Advent. Im Lateinischen bedeutet das Wort adventus das Herankommen, das Zugehen auf etwas nicht Planbares, nicht Prognostizierbares. Advent, so schrieb ich es vor einem Jahr an dieser Stelle, ist dem Adventure verwandt, dem Abenteuer, dem, was wir nicht vorhersehen können (1). Es ist die Ankunft von etwas vollkommen Neuem, etwas, was wir noch nicht kennen. Somit ist Advent das Gegenteil von dem, was wir gemeinhin anstreben: die Kontrolle zu erlangen über die Vorgänge des Lebens, um das Wilde, Unvorhersehbare zu zähmen.
Früh sind die ursprünglichen Abenteurer zu Eroberern geworden. Schon unsere ersten Schritte, so steht es geschrieben, hatten zum Ziel, uns die Welt untertan zu machen. Zunächst taten wir es zögerlich. Wie die Kinder tasteten wir uns voran, entdeckten, probierten, experimentierten und begeisterten uns über das, was wir fanden. Doch mit der Zeit wurden unsere Schritte forscher und dominanter unser Auftreten, mit dem wir immer tiefere Spuren hinterließen.
Was wir einmal entdeckt hatten, wollten wir nicht mehr loslassen. Wir gaben uns nicht damit zufrieden, die Dinge einfach zu betrachten, uns von ihnen durchdringen zu lassen und zu spüren, was das Entdeckte in uns auslöste. Wir wollten das, was wir fanden, beherrschen, ausschöpfen, uns zunutze machen. Das Steuer übernehmen wollten wir, die Ereignisse lenken. Besitzen wollten wir, was uns in die Finger geriet. So leer fühlten wir uns, so schmerzhaft pochte die Angst vor dem Mangel, dass wir über das Haben das Sein vergaßen.
Kulturelle Abeignung
Unser Wille soll geschehen. Die Welt soll dem Takt folgen, den wir ihr vorgeben. Die Nacht haben wir zum Tag gemacht und den Tag zur Nacht. Dem Lebendigen haben wir die Geheimnisse entrissen, bis es uns banal genug schien, es vernichten zu können. So weit sind wir von allem Unergründlichen, Geheimnisvollen, Wunderbaren fortgeschritten, dass es uns heute als suspekt erscheint, verdächtig, okkult. Die alten Riten und Zeremonien, so weiß unsere aufgeklärt-woke Gesellschaft, sind reaktionärer Tand, esoterisch und damit rechts, gefährlich und zu vermeiden.
In meiner Wahlheimat Frankreich hängen erschlaffte aufblasbare Weihnachtsmänner oft bis Ostern an den Balkonen. Was einmal Sinn machte, ist zur Deko mutiert. So manche Krippe bleibt leer. Laizismus verpflichtet. Keine Minderheit soll sich am Christuskind stoßen, niemand sich darüber empören können, dass hier möglicherweise Proselytismus betrieben wird.
In Deutschland haben drei Jahre „Schutzmaßnahmen“ die Kirchen geleert, die Familien entzweit und die Freude am Zusammensein zerstört. Was bleibt, ist die Hoffnung auf ein neues Jahr, das besser wird als das alte.
Und das kann es in der Tat! Wenn wir im Advent wieder das Adventure erkennen, das Abenteuer, und uns darauf einlassen, dass leben mehr ist, als es möglichst bequem zu haben, dann kann sich uns eine Zukunft eröffnen, die es in sich hat.
Der Ruf des Abenteuers
Anstatt uns unser Leben mit allerlei Ablenkungsmanövern erträglich zu machen, können wir in ihm wieder das Abenteuer suchen, in dem wir selbst zum Helden werden. Keine Helden, die, wie es die Bundesregierung anriet, mit der Chipstüte auf dem Sofa sitzen bleiben und sich mit stumpfem Blick ihr eigenes Leben wie einen Film anschauen, sondern Helden, die sich dessen bewusst sind, dass sie gleichzeitig Protagonist, Regisseur und Leinwand sind.
