesen nicht mehr tragen darf.
Ein erfolgreicher kleiner „Unrechtsstaat“, in dem ganz sicher nicht alles perfekt war, der aber eben unter anderem den ersten Deutschen ins All schickte. Und der übrigens auch die ersten guten Bilder unseres blauen Planeten lieferte: Mit Jähn flog auch die „Multispektralkamera MKF 6“ ins All und wurde auf der sowjetischen Raumstation „Saljut 6“ fest installiert. Das Gerät aus dem volkseigenen Betrieb Carl Zeiss Jena galt unter Wissenschaftlern damals als bestes Weltraumauge weltweit. Die DDR-Kamera war technologisch führend und den Entwicklungen aller anderen Staaten weit voraus, wie das westdeutsche „Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt“ rückblickend feststellt.
Im ostdeutschen Fürstenwalde hat eine „Sigmund-Jähn-Grundschule“ die DDR überlebt. Wahrscheinlich wurde schlicht vergessen, sie umzubenennen. Vor wenigen Jahren lud man Jähn auf einen Fototermin dorthin ein.
„Nein“, sagte Sigmund Jähn. Er hätte einmal in seinem Leben erlebt, wie die Schilder mit seinem Namen über Nacht abgehängt wurden, nun müsse er sich am Ende seines Lebens nicht noch einmal anschauen, wie sie wieder aufgehängt würden.
Nur wenige Tage nach seinem Tod im September 2019 starb auch seine Frau Erika. Das ist das Positive: Beide müssen dieses niederträchtige Kapitel westdeutschen Bildersturms nicht mehr erleben.
Nein, nicht „Sieger“ schreiben die Geschichte.
Die Wahrheit ist das Kind der Zeit, nicht der Autorität.
Venceremos!
Jähn bei seiner Dankesrede für die Laudatio in der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin anlässlich seines 80. Geburtstages 2017, Bild: Reinhard Ferdinand
Relieftafeln des ehemaligen Denkmals für die GST-Fliegerschule „Fliegerkosmonaut Sigmund Jähn“ am Flugplatz Chemnitz-Jahnsdorf — Das Denkmal ist mittlerweile demontiert, die Reliefplatten verstauben in Abstell-Schuppen.