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Die Geschichtsmanipulation

Die Geschichtsmanipulation

Das Gedenken an die Befreiung Europas vom Faschismus wird instrumentalisiert.

Befreier Europas

Wie bedenklich es um das Geschichtsbewusstsein der Deutschen im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg bestellt ist, zeigte 2015 eine Umfrage von ICM Research: Auf die Frage, welches Land Europa im Zweiten Weltkrieg befreit habe, antworteten mehr als die Hälfte der befragten Deutschen, dass dies die USA gewesen seien. Lediglich 17 Prozent nannten die Sowjetunion. Die Ergebnisse einer Umfrage im letzten Jahr sind nur unwesentlich verändert (50 Prozent nannten die USA, 24 Prozent die UdSSR).

Die verdrängte Zahl

Vielleicht sollte man also einen frischen Blick auf den Zweiten Weltkrieg werfen, um abschätzen zu können, wie objektiv die Erinnerung des „Erinnerungsweltmeisters“ Deutschland ist. Peter Jahn, Historiker und langjähriger Leiter des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, hat seine Zweifel: „27 Millionen. So viele Sowjetbürger starben als Opfer des deutschen Krieges zwischen 1941 und 1945. Es ist eine Zahl, die viele hierzulande nicht kennen. Oder nicht kennen wollen“, bemerkte Jahn weiter:

„Es ist zu befürchten, dass den meisten Menschen hierzulande die ungeheuerliche Dimension des Terrors, den die Deutschen in jenen dreieinhalb Jahren über die Sowjetunion brachten, bis heute nicht wirklich klargeworden ist.“

Man darf gespannt sein, ob der heutige Tag beweist, dass diese Befürchtung, die Peter Jahn vor zehn Jahren äußerte, nicht mehr aktuell ist.

Das unvorstellbare Grauen

Der 22. Juni 1941, der Tag des Überfalls des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion, ist einer „der wichtigsten Tage in der Geschichte Europas. (…) Er war der Beginn einer Katastrophe, die sich der Beschreibung verweigert,“ bemerkt der US-Historiker Timothy Snyder. Auf der Seite der Mittelmächte stand das größte Invasionsheer der Geschichte: Fast 3,6 Millionen deutsche und verbündete Soldaten. Die Sowjetunion mobilisierte im Verlauf des Krieges mehr als 30 Millionen Soldaten. Zeitweise war die Front 3.000 Kilometer lang.

Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion ist als der brutalste und ungeheuerlichste Feldzug in die Geschichte eingegangen. Der Historiker Wolfram Wette bezeichnet diesen Krieg als „den größten Gewaltexzess in der modernen Menschheitsgeschichte“. Kein anderes Land in der Weltgeschichte hat so viele Menschen verloren wie die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Nach aktuellen Schätzungen starben 26,6 Millionen Sowjetrussen. Damit ist jeder Siebte dem Krieg zum Opfer gefallen, mehr als die Hälfte davon waren Zivilisten.

11,4 Millionen sowjetische Soldaten starben. In nur zwei Kriegsmonaten verlor die Rote Armee fast so viele Männer wie die Vereinigten Staaten und Großbritannien im gesamten Krieg. Die deutschen Streitkräfte erlitten ihre größten Verluste an der Ostfront. Bis 1944 waren hier auch ihre Hauptkräfte konzentriert. 80 Prozent ihrer Gefallenen sind dort während des Krieges ums Leben gekommen: 2,7 Millionen Soldaten.

Auch weitere Zahlen des Krieges zwischen Nazi-Deutschland und seinen Verbündeten gegen die UdSSR lassen die kaum vorstellbaren Dimensionen des Grauens erahnen. 2,8 Millionen der kriegsgefangenen Sowjetrussen wurden als Zwangsarbeiter für die Industrie Nazideutschlands rekrutiert. Aber dieses Schicksal war sogar erstrebenswerter als die Kriegsgefangenenlager. Niemals in der Geschichte starben so viele Kriegsgefangene in so kurzer Zeit wie Rotarmisten in deutscher Hand, besonders während der Monate von Oktober 1941 bis Mai 1942. Von den rund 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen waren 3,3 Millionen verhungert, erfroren, an Seuchen gestorben oder erschossen worden, also etwa 57 Prozent. Hingegen starben nur 3,5 Prozent britische oder US-amerikanische Soldaten in deutscher Gefangenschaft. Timothy Snyder stellt einen erhellenden Vergleich an: „An einem beliebigen Tag im Herbst 1941 starben ebenso viele sowjetische Kriegsgefangene wie britische und amerikanische Kriegsgefangene während des ganzen Krieges.“ Von 3,15 Millionen gefangenen deutschen Soldaten überlebten hingegen zwei Drittel die Gefangenschaft in sowjetischen Lagern, die teilweise mehr als zehn Jahre dauerte.