Das Leben eines Helden beschränkt sich nicht auf das heimische Wohnzimmer, sondern umfasst ein ganzes Universum. Helden haben mehr drauf, als auf Fernbedienungen zu drücken. Sie nehmen ihr eigenes Leben in die Hand — nicht das der anderen. Denn wirkliche Helden haben verstanden, dass sie zu einem zusammenhängenden, sensiblen Ganzen gehören, in dem das eigene Handeln Konsequenzen hat, die früher oder später zu ihnen selbst zurückkommen.
Die Helden, die das Abenteuer Advent ruft, sind von der Autobahn abgebogen. Sie sind jenseits der Verkehrsschilder unterwegs, die sie letztlich zu Affen machen. Die Wege, die ein Held einschlägt, sind noch nicht erforscht. Niemand ist zuvor dort gegangen, wohin er seinen Fuß setzt.
Das Neue erschließt sich nicht über ausgefahrene Wege und vorgeschriebene Pfade. Das Leben, das der Advent ankündigt, ist keine Wiederholung des Immergleichen in neuem Glitter, sondern so grundsätzlich neu, dass wir es uns nicht einmal vor-stellen können.
Die Zeit ist reif
Der viel zitierte Paradigmenwechsel, in dem wir uns befinden, verlangt uns mehr ab als unsere guten Absichten und unser Engagement. Wir haben gesehen, wohin die Hybris führt, sich im Sinne einer vermeintlich guten Sache „solidarisch“ zu verhalten. Der Wandel, der sich hier vollzieht, ist die beherzte Abkehr von einer Welt, in der wir uns von außen etwas vorgeben lassen, von einer Welt, in der die Hierarchien herrschen und das Recht des Stärkeren, in der wir nach Anerkennung und Ruhm heischen, ohne uns selber zu erkennen.
Wir lassen die Welt hinter uns, in der wir uns an äußere Werte und materiellen Reichtum klammerten und unseren inneren Wert und geistigen Reichtum vergessen haben, eine Welt, in der das Überleben mehr zählte als das Leben. Wir glauben nicht mehr die Geschichten vom künstlich erzeugten Mangel, von Killerviren und notwendigen Kriegen und von einer Technik, die uns von allen Übeln befreit. Diese Zeit ist vorbei. Was wir gerade mitbekommen, ist der Todeskampf von Mächten, die nicht einsehen wollen, dass ihr Ende gekommen ist. Ihr Spiel ist aus. Sie haben sich verzockt. Sie sind entlarvt. Jeder kann sie sehen, der sie sehen will. Jeder, der sie nicht sehen will, wird mit ihnen untergehen.
Es liegt an uns, unsere Position zu wählen: in der Herde verrecken oder als Individuen neu geboren werden, als ganz und gar unteilbare, vollständige Wesen, von denen jedes ein einzigartiges Universum ist.
Auch wenn es jetzt bewegt zugeht: Das Chaos birgt Ordnung in sich. Die Natur macht keine Fehler, das Leben irrt sich nicht. Hier gibt es nur Gesetze, die, wenn sie nicht befolgt werden, zu entsprechenden Konsequenzen führen.
Nichts ist verkehrt von dem, was geschieht. Verkehrt ist unsere Sichtweise darauf. Es ist das Querdenken, das uns quasi wieder auf die Füße gestellt und für neue Dimensionen des Lebens geöffnet hat, für ein neues Wahrnehmen, ein neues Erleben. Hier werden Probleme, welcher Art auch immer, nicht bekämpft, sondern als Chance angenommen, als ein Zeichen für das, was wir uns noch nicht ins Bewusstsein gerufen und noch nicht zum Ausdruck gebracht haben.
Vom Opfer zum Helden
Wenn wir das erkennen, können wir in jeder Hinsicht gesund werden. Wir ertragen nicht mehr, was das Leben uns aufbürdet. Wir beschweren uns nicht mehr und krümmen nicht mehr den Rücken, indem wir anderen etwas nachtragen. Wir werden ganz leicht wie Schmetterlinge, die sich aus ihrem Kokon befreit haben. Voller Freude taumeln sie durch die Luft und tun nichts weiter, als wahrzunehmen, zu experimentieren und das Leben wirken zu lassen.
Wir erwarten keine bestimmten Resultate mehr und sind nicht mehr enttäuscht, wenn sie nicht eintreten. Wir versuchen nicht mehr, unseren Einfluss geltend zu machen, sondern erkennen, dass wir im Grunde nichts weiter tun müssen, als im Leben präsent zu sein.
Seien wir neugierig. Sehen wir hin, hören wir zu, fühlen wir uns hinein. „Lassen wir das Leben auf uns regnen.“
Möge dieses geflügelte Wort der Rahel Varnhagen, unkonventionelle Salonière und geschätzte Gesprächspartnerin von Goethe, Humboldt, Fichte, Hegel, Heine und anderen Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern ihrer Zeit, uns zum diesjährigen Weihnachtsgeschenk werden. Möge es uns zusammen mit Oscar Wildes Aufforderung ermutigen, wir selbst zu sein. Alle anderen sind schon vergeben. Und möge das Entdecken unserer ursprünglichen Wahrhaftigkeit das Tor für alle jene öffnen, die noch zögern.
Die Freude vor der Freude
Bereiten wir in diesem Jahr ein besonderes Weihnachtsfest vor. Besinnen wir uns. Erinnern wir uns an die Kindertage, als der Himmel noch voller Glocken hing und die Erde voller Wunder war. Machen wir uns das Geschenk, in diesem Jahr nichts einzukaufen, was keinen Sinn macht. Suchen wir die einfachen Dinge: das Licht einer brennenden Kerze, das gemeinsam gesungene Lied, das selbst gemachte Gebäck, ein duftender Tannenzweig, die Hand, die sich der anderen reicht, die Dankbarkeit, am Leben teilhaben zu dürfen in dieser schweren Zeit, die so viel Potenzial in sich birgt.
Kommen wir zur Ruhe. Auch Helden brauchen Pausen. Machen wir es uns schön. Eine warme Decke, ein heißer Tee, eine Träumerei in gedämpftem Licht.
Im Halbdunkel lässt es sich besonders gut entspannen. Wie war es damals, als wir Kinder waren? Haben wir ihn noch in der Nase, den Duft von echten Mandarinen und hausgemachten Zimtsternen? Spüren wir noch das, wofür die deutsche Sprache ein besonderes Wort hat: die Vorfreude? Das große Ereignis ist noch nicht eingetreten, doch wir freuen uns schon, weil wir ganz genau wissen, dass es kommt.
Bevor das Glöckchen erklang, versüßte ein Adventskalender den Kindern die Zeit des Wartens. Doch auch Erwachsene mögen es, bedacht zu werden. Die Rubikon-Leserin Marianne Vogt und ihr Team bieten auch in diesem Jahr wieder Geschichten an, die über ihren Audiokalender gehört werden können. Jeden Tag öffnet sich ein Türchen und lässt ein Mosaik aus Herzenswünschen entstehen in einer dunklen Zeit, die insgeheim so viel Licht in sich birgt (2). Alles, was wir tun müssen, ist, es sich entzünden zu lassen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.rubikon.news/artikel/im-herzen-des-chaos
(2) https://audiokalender.de
Am 6. Dezember 2022 veranstalten die Initiatoren des Audiokalenders um 20 Uhr in der Somatischen Akademie (Paul-Lincke-Ufer 30, 10999 Berlin, 4. Etage) eine Nikolaus-Lesung. Weitere Informationen zu der Veranstaltung unter: audiokalender.de/lesungen