Insgesamt erlebten ca. 60 Millionen Sowjetbürger die deutsche Besatzung, 16,5 Millionen von ihnen wurden evakuiert. Die Zahl der Deutschen, die während des Zweiten Weltkriegs und in den anschließenden Jahren ihre Heimat verloren, überstieg zwölf Millionen.

Lebensraum im Osten

„Untersuchungen zur Geschichte des deutsch-sowjetischen Krieges verdrängen allzu oft den schlichten Tatbestand, dass der deutsche Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941 einer primär wirtschaftlichen Zielsetzung folgte, nämlich ‚Lebensraum im Osten’ zu erobern“, schreibt der Historiker Rolf-Dieter Müller. Christian Hartmann unterstreicht, dass der Feldzug „von vornherein als rassenideologischer Vernichtungskrieg“ konzipiert war.

Adolf Hitler stellte im Oktober 1941 klar: „Es gibt nur eine Aufgabe: eine Germanisierung durch Hereinnahme der Deutschen vorzunehmen und die Ureinwohner als Indianer zu betrachten.“

Tatsächlich war Hitler der Ansicht, dass „diese Völker uns gegenüber in erster Linie die Aufgabe haben, uns wirtschaftlich zu dienen“, weshalb es darauf ankomme, „aus den besetzten russischen Gebieten herauszuholen, was sich herausholen lasse.“

Zwei Tage vor Kriegsbeginn betonte Hitler noch einmal den rein wirtschaftlichen Aspekt des Überfalls: „Das Ziel muss also sein, sich alle die Gebiete, die für uns wehrwirtschaftlich von besonderem Interesse sind, durch Eroberung zu sichern.“ Auf einer Besprechung am 16. Juli 1941 skizzierte er seine entsprechende Vorstellung vom künftigen Schicksal des Ostens: „Besetzen, verwalten, ausbeuten.“ Die Ausbeutung der Sowjetunion erschien anfangs vielversprechend. Und Ende 1941 jubelte ein Vorstandsmitglied der Dresdner Bank über den „größten Amortisierungsplan der Geschichte."

Propagandaminister Joseph Goebbels fasste die perverse Ausbeutungsstrategie in bizarr poetische Bilder: „Dieser Krieg wird nicht für Thron und Altar geführt, sondern er ist ein Krieg für Getreide und Brot, für einen vollgedeckten Frühstücks-, Mittags- und Abendtisch, ein Krieg für die Erringung der materiellen Voraussetzungen zur Lösung der sozialen Frage, der Frage des Wohnungs- und Straßenbaus, des Baues einer Kriegs-, Handels- und Reiseflotte, des Baues von Volkswagen und Traktoren, von Theatern und Kinos für das Volk bis ins letzte Dorf hinein, ein Krieg um die Rohstoffe.“

Hungerplan und Generalplan Ost

Die menschenverachtende Kriegsplanung, deren Hauptziel die wirtschaftliche Ausbeutung war, lässt sich unter anderem anhand verschiedener Dokumente nachweisen, die Bestandteil des sogenannten „Hungerplans“ oder „Hungerkalküls“ waren und zum Teil bereits vor Kriegsbeginn verfasst wurden. So steht in der Aktennotiz einer Besprechung der Staatssekretäre am 2. Mai 1941, dass „zweifellos zig Millionen verhungern, wenn das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.“ In den „Wirtschaftspolitischen Richtlinien“ vom 23. Mai 1941 hieß es hierzu: „Viele 10 Millionen von Menschen werden in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen.“

Der sogenannte „Generalplan Ost“ formulierte die rechtlichen, wirtschaftlichen und räumlichen Grundlagen für die Siedlungspolitik im neuen Lebensraum. Anders ausgedrückt, er war die „genozidale Strategie der ‚Germanisierung’ des gesamten ‚Ostraums’“. Das Ziel des Plans war das Ziel, „31 Millionen Menschen auszusiedeln und 14 Millionen als Arbeitskräfte und Einzudeutschende in den Siedlungsgebieten zu belassen.“ Dies entsprach ganz der Devise von SS-Reichsführer Heinrich Himmler: „Unsere Aufgabe ist es, den Osten nicht im alten Sinne zu germanisieren, das heißt dort wohnenden Menschen deutsche Sprache und deutsche Gesetze beizubringen, sondern dafür zu sorgen, dass im Osten nur Menschen wirklich deutschen, germanischen Blutes wohnen.“

Die biologische Komponente des Kriegs formulierte Himmler noch schärfer:

„Zweck des Russlandfeldzugs ist die Dezimierung der slawischen Bevölkerung um 30 Millionen.“

Angesichts solcher Zielsetzungen muss man die Position von Erhard Wetzel, Rassendezernent des Ostministeriums, fast schon zurückhaltend nennen: „An einer völligen biologischen Vernichtung des Russentums können wir jedenfalls so lange kein Interesse haben, als wir nicht selbst in der Lage sind, mit unseren Menschen den Raum zu füllen.“

Pikant auf den Punkt gebracht wird die perverse Strategie der Deutschen vom
Rüstungsinspekteur der Ukraine, Generalleutnant Hans Leykauf: „Man muß sich darüber klar sein, daß in der Ukraine letzten Endes nur die Ukrainer durch Arbeit Wirtschaftswerterzeugen können. Wenn wir die Juden totschießen, die Kriegsgefangenen umkommen lassen, die Großstadtbevölkerung zum erheblichen Teile dem Hungertode ausliefern, im kommenden Jahre auch einen Teil der Landbevölkerung durch Hunger verlieren werden, bleibt die Frage unbeantwortet: Wer denn hier eigentlich Wirtschaftswerte produzieren soll.“

Gezielte Völkerrechtsverletzungen

Es kann nicht genug betont werden, dass viele der beschriebenen Dokumente und Aussagen aus der Zeit vor dem Kriegsbeginn gegen die Sowjetunion stammen, also keine Reaktion auf ein etwaiges sowjetisches Verhalten. Verstärkt wird die Schwere der kriminellen Kriegsführung von deutscher Seite durch eine Reihe von gezielten Völkerrechtsverletzungen.

Gut fünf Wochen vor Kriegsbeginn schob der sogenannte Kriegsgerichtsbarkeitserlass „elementarste kriegsvölkerrechtliche Grundsätze beiseite“ (Christian Streit) und „bildete die Basis für die nahezu völlige Entrechtung der Zivilbevölkerung“ (Dieter Pohl). Der Erlass ordnete unter anderem an, dass kein Verfolgungszwang bei Straftaten von Angehörigen der Wehrmacht gegen Einwohner der besetzten Gebiete bestehe und „erlaubte ‚kollektive Gewaltmaßnahmen’ gegen ganze Ortschaften. Zugleich ermächtigte er jeden einzelnen Offizier, verfahrenslose Exekutionen von ‚verdächtigen’ Zivilisten anzuordnen. Er bildete damit die Grundlage der deutschen Gewaltpolitik gegen die Zivilbevölkerung.“

Die „Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare“, die zwei Wochen vor Kriegsbeginn erlassen wurde, enthielt die Anweisung, dass Politkommissare der sowjetischen Armee nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, sondern ohne Verhandlung zu erschießen seien. Um die Dimensionen allein dieser Anordnung besser einordnen zu können, muss darauf hingewiesen werden, dass zu diesem Zeitpunkt die KPdSU etwa 2,5 Millionen Mitglieder hatte. Diese Größenordnung war auch im Deutschen Reich bekannt. In 60 bis 80 Prozent aller Divisionen kam dieser sogenannte Kommissarbefehl zur Ausführung.
Bereits die oben angeführte extreme Sterblichkeitsquote unter den Kriegsgefangenen der Roten Armee legt nahe, dass von einem völkerrechtlichen Schutz der Gefangenen keine Rede sein konnte.

Schon drei Monate vor dem Krieg hatte Adolf Hitler die Marschroute vorgegeben: „Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf.“ Ganz in diesem Sinne lautete der Ausspruch General Eduard Wagners, Generalquartiermeister im Oberkommando des Heeres, gegenüber den Stabschefs der Armeen und Heeresgruppen: „Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Gefangenenlagern haben zu verhungern.“

Das Oberkommando der Wehrmacht bezeichnete im September 1941 ausdrücklich den „Waffengebrauch gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen in der Regel als rechtmäßig“. Ganz in diesem Sinne berichtete Oberst Lahousen über einen Befehl an die 6. Armee, „daß alle schlappmachenden Kriegsgefangenen zu erschießen sind. Bedauerlicherweise wird dies an der Straße, selbst in Ortschaften vorgenommen, so daß die einheimische Bevölkerung Augenzeuge dieser Vorgänge ist.“

Die Metropole an der Newa

Besonders eindrücklich zeigt sich das mörderische Kalkül des Deutschen Reiches am Schicksal Leningrads. Am 8. September 1941 eroberte die deutsche Wehrmacht den Leningrader Vorort Schlüsselburg und schloß damit die Metropole ein. Vor 75 Jahren begann damit „die größte, die Zivilbevölkerung betreffende Katastrophe der bekannten Geschichte“ (Timo Vilhavainen).

Ganze 872 Tage, bis zum 27. Januar 1944, dauerte die Blockade und hungerte Leningrad. Rund eine Million Zivilisten starben. Das sind rund doppelt so viele Zivilisten wie im Deutschen Reich während des gesamten Kriegs durch alliierte Luftangriffe umgekommen sind.

Geplanter Massenmord

Bereits zwei Wochen nach Kriegsbeginn sah die Zukunft der 3,2-Millionen-Stadt düster aus. Franz Halder, Generalstabschef des Heeres, notierte: „Feststehender Entschluss des Führers ist es, Moskau und Leningrad dem Erdboden gleich zu machen, um zu verhindern, dass Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müssten.“

Reichsmarschall Hermann Göring, der die ökonomische Ausbeutung der besetzten Gebiete koordinierte, erklärte lapidar: „Aus wirtschaftlichen Überlegungen ist die Eroberung großer Städte nicht erwünscht, ihre Einschließung ist vorteilhafter.“ Entsprechend schrieb Generalquartiermeister Eduard Wagner seiner Frau: „Der Nordkriegsschauplatz ist so gut wie bereinigt, auch wenn man nichts davon hört. Zunächst muß man sie in Petersburg schmoren lassen, was sollten wir mit einer 3,2 Mill. Stadt, die sich nur auf unser Verpflegungsportemonnaie legt. Sentimentalitäten gibt’s dabei nicht.“

Sentimentalitäten gab es tatsächlich keine, wie die Weisung der Heeresgruppe Nord beweist: „Jedes Ausweichen der Zivilbevölkerung gegen die Einschliessungstruppen ist - wenn notwendig unter Waffeneinsatz - zu verhindern.“

Der Soldat Wolfgang Buff schrieb in seinem Tagebuch, dass dieser menschenverachtende Befehl offenbar in die Realität umgesetzt wurde: „Den ganzen Tag hört man in der Ferne den Kanonendonner von Leningrad her. Es sind vielleicht die schweren Geschütze der Festungsinsel Kronstadt, auf der die Russen hundert Batterien gegen uns feuern lassen. Doch ist die Lage der Stadt, von der unsere Truppen zum Teil nur zehn Kilometer entfernt sind, mehr als verzweifelt. Hunger und Seuchen wüten dort. Die Zivilisten hatten die Russen hinausgeschickt, aber von uns wurden sie wieder zurückgeschickt.“

Keine Kapitulation

Die Weisung für die Heeresgruppe Nord am 28. September 1941 war eindeutig: „Eine Kapitulation ist nicht zu fordern." Das Schicksal der Weltstadt war somit entschieden. Das Schreiben der Seekriegsleitung war noch schärfer formuliert: „Sich aus der Lage der Stadt ergebende Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden, da das Problem des Verbleibens und der Ernährung der Bevölkerung von uns nicht gelöst werden kann und soll. Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung besteht in diesem Existenzkrieg unsererseits nicht.“

Eine Woche später wurde die Entscheidung bestätigt. Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtsführungsstabs schrieb: „Der Führer hat erneut entschieden, dass eine Kapitulation von Leningrad oder später von Moskau nicht anzunehmen ist, auch wenn sie von der Gegenseite angeboten würde.“ (Jodl rechtfertigte dies durch eine mögliche Unterminierung Leningrads, wie es in Kiew geschehen war, wo Explosionen 200 Deutschen das Leben kosteten und 10 bis 25.000 Einwohner obdachlos machten) Gegenüber Walther von Brauchitsch, Oberbefehlshaber des Heeres, bestätigte Hitler die Entscheidung. Dies war Todesurteil für die mehr als drei Millionen Menschen innerhalb des Blockaderings.

Nüchtern notierte Wilhelm Ziegelmayer, Ernährungsexperte des Oberkommandos der Wehrmacht: „Wir werden uns auch künftig nicht mit Forderungen nach einer Kapitulation Leningrads belasten. Es muß durch eine wissenschaftlich begründete Methode vernichtet werden.“

Es kann nicht deutlich genug betont werden: Die Blockade Leningrads ist ein Sonderfall der Geschichte, denn niemals zuvor ist die Einnahme einer Stadt ausgeschlossen und der Hungertod aller Einwohner eingeplant worden.

Das anvisierte Schicksal Leningrads spiegelt sich auch im „Generalplan Ost“ vom Juni 1942 wider. Dieser sah vor, dass für das Gebiet um Leningrad „die künftige Stadtbevölkerung mit 200.000 angenommen“ wurde. Also ganze drei Millionen weniger als zu Beginn des Krieges. Im „Entwurf eines Raumordnungsplans für das Ostland“ vom November 1942 gingen die Autoren sogar davon aus, dass diese Region „nach Ablauf der Kampfhandlungen relativ entvölkert sein“ werde.

Persönliche Schicksale

Die Schriftstellerin Lidia Ginsburg beschrieb wie kaum ein anderer Mensch den Horror des Hungers in ihrem Buch „Aufzeichnungen eines Blockademenschen“:

„Weshalb war der Hunger (die Deutschen hatten das begriffen) der stärkste Gegner? Weil Hunger permanent gegenwärtig ist, sich nicht abstellen lässt. Er ist überall anwesend und macht sich unaufhörlich bemerkbar; am qualvollsten, am schlimmsten ist er während des Essens, wenn sich das Essen mit entsetzlicher Geschwindigkeit dem Ende nähert, ohne den Hunger zu stillen.“

Auch die Veränderungen des Körpers entgingen ihrem Blick nicht:

„Mit dem entfremdeten Körper geschehen abscheuliche Dinge: Er degeneriert, schrumpft, schwillt an, und das gleicht keiner guten alten Krankheit, weil die Veränderungen sich wie an toter Materie vollziehen. Manche nimmt der Betroffene nicht einmal wahr. »Er ist doch schon ganz aufgedunsen«, sagt man von ihm, während er noch nichts davon ahnt. Die Menschen wussten lange nicht, ob sie aufgedunsen waren oder zugenommen hatten. Plötzlich begreift der Mensch, dass sein Zahnfleisch anschwillt. Entsetzt berührt er es mit der Zunge, betastet es mit dem Finger.
Vor allem nachts kann er lange nicht damit aufhören. Er liegt da und befühlt konzentriert etwas Taubes und Schleimiges, das gerade wegen seiner Unempfindlichkeit schrecklich ist: In seinem Mund ist eine Schicht toter Materie.“

Aber auch eine Vielzahl von Tagebüchern, die zu einem kleinen Teil auch ins Deutsche übersetzt sind, dokumentiert das unvorstellbare Grauen. So schrieb der neunzehnjährige Alexander Schoschmin folgendes Erlebnis nieder: „Eine alte und schon total erschöpfte Frau, die lange angestanden hatte, rutschte plötzlich aus und stürzte. Die Untertasse fiel zu Boden, und die «Eier» gluckerten aufs Eis. Die Frau kroch kniend an den Unglücksort und wollte den vereisten Weg ablecken. Doch eine andere Frau war ihr zuvorgekommen und hatte die Sache schon so gut wie erledigt. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich, daß ein Mensch im Wutanfall wie ein Hund knurren kann. Dann fiel die Frau langsam auf die Seite und blieb bewegungslos liegen. Der Verlust ihrer Eierration war für sie wohl unerträglich. Die tote Frau lag auch am nächsten Tag an gleicher Stelle mit lockerem Schnee bedeckt. Ihre leere Untertasse lag nach wie vor neben ihr.“
Vielleicht am eindrücklichsten sind die wenigen Tagebuchseiten der zwölfjährigen Tanja Savicheva:

„28. Dezember 1941 um 12.30 Uhr morgens - Schenja starb.
25. Januar 1942 um 3 Uhr nachmittags - Oma starb.
17. März um 5 Uhr morgens - Ljoka starb.
13. April um 2 Uhr morgens - Onkel Wasja starb.
11. Mai um 4 Uhr nachmittags - Onkel Joscha starb.
13. Mai um 7.30 Uhr morgens - Mama starb.
Die Savichevs sind tot. Alle sind tot.
Nur Tanja ist noch übrig.“

Tanja Savicheva selber wurde 14 Jahre alt.

Genozid

Der US-amerikanische Historiker Richard Bidlack und sein russischer Kollege Nikita Lomagin stellen fest: „Nach dem Holocaust war die Blockade Leningrads der größte Akt eines Genozids in Europa während des Zweiten Weltkrieges.“ Auch die deutschen Historiker Jörg Ganzenmüller und Christian Hartmann sprechen explizit von einem „Genozid“. Karl Schlögel betont, heute sei „unbestritten, dass die über Leningrad verhängte Blockade zu den großen Kriegsverbrechen zu zählen ist“.

Nicht Leningrad, sondern Stalingrad

Dennoch fand die Blockade von Leningrad im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland keinen würdigen Platz. Stattdessen wurde Stalingrad zum zentralen Erinnerungsort des deutsch-sowjetischen Krieges. In unzähligen Romanen, Filmen und Zeitungsartikeln war diese Schlacht in der Öffentlichkeit seit den fünfziger Jahren präsent.

„Diese zentrale Rolle in der deutschen Kriegserinnerung wuchs Stalingrad zu, weil sich die Wehrmacht hier als Opfer inszenieren konnte. Der sinnlose Haltebefehl Hitlers und sein nicht erfülltes Versprechen, den Kessel über eine Luftbrücke zu versorgen, standen für die Selbstüberheblichkeit eines in Operationsfragen inkompetenten Hitler sowie für die Rücksichtslosigkeit eines fanatischen Weltanschauungstäters gegenüber den eigenen Soldaten,“ kommentiert Ganzenmüller.

Während Bücher über das Schicksal der 6. Armee in deutschen Buchhandlungen ganze Regale füllen, kann man Darstellungen der Blockade Leningrads von deutschen Historikern an einem Finger abzählen. Aber auch in den Werken über Stalingrad fehlte jahrzehntelang eines: die Erwähnung des nicht minder leidenden Gegners und den Einwohnern, die bis zum Schluss noch in der Stadt lebten.

Scheue Erinnerung

Im Jahr 2001 legte der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder gemeinsam mit Präsident Vladimir Putin, dessen ältester Bruder in der Blockade verstorben ist, auf dem zentralen Gedenkort der Blockadeopfer in Leningrad einen Kranz nieder und erkannte somit symbolisch das Leiden der Leningrader Bevölkerung während der deutschen Belagerung an.

Vor drei Jahren schrieb der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck an den russischen Präsidenten: „Deutschland ist sich seiner geschichtlichen Verantwortung für das Leid, das den Einwohnern Leningrads angetan wurde, und für die brutale Kriegsführung seiner Soldaten, Einsatzgruppen und SS-Formationen bewusst.“ Es bleibt zu hoffen, dass hier nicht der Wunsch Vater des Gedanken ist. Der Begriff „Kriegsverbrechen“ und „Genozid“ wird in der deutschen Politik – im Gegensatz zu der Geschichtswissenschaft – weiterhin tunlichst gemieden.
Selten hört man so klare Worte über die deutsche Schuld wie sie der junge Soldat Willy-Peter Reese niederschrieb, bevor er im Krieg verschollen ging:

Wir sind der Krieg. Weil wir Soldaten sind.
Ich habe alle Städte verbrannt
Alle Frauen gewürgt
Alle Kinder geschlagen
Allen Raub genommen vom Land.
Ich habe Millionen Feinde erschossen,
alle Felder vernichtet, die Dome zerstört,
die Seelen der Menschen verheert,
aller Mütter Blut und Tränen vergossen.

Ich habe es getan. - Ich tat
Nichts. Aber ich war Soldat.

Erinnerung an Kriegsgefangene

2015 erinnerte der ehemalige Bundespräsident Gauck an die sowjetischen Kriegsgefangenen. Ihr Tod sei „eines der größten deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs“ gewesen. Gauck war aber deutlich zurückhaltender, was die deutsche Erinnerung angeht. So gestand er, dass das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen „nie angemessen ins Bewusstsein gekommen (sei) – es liegt bis heute in einem Erinnerungsschatten“.

Jahrzehntelang hatten sich jedoch sowjetische Kriegsgefangene erfolglos um eine Entschädigung bemüht. Erst 2015 erkannte ihnen schließlich der deutsche Bundestag eine “finanzielle Anerkennungsleistung” in Höhe von 10 Millionen Euro zu. Es leben nur noch etwa 4.000 ehemalige Kriegsgefangene, sodass jeder eine Entschädigung von 2.500 Euro erhalten soll.

Erinnerungsorte

Peter Jahn wünschte sich schon vor fünf Jahren, dass in Deutschland „ein Ort der Erinnerung für die Millionen Opfer geschaffen würde, die unter der Prämisse des antislawischen Rassismus zwischen 1939 und 1945 ermordet wurden“ und der Journalist und Autor Jens Bisky stellt in der Süddeutschen Zeitung die Frage „warum es in Deutschland noch kein Denkmal für die sowjetischen Kriegsgefangenen gibt“.

Der Historiker Wigbert Benz spricht von einem „grotesken Missverhältnis der Schwere des Großverbrechens zu seiner gegenwärtigen Erinnerung im Gedächtnis der Deutschen.“
Für Christian Streit hat der Prozess der Verdrängung schon während des Krieges begonnen: „Die Erinnerungen an den deutschen Überfall 1941 und die damals eingeführten Methoden der Kriegsführung und der Besatzungspolitik wurde bei den meisten Soldaten – wie im öffentlichen Bewusstsein überhaupt – überlagert von der Erinnerung an die erbitterten, blutigen Abwehrkämpfe gegen die übermächtig gewordene Rote Armee. Der Angriffs- und Eroberungskrieg wurde umstilisiert zum Verteidigungskrieg.“

Rache

Die sehr starken Rachegefühle der Roten Armee sind nicht zu leugnen, als sie deutschen Boden betraten. So schrieb ein sowjetischer Soldat:

„Unsere Männer sind mit Ostpreußen nicht schlimmer umgegangen als die Deutschen mit Smolensk. Wir hassen Deutschland und die Deutschen sehr. In einem Hause z. B. haben unsere Jungs eine ermordete Frau mit 2 Kindern gesehen. Auch auf den Straßen sieht man oft ermordete Zivilisten. Und die Deutschen haben diese Gräueltaten verdient, mit denen sie angefangen haben. Man braucht nur an ›Majdanek‹ zu denken ... Gewiss, es ist unwahrscheinlich grausam, die Kinder zu töten, aber die deutsche Kaltblütigkeit in Majdanek ist hundertmal schlimmer gewesen.“

Aber vielleicht ist dieser Rachedurst zumindest etwas nachvollziehbar, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die Rote Armee tausende von Kilometern der Heimat befreite und großteils nur verbrannte Erde und viele Tote vorfand. So wie der jüdische Schriftsteller Wassili Grosman. Nachdem er den Wohnort seiner Mutter erreicht hatte und dort alle jüdischen Einwohner ermordet worden waren, ist er der erste Journalist, der Treblinka betritt. Am Ende seiner Aufzeichnungen beschreibt er:

„Wir gehen weiter über die bodenlose, schwankende Erde von Treblinka und bleiben plötzlich stehen. Kupferglänzendes, dichtes welliges Haar eines jungen Mädchens, das hier in den Boden getrampelt ist. Daneben blonde Locken, etwas weiter dicke Zöpfe im hellen Sand. Es werden immer mehr. Sicher der Inhalt eines, nur eines jener Säcke, der vergessen, nicht abtransportiert wurde. Es ist alles wahr. Die letzte irre Hoffnung, dies könnte nur ein böser Traum gewesen sein, verfliegt. Die Schoten der Lupinen platzen, die Samen fallen, als ob tatsächlich aus der Tiefe der Erde kleine Glöckchen zum Begräbnis läuteten. Und mir scheint, das Herz müsste mir stehen bleiben, zusammengepresst von solcher Trauer und solchem Leid, die kein Mensch ertragen kann.“

Unter diesen Umständen ist es besonders beeindruckend, dass Grossman die menschliche Größe hat, mit ebenso viel Empathie die Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Rotarmisten zu beschreiben.

Erinnerung ist zentral für Zukunft

Den Worten der Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sie anlässlich eines Besuchs in Jerusalem 2007 sprach, kann man auch im Hinblick auf die Sowjetunion nur zustimmen:

„Nur indem mein Land, nur indem Deutschland seine immerwährende Verantwortung für diese schrecklichste Zeit und für die grausamsten Verbrechen in seiner Geschichte voll und ganz annimmt, können wir die Zukunft gestalten – nur so und nicht anders.“

Die Hoffnung stirbt zuletzt

„Der Aufarbeitung der Vergangenheit haftet in Deutschland (...) etwas
Gleichförmiges und Geschäftsmäßiges an. Das hat damit zu tun, dass die immergleichen Gedenktage wie der 1. September, der 22. Juni oder der 8. Mai routiniert bewirtschaftet werden“, geben die Historiker Manfred Sapper und Volker Weichsel zu bedenken.

Bleibt nur zu hoffen, dass sie für den 8. Mai 2017 nicht Recht behalten sollen. Es ist mehr als wünschenswert, dass die Deutschen sich nach all den Jahren auch den blinden Flecken ihrer eigenen Geschichte stellen und sich nicht auf den Lorbeeren des „Erinnerungsweltmeisters“ ausruhen. „Die Erinnerung ist unabgeschlossen“ wie die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann mahnt.

Das letzte Wort soll der siebzehnjährige Soldat Helmut Altner haben. Als er wenige Tage vor Kriegsende gefangen genommen wird, erlebt er Folgendes:

„Ich bin etwas zurückgeblieben, da die Schmerzen im Fuß unerträglich sind. Die Russen laufen verstreut zwischen uns umher. In uns allen ist eine bange Frage: «Was nun? Werden wir umgebracht, wie es uns erzählt worden war? Oder haben wir noch eine Galgenfrist?» Plötzlich bleibt ein Russe stehen und wartet auf mich, da ich der Letzte bin. Ich denke: «Das ist das Ende!» Langsam gehe ich auf ihn zu. Dann faßt er mich am Arm. Ich fürchte, er will mich wegziehen, irgendwohin, wo uns keiner sieht, um mit mir Schluß zu machen. Doch merke ich plötzlich, daß er mich stützt. Daß er Schritt für Schritt neben mir läuft und mich führt. Er gibt mir eine Zigarette und zündet sich selbst eine an. «Krieg kaputt! Alles nach Hause! »spricht er zu mir. Ich bin wie erstarrt. Die ungeheure Spannung der letzten Tage fällt in sich zusammen. Ich kann plötzlich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Tränen der Erleichterung, daß der Gegner menschlich ist. Tränen der Schmach, daß ich etwas anderes glauben konnte.“

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